Archiv

Grundgesetz und Weimarer Verfassung
"Die Verfassung von Weimar war wehrhafter, als man denkt"

Das Grundgesetz sei die bessere und stabilere Verfassung als die Weimarer Verfassung, sagte Autor und früherer Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio im Dlf. Doch für die Phase ab 1919 wäre auch das Grundgesetz nicht tauglich gewesen. Für eine starke Demokratie hätten die Demokraten gefehlt.

Udo di Fabio im Gespräch mit Christoph Heinemann |
 Die Richter des Bundesverfassungsgerichts stehen im Bundesgerichtshof in Karlsruhe
Das heutige Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (picture alliance / dpa / Uli Deck)
Christoph Heinemann: Was war neu an der Reichsverfassung?
Udo di Fabio: Neu an der Weimarer Verfassung war die Begründung einer demokratischen, einer sozialen Republik. Aus dem Kaiserreich, aus der Monarchie, aus dem Bund der Fürsten wurde eine föderale Republik, und das war die Vollendung der Demokratie – und das wurde auch allgemein so empfunden. Allerdings eine Demokratie, die, getragen vor allen Dingen durch die Sozialdemokratie, in der Revolutionsphase auch einen starken sozialen Akzent bis hin zu sozialen Grundrechten besaß.
Heinemann: Auf welche Vorlagen und Verfassungsideen konnten die Autoren der Weimarer Verfassung zurückgreifen?
di Fabio: Die deutsche Verfassungsentwicklung hatte im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt in der Paulskirchen-Verfassung, die ebenfalls aus einer Wahl zur Nationalversammlung hervorgegangen war, mit großen Erwartungen getragen war und sehr dezidiert mit einem eigenen Grundrechtekatalog eine Staatsverfassung ausgearbeitet hat. Diese Vorlage bestand natürlich, genauso wie man verfassungsrechtliche Erfahrungen in den Ländern bereits hatte. Hugo Preuß hat diese Verfassung ganz im liberalen Gedankengut verfasst. Sie hatte auch internationale Vorbilder natürlich. Sie war auf der Höhe der Zeit; sie hat alle demokratischen Register gezogen.
Heinemann: Passte diese Verfassung zum Zustand der Gesellschaft nach Krieg und Kaiserreich?
di Fabio: Ich glaube, sie passte, ja, gerade auch in den Punkten, die wir heute kritisch betrachten: also starker Reichspräsident, doppelte Legitimation durch die Wahl zum Reichstag und Direktwahl des Reichspräsidenten. Das passte schon zur Zeit, wo man auch Autoritäten wollte, die mit dem Wahlzettel erreichbar waren.
"Die bessere, die stabilere Verfassung"
Heinemann: Professor di Fabio, Sie haben geschrieben: "Mit unserem heutigen Grundgesetz hätte die Weimarer Republik möglicherweise nicht 13 Jahre lang standgehalten." Inwiefern?
di Fabio: Das ist immer ein Problem. Mit fiktiver Geschichtsschreibung kann man alles beweisen und nichts. Aber es ist vielleicht doch ein Gedankenexperiment reizvoll, weil wir immer so sicher sind, dass das Grundgesetz unter allen Umständen die bessere Verfassung gewesen wäre. Ich glaube, es ist die bessere Verfassung, die stabilere Verfasstheit, aber in der Phase ab 1919, also als seit August 1919 die Weimarer Reichsverfassung gegolten hat, wäre das Grundgesetz, glaube ich, kaum tauglich gewesen, in einer Zeit der Aufstände, der bewaffneten Aufstände von links und rechts gegen die demokratische Republik kam es darauf an, mit dem Reichspräsidenten ein Staatsoberhaupt zu haben, das die Offiziere insbesondere in eine Loyalität bringen konnte.
Natürlich haben die Offiziere, wie ein Hans von Seeckt mit Monokel und Schmiss im Gesicht, den Sattlergesellen Friedrich Ebert als Person nicht sonderlich geachtet, aber das Amt haben sie dennoch geachtet, und er stand nun mal in der Position des Staatsoberhauptes und hat die Befehle gegeben. Und dafür hätte das Grundgesetz angesichts der seit 1920 bereits äußerst prekären Mehrheitsbildungen im Reichstag keine Möglichkeit vorgesehen, denn den starken Kanzler und den starken Verteidigungsminister hätte es so nicht gegeben, bei schnell wechselnden Regierungen.
