Das Bundesverfassungsgericht hat einem Eilantrag gegen ein Demonstrationsverbot stattgegeben, das wegen der Corona-Schutzmaßnahmen verhängt worden war. Dabei ging es um eine Kundgebung in Gießen, die die Behörden nicht erlaubt hatten. Das Gericht in Karlsruhe stellte fest, dass zum Schutz der Versammlungsfreiheit in Ermessensspielraum bestehe. Der Kirchen- und Verfassungsrechtler Hans Michael Heinig lehrt an der Universität Göttingen. Im Interview mit dem Deutschlandfunk betont auch er die Notwendigkeit von Einzelfallentscheidungen und Konkretisierungen, die verhältnismäßig sind - etwa in Bezug auf Gottesdienste und Andachten.
Jörg Münchenberg: Herr Heinig, Geschäfte bis 800 Quadratmeter können ab Montag wieder aufmachen. Gottesdienste sollen vorerst weiter ausfallen. Ist das aus Ihrer Sicht eine nachvollziehbare Gewichtung, auf die sich Bund und Länder verständigt haben?
Hans Heinig: Solange flächendeckend sehr restriktive Maßnahmen galten, mussten auch Eingriffe in die Religionsfreiheit oder Versammlungsfreiheit, meine ich, hingenommen werden. Aber in dem Augenblick, wo jetzt Öffnungsentscheidungen erfolgen, müssen die sachgerecht sein. Es darf kein reines Primat der Ökonomie geben, sondern auch grundrechtliche Vorgaben müssen berücksichtigt werden. Da geht der Blick jetzt schon auch auf die Versammlungsfreiheit und Religionsfreiheit, über die Sie auch gerade gesprochen haben. Die müssen mit in den Blick genommen werden. Das muss mit berücksichtigt werden. Wenn man jetzt versucht, tastend ganz kleine Öffnungen vorzunehmen, dann muss das auch solche grundrechtlich geschützten Räume erfassen.
"Staat hat restriktives Vorgehen gut begründet"
Münchenberg: Aber überzieht der Staat, um vielleicht ein bisschen schärfer zu fassen, seine Fürsorgepflicht, indem Grundrechte, zum Beispiel jetzt auch die Religionsfreiheit, weiterhin so restriktiv gehandhabt werden?
Heinig: Mein Problem ist nicht, dass der Staat in der Vergangenheit, in den letzten Wochen sehr restriktiv vorgegangen ist - das hat er gut begründet als Maßnahme der Pandemiebekämpfung -, sondern jetzt eine sachgerechte Auswahlentscheidung für mehr Freiheitsräume zu treffen. Das ist die eigentliche Herausforderung. Da sehen wir jetzt, dass einzelne Verwaltungsgerichte mahnen und das Bundesverfassungsgericht ebenso, die Versammlungsfreiheit hinreichend zu berücksichtigen, weil sie essentiell ist für den demokratischen Prozess und wir wieder hineinkommen müssen in einen demokratischen Normalzustand, in dem Parlamente die Regierung umfassend kontrollieren, in dem wir öffentlichen Protest auch auf der Straße äußern können. Dazu gehört die Religionsfreiheit, weil hier das Verbot religiöser Versammlungen die Religionsfreiheit im Kern berührt.
"Schon die Baumarktöffnung war nicht unproblematisch"
Münchenberg: Angesichts der Lockerungen, die in Aussicht gestellt worden sind, angesichts der Tatsache, dass die Infektionszahlen nicht mehr so stark steigen wie in den Wochen zuvor, sollte der Staat auch in Sachen Religionsfreiheit den Glaubensgemeinschaften entgegenkommen?
