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Rudkoffsky: „Mittnachtstraße“
Grünes Glück hinter hohen Mauern

Ein Journalist mit Burn-Out im Kampf gegen die Gartenzwerg-Diktatur. Frank Rudkoffskys Roman „Mittnachtstraße“ beschreibt soziale Umbrüche und Generationenkonflikte in einer Kleingartensiedlung im Stuttgarter Norden

Von Cornelius Wüllenkemper |
Frank Rudkoffsky: "Mittnachtstrasse"
Showdown im Schrebergarten bis die Datsche wackelt: Frank Rudkoffsky beweist in "Mittnachtstrasse" sein Gespür für prägnante Milieuschilderungen und die Komik des Alltags. (Portrait: Ronny Schoenebaum)
Malte, 42 Jahre alt, ausgebrannter Journalist, Vater zweier Kinder und Partner einer beruflich erfolgreichen Frau, geht es schlecht. So schlecht, dass er ausgerechnet dort Zuflucht sucht, wo das Unheil seinen Anfang nahm. Es ist der Ort, an dem schon sein Vater sich vor der eigenen Familie versteckte, sich abkapselte, um hinter den Schmuckhecken seines Kleingartens den Enttäuschungen des Lebens zu entkommen. Mit diesem abwesenden Vater, der nach einem Suizidversuch demenzkrank im Krankenhaus liegt, hat Malte längst gebrochen.
„Diese Parzelle ist sein Exil: Hier kann er keinen weiteren Schaden anrichten, in sicherer Quarantäne mit all den toxischen alten weißen Männern, denen er sich bis vor Kurzem noch moralisch so überlegen fühlte. Dabei ist er, wie Malte jetzt weiß, kaum besser als sie. In Wahrheit ist er längst zu demjenigen geworden, der er nie sein wollte. Zu dem Mann, dessen Platz er nun einnimmt, weil er es ihm verdammt noch mal schuldig ist.“

Die Folgen bornierter Männlichkeit

Vier Tage lang lässt Malte die Gründe seiner erschütterten Selbstachtung in der beengten Laube Revue passieren - und findet sie in den bornierten Vorstellungen von Männlichkeit in seiner Familie. Ein Großvater, der den Stolz auf die gute alte Zeit rechthaberisch mit ins Grab nahm, ein cholerischer, herrschsüchtiger Vater, der nach Maltes Geburt seine literarischen Ambitionen gegen eine Anstellung als Eisenbahner tauschte. Eine unglückliche Mutter, die sich bis zu ihrem frühen Tod für ihren Mann und für den familiären Frieden aufopferte. Und Malte selbst, der sich Schwächen ebenso wenig eingesteht wie sein Vater es tat. Als sein Sohn Jonas ihm Heuchelei vorwirft, weil er als ökologisch bewusster Journalist PR-Texte für ein klimaschädliches Unternehmen verfasst, versucht es Malte mit Argumenten anstatt mit polternder Autorität.
„Glaub mir, auch ich würde lieber nur journalistische Texte schreiben. Viel lieber sogar. Aber die Welt ist nun einmal, wie sie ist, und es ist eine Welt, in der Journalismus beschissen bezahlt wird. Du willst, dass wir nicht zum Discounter gehen, sondern regional, Fairtrade und bio einkaufen, du willst, dass wir unsere Reisen mit CO2-Zertifikaten ausgleichen und so nachhaltig wie möglich leben, und ja, du willst trotz alledem auch deine verdammte Playstation haben. Und all das machen und geben wir dir gern, Jonas. Aber es kostet nun einmal Geld, so zu leben, wie wir es tun.“

Tief eingewühlt ins Kleingartenmilieu

Der rote Faden dieser chronologisch versetzt erzählten Geschichte ist der Konflikt zwischen Generationen. Er prägt auch die Lager der Stadtgärtner zwischen national-konservativem Gartenzwerg-Paradies und wokem Urban Gardening Projekt. Beide Welten betrachtet Malte mit ironischer Distanz, eben weil er nicht weiß, wohin er selbst gehört. Das soziale Setting hat der Autor und Journalist Frank Rudkoffsky zuvor bereits für eine Reportage über Gartensiedlungen um die Mittnachtstraße am Stuttgarter Nordbahnhof recherchiert. Die journalistische Grundierung merkt man jetzt auch seinem gleichnamigen Roman an. Kaum ein zeitgenössisches Reiz-Thema bleibt unberührt: Klima-Aktivismus, Gentrifizierung, Corona-Lockdown, post-migrantische Identitäten, cancel culture, toxische Männlichkeit, Homophobie und gendergerechte Sprache.
Rudkoffsky schärft dabei den Blick für vorschnelle Urteile. Er ruft Klischeebilder von Milieus und Charaktertypen auf, um sie dann gezielt zu unterlaufen. Exemplarisch dafür steht Vereinschef Heinz, Stammhalter der machistischen Machtstrukturen in der Kleingartenkolonie. Heinz erscheint als machtversessener Egomane, als sexistischer Intrigant und Ausländerfeind. Erst spät berichtet er Malte davon, dass er selbst einmal ein Opfer von Diskriminierung war.
„‚Du machst dir die Welt gerne einfach, nicht wahr? In deiner Vorstellung sollte ich eigentlich auf Musicals stehen und beim CSD mit Federboa mitmarschieren. Ich verrate dir jetzt mal ein Geheimnis: Man kann gleichzeitig ein alter Spießer sein und schwul. Man kann als Schwuler sogar von alten Spießern zu ihrem Chef gewählt werden, heutzutage jedenfalls.’“

Tragikomödie mit Appellcharakter

Wie schon im Vorgängerbuch „Fake“ beweist Frank Rudkoffsky auch in „Mittnachtstraße“ ein sicheres Gespür für Milieus und für zwischenmenschliche Dynamiken. Sein Roman ist ein Plädoyer für mehr Mut, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, aber auch für einen differenzierten Blick auf diejenigen, die nach anderen Werten und Regeln leben.
Diese intentionale Ebene wird sowohl im Figurenaufbau als auch in der zuweilen etwas konstruiert wirkenden Handlung deutlich. Die Vielzahl an Nebensträngen und verschachtelten Zeit- und Erklärungsebenen erscheint literarisch manchmal überambitioniert. Das ändert aber nichts daran, dass „Mittnachtstraße“ eine gut recherchierte, ebenso einfühlsame wie unterhaltsame Tragikomödie ist, in der eine Kleingartensiedlung zur Bühne einer Neuverortung im eigenen Leben wird.
Frank Rudkoffsky: „Mittnachtstraße“
Verlag Voland & Quist, Berlin
270 Seiten, 24 Euro.