Udo di Fabio, Autor des Buchs "Die Weimarer Verfassung – Aufbruch und Scheitern" und ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts
Udo di Fabio, Autor des Buchs "Die Weimarer Verfassung – Aufbruch und Scheitern" und ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts (imago images / Reiner Zensen)
Deshalb glaube ich, dass das Grundgesetz erst ab der Stabilisierung, ab 1924 tatsächlich dann die bessere Verfassung gewesen wäre, weil sie ein Machtspiel, eine Politik der Rechtsverschiebungen eines Hindenburgs dann vom Amt des Reichspräsidenten aus, des Bundespräsidenten aus nicht mehr ermöglicht hätte.
Unterzeichnung der Weimarer Verfassung am  11. August 1919 durch Reichsprä­sident Friedrich Ebert
Weimarer Republik: "Parallelen zu heute sind unübersehbar"
Nationalismus, enttabuisierte Sprache, politische Gewalt: Der Historiker Eckart Conze hält die Zeit nach dem Versailler Friedensschluss von 1919 der heutigen für ähnlicher als die Zeit nach 1945. Die Politik könne daraus Lehren ziehen.
Heinemann: Genau an diesem Reichspräsidenten, an Paul von Hindenburg, lassen Sie in Ihrem Buch kein gutes Haar. Hätte die Verfassung für den Fall vorbauen müssen, dass der Reichspräsident mit der Republik nichts anzufangen wusste?
di Fabio: Man kann mit einer Verfassung nicht Fehlentscheidungen des Souveräns verhindern. Durch ein kluges System der Stabilitätsbalance und der Gewaltenteilung kann man menschliche Fehler mindern, aber nicht verhindern. Das bedeutet: In dem Augenblick, wo die Deutschen eine Tendenz hatten, einen Reichspräsidenten zu wählen, der nationale Einheit verkörpert, wenn die Deutschen mehrheitlich vergaßen, welche Rolle Hindenburg zwischen 1916 und 1918 gespielt hatte, als einer der Urheber dann der Dolchstoß-Legende hervorgetreten war, wenn sie ihn trotzdem dann mit zunächst relativer Mehrheit zum Reichspräsidenten wählten, dann kann eine Verfassung keine Vorkehrungen dagegen treffen. Denn auch die Verhältnisse im Reichstag waren ja so beschaffen, dass eine stabile Regierungsbildung nur in seltenen Fällen möglich war. Und insofern: Was soll eine Verfassung, die demokratisch ist, tun, wenn das Volk nicht die richtigen personellen Entscheidungen trifft.
Heinemann: Welchen Anteil konkret trug Ihrer Meinung nach die Verfassung am Scheitern der Weimarer Republik?
di Fabio: Die Verfassung von Weimar, sie war wehrhafter, als man denkt. Die Notverordnungen, die waren ja eigentlich dazu gedacht, den SA-Mob auf der Straße zu bekämpfen, die Unruhestifter zu bekämpfen, und dazu hatte Hindenburg überhaupt keine innere Bereitschaft. Ein innerlich demokratischer Präsident hätte hier über ein ganz anderes Instrumentarium verfügt und den Nationalsozialismus und die Radikalisierung auf den Straßen links und rechts überhaupt nicht so zugelassen.
"Es fehlten halt die Demokraten"
Heinemann: Professor di Fabio, mit dem Blick des früheren Bundesverfassungsrichters, was fehlte der Weimarer Verfassung?
di Fabio: Es ist schon ein alter Satz. Es fehlten halt die Demokraten. Letztlich kommt man nicht daran vorbei, dass die Aversionen gegen die schwarz-rot-goldene Republik und ihre Verfassung schon 1928 in der Blütezeit noch der Weimarer Republik immens waren, gerade auch im Bürgertum, gerade auch zum Beispiel unter Schülern und Studenten, die auf schwarz-rot-goldene Urkunden herumgetreten haben, weil sie diese Fahne verachtet haben. Wenn der Wähler fast 60 Prozent antidemokratische Parteien wählt, dann kann Demokratie unter gar keinen Umständen mehr funktionieren.