Heinig: In dem Moment, wo Herren-Boutiquen wieder geöffnet werden, ist es schwer darstellbar, dass selbst mit größten Schutzmaßnahmen keine gottesdienstlichen Versammlungen mehr stattfinden dürfen. Das muss sachgerecht begründet werden. Schon die Baumarktöffnung war nicht ganz unproblematisch. Das leuchtete ja jedem ein. Und es ist auch grundrechtlich darstellbar, dass man mit Lebensmitteln versorgt werden muss. Aber in dem Moment, wo größere Freiheitsräume wieder möglich sind von der epidemiologischen Lage her, muss dann auch eine grundrechtlich sachgerechte Entscheidung getroffen werden. Dazu gehört, Religionsfreiheit mit zu berücksichtigen, und Kern der Religionsfreiheit ist auch, sich zu Gottesdiensten zu versammeln – nicht unter ganz anderen Bedingungen, als man jetzt in Geschäfte gehen kann. Auch da müssen jetzt Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Ein kritischer Blick ging in der Vergangenheit auf die Osterfestivitäten und er geht nach vorne zum Ramadan. Ein großes Fastenbrechen in einer Moschee wird man sich nicht vorstellen können. Das wird infektionsschutzrechtlich nicht zulässig sein. Aber kleine Andachten mit großem Abstand ohne Gesang, ähnlich wie für die Versammlungsfreiheit, kleine Gruppen mit großem Abstand, mit Mund-Nase-Schutzmasken – wir brauchen mehr Einzelfallentscheidungen und Konkretisierungen, die verhältnismäßig sind. Wir sehen überhaupt, dass wir in einer Bewegung sind, dass dieses ganze Pandemie-Bekämpfungsregime jetzt wieder konstitutionalisiert wird. Parlamentarische Kontrolle wird wieder anlaufen müssen. Wir haben den größten Grundrechtseingriff der Geschichte der Bundesrepublik hinter uns und es ist ganz gut, dass der effektiv funktioniert hat. Es ist aber auch ganz gut, wenn der rechtsstaatlich jetzt doch etwas umfassender wieder eingehegt wird, als wir das die letzten Wochen beobachten konnten.
"Unter Grundgesetz etwas Ähnliches nicht erlebt"
Münchenberg: Herr Heinig, das wäre auch mein nächster Punkt gewesen. Es geht ja nicht nur um die Religionsfreiheit, auch andere Grundrechte sind sehr stark beschränkt: Freizügigkeit, Persönlichkeitsrecht, Handlungsfreiheit, Berufsfreiheit. Wie schwerwiegend sind diese Eingriffe?
Heinig: Sie kennen kein Vorbild, keine Vergleichbarkeit in den letzten 70 Jahren. Unter dem Grundgesetz haben wir etwas Ähnliches bisher nicht erlebt. Es ist sachlich gut begründet gewesen, meine ich. Wir haben wenig Erfahrung mit dem Virus gehabt. Es ist ein sinnvolles, gut begründetes Maßnahmenpaket gewesen. Aber in dem Moment, wo die größte Not ein Stück weit gelindert ist, müssen gerade die Freiheitsrechte umfassend auch berücksichtigt werden. Jetzt kommen wir auch wieder in ganz normale Verteilungskämpfe. Es ist auch nicht nur eine Verfassungsfrage, sondern es ist auch eine Frage der Organisation eines politischen Prozesses, in dem wir Konflikte miteinander austragen. Das hören wir ja auch: große gegen kleine Ladenbesitzer, unterschiedlichste sonstige Interessen, Branchen, die miteinander kämpfen. Das sind alles legitime wirtschaftliche Austragungskonflikte, die wir jetzt haben, und das machen wir, indem wir einen politischen Prozess im Rahmen der Verfassung organisieren.
Münchenberg: Krisen sind ja immer auch Stunden starker Persönlichkeiten, auch die Stunde eines starken Staates. Das haben wir auch in den letzten Wochen erlebt. Anders gefragt: Sie haben nicht die Sorge, dass die Rückkehr zur Normalität auch etwas holprig ausfallen könnte?
Heinig: Das hängt auch davon ab, wie stark die kritische Öffentlichkeit, die ja nach wie vor besteht - die Pressefreiheit funktioniert, die Meinungsfreiheit funktioniert, die sozialen Medien sind aktiv, wir haben eine parlamentarische Opposition, die sich äußern kann und arbeiten kann. In dem Maße, wie wir eine Rückkehr zu einer Normalität an der Stelle einfordern, so wird sie auch wieder eintreten. Dazu ist die demokratische Kultur in Deutschland resistent genug. Aber es muss dann auch passieren. Wir sind jetzt von einem Exekutivkomitee im Grunde regiert worden, das so in der Verfassung nicht vorgesehen ist, eine Kommission zwischen Ministerpräsidenten und Bundeskanzlerin. Die haben dann Recht organisiert, das Ministerien erlassen haben. Das war in dieser Konstellation jetzt notwendig, aber üblich wäre ja eigentlich, dass für Grundrechtsfragen ganz wesentliche Entscheidungen etwa von Parlamenten getroffen werden, und genau das mahnen jetzt auch erste Verwaltungsgerichte an, dass man nachjustiert, noch mal überlegt, wenn Dinge dauerhaft gestellt werden, müsste das das Parlament entscheiden.
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