Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Thomas Kielinger, langjähriger Korrespondent der "Welt" und Publizist in London. Guten Abend, Herr Kielinger.
Thomas Kielinger: Guten Abend.
Dobovisek: Raus aus dem Binnenmarkt, rein in noch zu verhandelnde Freihandelsabkommen. Ist das der harte Brexit, vor dem sich viele, vor allem die Märkte so fürchten?
Kielinger: Ja. Die Märkte hätten wissen müssen, dass das kommt, denn wer im Binnenmarkt bleibt, als ein Mitglied des Binnenmarktes, der muss unterschreiben, weiter Zahlungen an Brüssel abzugeben. Der muss sich weiter dem Europäischen Gerichtshof unterwerfen und er kann die Zuwanderung nicht bremsen. Dieser Ausgang, der war vorhersehbar. Ich mag es nicht harten Brexit nennen. Es ist einfach Brexit. Das ist die logische Folge dieses Willens der britischen Regierung und so ist es nun mal. Mitglied nicht mehr im Binnenmarkt, aber Zugang dazu, das ist die große Frage, die Gretchenfrage.
Wahlen in Holland, Frankreich und Deutschland könnten für Unruhe sorgen
Dobovisek: Die große Gretchenfrage, die in nur zwei Jahren beantwortet werden soll. So sieht es jedenfalls Theresa May. Glauben Sie, dass sie es schaffen wird?
Kielinger: Ja wissen Sie, davor haben die Götter die Reaktion von 27 anderen EU-Mitgliedsstaaten gesetzt. Und wenn Sie noch hinzufügen, dass wir drei wichtige Wahlen in diesem Jahr haben, in Holland, Frankreich und Deutschland, so wird nicht sehr viel vorankommen in diesem Jahr, solange wir nicht wenigstens wissen, wer den Briten gegenübersteht. Es wird ein neuer französischer Präsident sein. In Holland kann der Wilders auch sehr viel Unruhe bringen. Und was wir in Deutschland kriegen, Gott weiß was, sodass die richtigen Gespräche am Ende nur gute zwölf Monate haben, und ich zweifele, ob das reicht, um an dieses Ziel zu kommen.
"Es wird keine schnelle Lösung geben"
Dobovisek: Schauen wir uns dann noch mal gemeinsam die Reaktionen der Briten selber an. Sieben Monate Stillstand waren es jetzt fast, bis Theresa May ihre zwölf Punkte vorgestellt hat. Wie nehmen Sie die Reaktionen der Briten wahr?
Kielinger: Na ja, es war nicht ganz Stillstand. Wenn man bedenkt, wie wenig vorbereitet diese Hauptstadt war auf den Ausgang, weil man gar nicht damit gerechnet hatte, so brauchte man diese Zahl der sieben Monate Minimum, um überhaupt seinen eigenen Kopf zu klären. Vor allen Dingen die Premierministerin. Die hat ja schließlich nicht für Brexit gekämpft, im Referendumswahlkampf, und sie muss jetzt selber lernen, wo sie stehen will.
Diese Unklarheit, die jetzt beseitigt wurde, färbt auch auf die Reaktionen ab. Es gibt wirklich zwei Lager: Die einen, die den Brexit immer wollten, und die anderen, die sagen, dies ist eine Rechnung auf zu viele Unbekannte, ein Wechsel auf eine unbekannte Zukunft. Ob wir diesen Trade Deal mit Europa bekommen, ist sehr zweifelhaft. Wie die Trade Deals mit der internationalen Welt aussehen, ist auch zweifelhaft. Aber die Briten sind Schwankungen in ihrer Geschichte gewohnt und sie werden vorangehen. Aber es wird keine schnelle Lösung geben. Dies ist der kleine erste Schritt in einem Marathon von Verhandlungen.
Dobovisek: Spüren Sie eine Angst vor den Folgen?
Kielinger: In einigen Teilen ja, aber ich sage noch mal: Der britische Nationalcharakter ist, wie Ernst Jünger mal geschrieben hat, mit größeren Schwankungen umzugehen gewöhnt. Wenn wir in Deutschland dieses Maß an Undeutlichkeit und Unsicherheit vor uns hätten, dem die Briten jetzt entgegengehen, ich glaube, wir hätten einen kollektiven Nervenzusammenbruch. Das würde unser psychischer Zustand gar nicht verkraften. Die Briten sind da, wie soll ich sagen, mutiger, abenteuerlicher, eine Insel immer wieder. Ich sage immer wieder, eine Insel ist ein Opt-out vom Kontinent, ist eine andere Mentalität. Die gehen nach dem Motto Trial and Error, Versuch und Irrtum erst mal voran und dann werden sie sehen. Dies ist eine Mentalität, die wir schwer verstehen, so viele Unsicherheiten.