Heinemann: Welche wichtigsten Lehren aus der Weimarer Verfassung wurden für das Grundgesetz gezogen?
di Fabio: Das Grundgesetz hat vor allen Dingen eine Lehre gezogen aus der Rivalität zwischen politisch starkem Reichspräsident und Reichstag, hat den Reichstag, also den Bundestag, das Parlament in eine Stabilitätsverantwortung für die Bundesregierung gestellt. Damit haben wir ein klares politisches Zentrum. Wir haben das bekommen, was wir heute Kanzlerdemokratie nennen, was in Wirklichkeit eine parlamentarische Verantwortlichkeit ist. Das Parlament kann nicht destruktiv wirken und eine Regierung zu Fall bringen, ohne für eine neue verantwortlich zu sein. Das Grundgesetz erlaubt nur den konstruktiven Kanzlersturz. Also: Kanzler oder Kanzlerin können nur durch Neuwahl eines Kanzlers ins Amt gelangen.
Das würde bedeuten: Wenn heute eine destruktive Mehrheit, was Gott verhüten möge, den Bundestag beherrschen würde, sie könnten eine Regierung, die im Amt wäre, nicht aus dem Amt bringen, weil sie müssten sich ja dann, konfligierend wie sie wären, auf einen neuen Kanzler einigen. Und wenn das so wäre wie in Weimar, dass da von links und rechts Extreme sind, die würden sich natürlich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Ob das dauerhaft eine Demokratie am Leben halten würde, weiß ich nicht, aber es ist eine große Stabilitätsversicherung. Die Parteien werden immer wieder in die Übernahme von Verantwortung gedrängt.
Wenn es so passiert wie 2017, nach der Bundestagswahl, und plötzlich die Parteien nicht mehr in die Regierung wollen, dann ahnt man, dass auch unter dieser Verfassung ein Problem entstehen könnte.
"Die Bereitschaft der Bürger, instiutionell mitzuarbeiten, ist gesunken"
Heinemann: Wie wichtig ist ein Verfassungsgericht für die Verfassung?
di Fabio: Unter der Weimarer Verfassung war die Verfassungsgerichtsbarkeit eigentlich nur ein Gericht im Staatsorganisationsbereich und für föderale Streitigkeiten, konnte vom Bürger nicht erreicht werden mit der Verfassungsbeschwerde. Insofern spielte sie eine zurückgenommene Rolle, kein Vergleich mit der Rolle des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat sehr maßgeblich zu einer Balancierung der Demokratie beigetragen. Aus der Kanzlerdemokratie heraus hätte ja auch die Möglichkeit bestanden, viel stärker konzentriert, vielleicht sogar autoritär zu regieren. Aber als Adenauer sein Deutschland-Fernsehen, eine Art Staatsfernsehen geplant hat, hat das Bundesverfassungsgericht dazu klar Nein gesagt. Da war ein Korrektiv, das immer wieder die politische Entwicklung, ich würde sagen, nahe zur Verfassung geführt hat, damit es da keine Fehlentwicklungen gibt, also ein gutes Korrektiv.
Hier gelangen Sie zum Denkfabrik-Thema "Sind wir in guter Verfassung? Recht. Gerechtigkeit. 70 Jahre Grundgesetz."
Heinemann: Wo endet die Stoßdämpfer-Funktion einer Verfassung?
di Fabio: Jede Verfassung, so klug sie ersonnen ist – und das Grundgesetz ist sehr weise konzipiert –, eine Verfassung ist ein Rechtsdokument, und alles Recht ist davon abhängig, dass es als Institutionenkomplex auch von den Menschen gewollt, akzeptiert wird. Es kommt darauf an, dass man Demokratie ein Stück weit auch immer im Alltag lebt, und das heißt nicht nur, jetzt irgendwann mal emotional für ein Thema auf die Straße zu gehen, was völlig legitim und wichtig ist in einer Demokratie, sondern auch zu verstehen, wie wichtig die Ausübung von Mandaten ist und dass Menschen sich freiwillig für die Demokratie entscheiden. Es geht ja nicht nur immer um den Kampf um Bundestagssitze oder Sitze im Europaparlament; es geht ja manchmal auch um einen Sitz im Stadtrat und da wird man nur müde entschädigt, muss viel Aufwand betreiben. Das sind Ehrenämter, und da muss man schon sagen, da lebt eine Demokratie von, dass da genügend verantwortliche Menschen sich bereitfinden, in solche Ämter zu gehen, auch in Parteien zu gehen. Die Bereitschaft der Bürger, institutionell mitzuarbeiten, die ist eher gesunken als gestiegen, und darüber muss sich eine Gesellschaft auch unterhalten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.