Tobias Armbrüster: Kann er das? Kriegt er das noch hin? Oder ist das schon eine verlorene Amtszeit? – Das waren die Fragen, die in den letzten Tagen immer lauter gestellt worden sind in Berlin, und zwar, wenn es um den Bundespräsidenten geht, um Frank-Walter Steinmeier. Viele Beobachter sagen da, er ist zwar schon seit über einem halben Jahr im Amt, aber es gibt nicht viel von ihm zu hören. Insgesamt ein riesen Kontrast zu Vorgänger Joachim Gauck, der ja immer wieder politische Akzente gesetzt hat.
Gestern nun war der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, die Feierlichkeiten in Mainz, und es war ein lang erwarteter Auftritt des Bundespräsidenten.
O-Ton Frank-Walter Steinmeier: "Die Sehnsucht nach Heimat, nach Sicherheit, nach Entschleunigung, nach Zusammenhalt, vor allen Dingen nach Anerkennung, diese Sehnsucht nach Heimat, die dürfen wir nicht den Nationalisten überlassen."
Armbrüster: Frank-Walter Steinmeier mit einem Auszug aus seiner Rede gestern in Mainz. – Heimat – wir haben es gehört – war ein Thema, genauso wie ein Einwanderungsgesetz, das er indirekt gefordert hat, und dann immer wieder seine Beobachtungen über Mauern und über Trennendes in Deutschland. Gehört hat die Rede auch Cem Özdemir, der Vorsitzende der Grünen. Schönen guten Morgen.
Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Özdemir, war das eine Klartextrede vom Bundespräsidenten?
Özdemir: Es war vor allem eine gute Rede, eine Rede, die genau rechtzeitig kam zum Tag der Deutschen Einheit, wo wir einerseits stolz sind auf das Erreichte, dass es eine friedliche Revolution in Deutschland gab, andererseits aber natürlich auch feststellen müssen, dass es nach wie vor Gräben in unserer Gesellschaft gibt zwischen Deutschen und Deutschen, denen, die AfD gewählt haben, denen, die sich das nie vorstellen können, AfD zu wählen, aber natürlich auch zwischen Zugewanderten und Einheimischen. Und darüber zu reden, was das mit unserer Gesellschaft macht und wie wir ein gemeinsames Wir erzeugen können, das ist absolut notwendig, und wer könnte das besser als der erste Mann im Staat.
"Kein Anlass, mit dem Finger auf die Menschen im Osten zu zeigen"
Armbrüster: Wo verlaufen diese Gräben denn geografisch?
Özdemir: Ich glaube nicht, dass man sie primär geografisch zuordnen kann, denn die AfD hat ja nun auch in anderen Bundesländern zum Teil sehr gute Ergebnisse erzielt. Sie hat im Osten ganz besonders gute Ergebnisse erzielt, aber ich komme aus Baden-Württemberg, uns geht es wirtschaftlich ziemlich gut, und auch bei uns sitzt sie im Landtag von Baden-Württemberg. Insofern habe ich jetzt erst mal keinen Anlass, mit dem Finger auf die Menschen im Osten zu zeigen.
Armbrüster: Ist es denn jetzt die Pflicht der etablierten Parteien, die AfD-Wähler zu verstehen?
Özdemir: Nicht alle. Wer sich gegen unsere Gesellschaftsordnung wendet, wer ein autoritäres Regime errichtet haben möchte, wer unsere Verfassung abschaffen möchte, ist ein Gegner unseres Landes, und Gegnern werden wir nicht einfach zuschauen, wie sie unser Land kaputt machen, sondern wir werden uns wehren mit den Mitteln des Rechtsstaates. Das werden wir im Parlament machen, das werden wir außerhalb des Parlamentes machen. Aber es sollte niemand das Gefühl haben, AfD wählen zu müssen, weil er den Eindruck hat oder weil sie den Eindruck hat, dass wir nicht zuhören, dass wir nicht auf Ängste und Sorgen eingehen. Das ist die vornehmste Aufgabe von demokratischen Parteien und da müssen wir uns alle selbstkritisch fragen, ob wir das in der Vergangenheit immer gut geschafft haben.
Armbrüster: Dann sagen Sie uns: Wo haben die Grünen da geschlafen in den letzten Jahren?
Özdemir: Sie können das gerne den Grünen zuordnen. Man kann es aber auch allen gemeinsam zuordnen.
Özdemir: Na ja, wir haben jetzt Sie am Telefon. Deshalb würde ich es gerne von Ihnen wissen. Sie können über Ihre Partei ja am besten Auskunft geben.
Özdemir: Ich mach’s vielleicht noch persönlicher. Ich mach’s einfach auf mich selber bezogen und dann muss ich nicht über Dritte reden. – Kommt jemand zu mir, der Fragen hat oder die Fragen hat mit der Zuwanderung, mit Sicherheitsfragen, oder sagen die, na, die hören mir eh nicht zu, die nehmen die Ängste eh nicht ernst oder stecken mich gleich in die rechtsradikale Ecke. Das ist schon eine Frage, die ich mir selbstkritisch stelle und die sich, glaube ich, alle Kolleginnen und Kollegen, egal von welcher demokratischen Partei, stellen sollten.
"Ich habe doch auch Angst vor Salafisten, vor Rechtsradikalen"
Armbrüster: Das heißt, was wollen Sie da anders machen?
