Doch, lesen konnte sie schon, als sie die Schule verlassen hat, sagt die 55-jährige Tina Fidan. "Aber ich hab nicht verstanden was ich lese. Schreiben, das war so – sagen wir mal, Klasse 5."
Jahrelang ist Fidan im Alltag klar gekommen, ohne richtig lesen, schreiben und rechnen zu können. Niemandem war das aufgefallen – weder Freunden, Verwandten noch Arbeitskollegen.
"Ich hatte meistens Arbeitsstellen, wo ich nicht lesen oder schreiben brauchte. Zum Fußbodenwischen braucht man kein Abitur. Oder beim Einkaufen - da habe ich meine Mutter immer beobachtet und alles auswendig gelernt – sonst kann man ja nicht einkaufen."
Tina Fidan ist mit ihrem Problem nicht allein: 6,2 Millionen Erwachsene sind funktionale Analphabeten, sie haben zu geringe Lese- und Schreibkompetenzen, um im Job, im Alltag richtig klar zukommen. Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Grundbildungsstudie "LEO", die heute in Berlin vorgestellt wurde. So drastisch die Zahl erscheint – es ist eigentlich eine gute Nachricht, sagt Anke Grotlüschen, Professorin für Grundbildung an der Uni Hamburg und Autorin der Untersuchung.
"Bemerkenswertes Ergebnis"
Anke Grotlüschen: "Vor acht Jahren waren es noch 7,5 Millionen Erwachsene. Das heißt, der Prozentsatz ist gesunken von 14,5 Prozent auf 12,1 Prozent und das ist innerhalb von acht Jahren ein wirklich ganz bemerkenswertes Ergebnis."
Lange Zeit hatten Politik und Wissenschaft das Problem überhaupt nicht auf dem Schirm. Analphabeten in Deutschland? Gibt’s nicht und wenn – dann ein paar 100.000 vielleicht. Als 2011 erstmals überhaupt offenbar wurde, wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind, war die Politik schockiert, sagt Alexander Lorz, der Präsident der Kultusministerkonferenz.
"Die erste LEO-Studie hat uns die Augen geöffnet und mich persönlich auch schwer erschüttert. Aber die Bildungspolitik ist dann ja auch richtig in Bewegung geraten. Und wir sehen ja an den Veränderungen der letzten neun Jahre, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist – aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Das bleibt eine dauerhafte Aufgabe."
Dass die Zahlen seitdem so stark zurückgegangen sind – hat zwei Gründe, sagt Bildungsforscherin Anke Grotlüschen.
"Wir machen im Wesentlichen die Bevölkerungszusammensetzung verantwortlich. Das heißt, dass wir höhere Schulabschlüsse haben mit sechs Prozent mehr Menschen die einen hohen Abschluss haben und wir machen die höhere Erwerbsbeteiligung verantwortlich, wenn man im Beruf steht, dann ist man Lese- und Schreibanforderungen ausgesetzt und erhält seine Kompetenzen – zumindest verliert man sie nicht so schnell. Man kann etwas gröber formulieren, dass die langfristige Arbeitsmarkt und Bildungspolitik jetzt Effekte zeigen."
"Nur ein Bruchteil findet Weg in den Kurs"
Entscheidend ist aber auch, dass seit einigen Jahren überhaupt über das Thema geredet wird. Theresa Hamilton vom Berliner Grundbildungszentrum zum Beispiel sensibilisiert Arbeitgeber und Behörden – und sie wirbt mit ihren Kollegen für Alphabetisierungskurse.
"Deutschlandweit haben wir das Problem, dass das Verhältnis von Menschen die Lese- und Schreibschwierigkeiten haben und theoretisch Interesse an solchen Kursen hätte – nur ein Bruchteil von denen den Weg in den Kurs findet. Das hat sicher damit zu tun, was das für ein großer Schritt ist, im Erwachsenenalter nochmal lesen und schreiben zu lernen – da muss der Leidensdruck schon sehr groß sein, dass man sagt, jetzt gehe ich es nochmal an."
Tina Fidan hat vor einigen Jahren einer Freundin von ihrem Problem erzählt – die hat sie dann in einen Alphabetisierungskurs geschickt. Mit ein bisschen Druck.