Dobovisek: Wie viel von dieser Unsicherheit konnte Theresa May den Briten denn heute nehmen mit ihren Punkten?
Kielinger: In der Zentralfrage ganz eindeutig, damit sich keiner falschen Hoffnungen hingibt: Der Binnenmarkt wird verlassen - Punkt! Das ist nun wirklich hier die entscheidende Klarheit. Das Ziel ist klar, aber der Weg dahin ist total unklar, wie diese Gleichung raus aus dem Binnenmarkt, aber Zugang dazu aussieht, und wer weiß, ob die europäischen Mitgliedspartner von Großbritannien das überhaupt so absehen und auf diese Linie einschwenken. Das ist das allergrößte Fragezeichen.
"Das Parlament wird viel mehr verlangen"
Dobovisek: Und am Ende wird noch ein Fragezeichen stehen, nämlich die Antwort des Parlaments auf all das, was ausgehandelt wird. Ist das ein gutes Signal?
Kielinger: Dieses Signal ist, finde ich, eine Augenwischerei. Stellen Sie sich mal das Parlament vor, das nach zwei Jahren Verhandlungen dieses Paket vorgesetzt bekommt und soll nun entscheiden. Wenn sie es ablehnen, vernichten sie damit zwei Jahre der Verhandlungen und setzen England einer totalen unbekannten Zukunft aus. Wird das Parlament den Mut haben, das zu tun? Oder wird es einfach sozusagen der Not gehorchen und sagen, mein Gott, das ist verhandelt, was können wir nun einfach zugeben? Ich glaube deshalb, dieses Versprechen wird sehr bald als ein ziemlich leeres Versprechen durchschaut werden, und das Parlament wird viel mehr verlangen, schon früher über den Gang der Verhandlungen informiert zu werden und eingeladen zu werden, um abzustimmen. Nichts zwischendurch zu tun, sondern erst am Ende die Abstimmung zu haben, ist unrealistisch. Das ist ein Zwangsregime, das das Parlament wohl nicht annehmen wird.
Die EU im Schwitzkasten
Dobovisek: Und wenn sich die Europäer während dieser Verhandlungen querstellen - so hieß es auch heute immer wieder -, dann könnte May aus der Insel ein großes Steuerparadies machen. Das wird in Brüssel als Kampfansage verstanden. Ist das auch so gemeint?
Kielinger: Sie glaubt zwar nicht, dass man Großbritannien bestrafen will. Diese Rhetorik, glaubt sie, ist unrealistisch. Aber sie muss wissen, dass solche Gedanken da sind, und deshalb nimmt sie jetzt die EU in den Schwitzkasten und sagt, ich gehe nach dem Motto vor, kein Deal ist immer noch besser als ein schlechter Deal. Der Ball ist in eurem Hof, in eurem Teil des Tennisfeldes, nun sagt ihr mal, was euch ein vernünftiges, realistisches Handelsabkommen mit England wert ist.
Aber wir haben auch noch einige Eisen im Feuer und einige Trümpfe. Sie haben sie genannt. Man kann eine absolut rapide weitere Abwertung des Pfundkurses machen, sodass England noch wettbewerbsfähiger wird. Man kann Steuervorteile errichten. Wenn dem so wird und wenn die EU sich sperrt und kein Entgegenkommen im Sinne von einer fairen Offenheit in den Verhandlungen zeigt, dann hat die fünftstärkste Wirtschaftskraft der Welt immer noch einige Mittel im Köcher. Aber man hofft natürlich, dass es dazu nicht kommt. Aber sie nimmt ein bisschen die EU in den Schwitzkasten und sagt, bitte, tua res agitur, hier geht es auch um euch.
Dobovisek: Gestärkt auch ein bisschen durch den Rückenwind aus den USA, von Donald Trump, der ja durchaus lobende Worte fand für die Insel?
Kielinger: Der Donald Trump, wissen Sie, das ist ein Kapitel für sich, was der alles sagt. Nehmen Sie bitte nur die Hälfte davon für wahr, denn der lässt immer aus, was der Kongress entscheidet. Zum Beispiel Handelsfragen entscheidet nicht das Weiße Haus. Ich habe zehn Jahre in Amerika gearbeitet. Das entscheidet der Kongress. Der Kongress ist der andere Arm der Regierung, wie er dort heißt, und ob der nun plötzlich Präferenzabkommen mit England schließt, so wie Trump das schildert, na, warten wir mal ab. Vieles wird der Kongress entscheiden, was Trump so gar nicht will. Das ist eine eigene Instanz und Amerika ist noch ein weiteres Fragezeichen. Das wollen wir mal sehen, wie sich das entwickelt, die Dichotomie zwischen dem Weißen Haus und dem Kongress.
Dobovisek: Thomas Kielinger, Journalist und Publizist in London. Vielen Dank für das Gespräch.
Kielinger: Guten Abend! Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.