"Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
Was in Artikel 3 des Grundgesetzes steht, ist unumstritten. Klar ist aber auch, dass das Wort "Rasse" in Deutschland besonders vorbelastet ist. Wenn man über Rassismus forscht oder sich als Rechtswissenschaftler damit beschäftigt, kommt man um diesen Begriff nicht umhin: Er steht im Grundgesetz: Aber wie geht man damit um? Dr. Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte findet, das Wort "Rasse" sollte aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Stattdessen soll es heißen: "Niemand darf rassistisch benachteiligt oder bevorzugt werden."
"Der gegenwärtige Wortlaut suggeriert als ob es unterschiedliche Menschenrassen gäbe, und insofern löst dieser Begriff Irritation, Sprachlosigkeit bis hin zu persönlichen Verletzungen bei den Betroffenen aus, weil sie im Grunde dadurch gezwungen sind, sich selbst einer Rasse zuzuordnen, weil der Wortlaut eben so ist wie er ist und dazu führt es dann, dass im Grunde die Betroffenen gezwungen sind, rassistische Terminologie zu übernehmen."
Dass dieser Begriff aus dem Grundgesetz nicht mehr zeitgemäß ist, sieht nicht nur Hendrik Cremer so. Immer wieder gab es politische Initiativen, den Begriff aus Gesetzestexten zu streichen. In der thüringischen und brandenburgischen Landesverfassung ist das bereits geschehen. Initiativen aus Berlin und Niedersachsen sind hingegen gescheitert. Das Wort ist nicht nur aufgrund seiner deutschen Geschichte ein Politikum, sondern ist auch innerhalb der Rechtswissenschaften umstritten.
Begriffsdefinition nicht exakt
Gerade weil nicht klar sei, was genau mit der rechtlichen Kategorie "Rasse" gemeint sei, wüssten Richter auch nicht, wie sie damit umgehen sollen, erklärt Cremer:
"Ich sehe das in jedem Fall auch als Problem der Wissenschaft und vor allen Dingen auch als Problem der Rechtswissenschaft, weil die Kommentierungen etwa zu Artikel 3 Grundgesetz sind sehr dürftig und steuern auch gar nicht darauf zu, dass es um das Verbot rassistischer Diskriminierung geht, sondern beschäftigen sich eher mit der doch etwas schwierigen Frage was mit dem Begriff Rasse nun gemeint sei."
Allerdings ohne darauf zu kommen, dass es sich bei dem Wort "Rasse" um eine Konstruktion handele, erklärt Hendrik Cremer. Anders ist die Situation in den USA, wo man sich schon länger mit dem Begriff "Rasse" auseinandersetzt. In den 70er-Jahren entstanden dort die kritischen Rechtswissenschaften, in der die Annahme zentral ist, dass Gesetzestexte nicht ohne die ihr zugrunde liegenden Machtstrukturen analysiert werden können. Ergänzend dazu bildete sich daraus die Critical Race Theory, in der die Analyse der Kategorie "Rasse" ein wichtiger Schwerpunkt ist. Eine Debatte darum, ob man Rasse in den Gesetzestexten, aber auch in wissenschaftlichen Texten als Analysekategorie verwenden darf, gibt es in den USA nicht.
Critical Race Theory
Der englische Begriff "race" gilt als zentraler Analysebegriff in den Rechtswissenschaften. Im Gegensatz zu Deutschland, gibt es in den USA Studien, die mit diesem Begriff arbeiten. Die Critical Race Theorie wird mittlerweile nicht mehr nur in den Rechtswissenschaften, sondern auch in der Soziologie oder Erziehungswissenschaft genutzt:
"Hier in Deutschland haben wir sehr wenige Studien zu implicit Bias."
Also die implizierte, meist unbewusste Voreingenommenheit. So gäbe es an der Universität Harvard ein großes Projekt, das sie weitergebracht hätte, stellt Dr. Emilia Roig fest, Gründerin des Center for Intersectional Justice:
"Hierzulande haben wir so etwas nicht, oder nicht genug wenigstens. Critical Race Theory hilft uns diese Lücken zu analysieren und gegebenenfalls auch zu schließen."
Kimberley Crenshaw, eine der Vorreiterinnen der Critical Race Theory, ist Vorsitzende des Center for intersectional Justice. Sie hat den Begriff der Intersektionaliät, also der Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Diskriminierungen, entwickelt. Mittlerweile ist der Begriff Intersektionalität aus den Sozialwissenschaften in Deutschland kaum wegzudenken.
Rassismus als strukturelles und nicht individuelles Problem
Für Emilia Roig ist der Begriff "Rasse" als juristische Analysekategorie wichtig. Auch in Gesetzestexten:
"Ich bin der Meinung, wenn Rasse vom Grundgesetz gestrichen wird, dann wird es immer noch schwieriger. Es wird noch schwieriger, über Rassismus zu sprechen. Diese Kategorie muss auch so festgeschrieben sein wie Gender. Ich werde auch nicht sagen, okay, Gender ist ein Konstrukt, dann lasst uns die Kategorie Gender vom Gesetz auch streichen, weil das Patriarchat produziert noch Benachteiligung und strukturelle Benachteiligung. Wir würden auch nicht Gender ersetzen durch 'aufgrund sexistischer Benachteiligung'. Nein."
Emilia Roig befürchtet, dass sobald der Begriff Rasse aus dem Grundgesetz gestrichen wird, die Tatsache, dass es sich bei Rassismus um ein strukturelles und nicht um ein individuelles Problem handelt, keine Rolle mehr spielt. Die Positionen derer, die sich mit dem Begriff "Rasse" beschäftigen, klaffen auseinander. Für die einen ist klar, dass mit dem Begriff "Rasse" ein soziales Konstrukt gemeint ist, ohne dessen Benennung keine rechtliche Analyse erfolgen kann. Für die anderen wird jedes Mal mit der Benennung des Begriffs Rasse, die Vorstellung vermittelt, es gebe tatsächlich menschliche Rassen. Solange unterschiedliche Vorstellungen darüber existieren, wie die Rechtslehre in Deutschland diesen Begriff auslegt und mit Definitionen füllt, wird das Unbehagen mit dem Begriff Rasse weiterhin bestehen bleiben.