Özdemir: Indem ich deutlich mache, dass Ängste erst mal nichts Verwerfliches sind. Die habe ich doch selber. Ich habe doch auch Angst vor Salafisten. Aber ich habe auch genauso Angst vor Rechtsradikalen. Ich habe auch Angst vor Leuten, die in Hamburg deutsche Polizisten zusammenschlagen. Vielleicht sollten wir deshalb nicht Ängste priorisieren, sondern sollten gemeinsam dafür kämpfen und dafür sorgen, dass wir in einer Gesellschaft leben, wo diejenigen, die unsere Gesellschaftsordnung ablehnen, egal von welcher Seite, ob Islamisten, ob Rechtsradikale, dass wir sie gemeinsam bekämpfen. Das wäre schon mal ein erster wichtiger Schritt.
Armbrüster: Herr Özdemir, ein Punkt hat sicher für viel Aufhorchen gesorgt, gestern in dieser Rede von Frank-Walter Steinmeier. Da hat er eine starke Unterscheidung in der Flüchtlingspolitik getroffen und dazu aufgerufen, dass man das ernst nehmen müsse. Die Frage, die sich daraus ableitet, ist: Müssen wir künftig stärker unterscheiden zwischen Menschen, die zu uns nach Deutschland kommen, die vor Hunger und Armut fliehen, und jenen Menschen, die vor politischer Verfolgung Schutz in Deutschland suchen? Muss es diese Unterscheidung künftig deutlicher geben bei uns in Deutschland?
Özdemir: Das ist ja keine ganz neue Debatte. Die Debatte, die wird schon seit langem geführt. Ich bin 1994 in den Bundestag geführt worden und seitdem kenne ich diese Debatte und führe sie ja selber mit, indem ich für ein Einwanderungsgesetz plädiere. Jetzt habe ich so langsam den Eindruck, das spricht sich langsam herum. Die FDP ist jetzt auch für ein Einwanderungsgesetz, die SPD ist es, Teile der Union sind es. Ich glaube, das wäre gut, das, was uns der Bundespräsident damit auf den Weg gegeben hat, dass wir eine gesetzliche Regelung machen für diejenigen, die eigentlich nicht ins Asyl gehören, die sicherlich auch legitime Gründe haben und deren Zuwanderung man steuern muss. Das wäre, glaube ich, ein kluger Schritt. Alle klassischen Einwanderungsländer verfügen über ein solches Einwanderungsgesetz und wir sollten uns es mal anschauen, wie das anderswo in der Welt gemacht wird. Vor allem sollten wir dringend eines in dieser Legislaturperiode einführen.
"Wir reden nicht über die Abkommen mit Afrika"
Armbrüster: Und ist es legitim für den Bundespräsidenten, sich so konkret einzumischen in die politische Debatte, in die tatsächlich ja auch parteipolitische Debatte in Deutschland?
Özdemir: Er hat ja jetzt nicht gesagt, nach welchem Modell wir es machen sollen. Ein bisschen Arbeit überlässt er uns ja schon noch. Er hat ja jetzt nicht gesagt, nehmt das kanadische Modell oder nehmt das XYZ-Modell, sondern er hat grundsätzlich auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass das vielleicht ein bisschen zur Entspannung der Debatte beitragen könnte. Das finde ich schon noch abgedeckt durch die Aufgabe eines Bundespräsidenten. Wie man es dann konkret macht, das müssen die Parteien dann schon noch selber diskutieren und vor allem dann auch gesetzlich umsetzen.
Armbrüster: Wenn das jetzt tatsächlich passieren würde, dann, würden Sie sagen, kann man jemanden zurückschicken in seine Heimat, weil er ja nur vor Hunger flieht, möglicherweise vor der Angst vor dem Hungertod, und stattdessen nimmt man Leute auf, die vor politischer Verfolgung fliehen?
Özdemir: Erstens machen wir das schon längst. Und zweitens ist es doch so: Ich glaube, dass die vornehmste Aufgabe – das konnte jetzt in dieser Rede des Bundespräsidenten keine Rolle spielen, weil man ja nicht alles reinpacken kann. Aber ein Punkt, der mir leider in allen Debatten zu kurz kommt, ist, dass wir ja immer so tun, als müsste man sich damit abfinden, dass die Welt so ist, wie sie ist, und wir reden jetzt nur noch über die Frage, wie nehmen wir Leute auf oder wie wehren wir sie ab. Wie wäre es denn, wenn wir auch über die Frage diskutieren, wie verändern wir die Welt in einen Planeten, dass Menschen dort, wo sie geboren sind, auch menschenwürdig leben können. Da gibt es schon ein paar Dinge, die wir als Europäer machen können – denken Sie an die ganzen Abkommen, die wir gerade mit Afrika treffen. Wir reden alle über CETA, wir reden über TTIP, aber wir reden nicht über die Abkommen mit Afrika. Wie wäre es, wenn wir darüber reden, was unsere Außenhandelspolitik, unsere Fischereipolitik, unsere Landwirtschaftspolitik und nicht zuletzt unsere Rüstungsexporte anrichten.
Armbrüster: … fragt und sagt hier im Deutschlandfunk Cem Özdemir, der Vorsitzende der Grünen. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen.
Özdemir: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.