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Grundschulen
Bildungsforscher: Lehrermangel noch mindestens bis 2025

Der aktuelle Lehrermangel hängt nach Ansicht des Bildungsforschers Klaus Klemm damit zusammen, dass die Entwicklung der Geburten- und damit der Schülerzahlen schwer vorhersehbar ist. Die Reaktion der Politik darauf sei dennoch zu langsam, sagte Klemm im Dlf. An Grundschulen werde der Mangel noch zunehmen.

Klaus Klemm im Gespräch mit Philipp May |
    Bildungsforscher Klaus Klemm
    Bildungsforscher Klaus Klemm (picture alliance / dpa)
    Philipp May: Am Telefon ist jetzt der Bildungsökonom Klaus Klemm, emeritierter Professor an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Duisburg-Essen. Schönen guten Morgen!
    Klaus Klemm: Guten Morgen!
    May: Herr Klemm, Sie haben schon Ende der 70er-Jahre zum Lehrermangel in Deutschland publiziert. Ist das jetzt also ein Alle-Jahre-wieder, oder ist es tatsächlich besonders dramatisch geworden?
    Klemm: Es ist nicht ein Alle-Jahre-wieder, aber ich sag mal ein Alle-Jahrzehnte-wieder. Wir haben diese Schwankungen, dass wir einen großen Überschuss an Lehrern auf dem Arbeitsmarkt haben und an Lehrerinnen beziehungsweise einen großen Mangel. Im Augenblick sind wir wieder oder rutschen wir wieder rein in diese Mangelphase.
    "Problem, die Geburtenentwicklungen vorherzusagen"
    May: Wiese kann man das dann nicht besser steuern?
    Klemm: Das ist die Frage, die dann immer gestellt wird, weil man ja eigentlich denkt, die Kinder werden geboren, und jeder weiß, sechs Jahre später sind sie in der Schule. Es gibt aber ein paar Schwierigkeiten. Das eine ist, tatsächlich entwickeln sich die Geburtenzahlen überraschend im Verlauf der Jahre. Wir hatten in den 60er-Jahren, als ich das zum ersten Mal in den 70er-Jahren berechnet hatte, einen starken Geburteneinbruch, der kam dann für alle zunächst mal überraschend. Jetzt in der aktuellen Situation - wir haben in den Jahren von 2013 bis 2017 jährlich 110.000 Geburten mehr. 2017 hatten wir 110.000 Geburten mehr als 2013. Das ist überraschend, und das wächst dann in die Schulen dann doch relativ schnell, innerhalb von sechs Jahren. Aber eine Lehrerausbildung dauert sechs bis sieben Jahre. Und der eine Faktor ist, wir haben Probleme, und die kann auch ich nicht lösen, die kann keiner lösen. Wir haben ein Problem damit, exakt vorherzusagen, wie sich letztendlich Geburtenentwicklungen darstellen. Und wenn dann noch so Wanderungsbewegungen hinzukommen …
    May: Die Flüchtlingskrise …
    Klemm: Ja, 2015 folgende. Dann verschärft sich das noch mal. Auch das hat ja keiner vorhersagen können. Sich da jetzt hinzustellen und zu sagen, das hätte die Politik doch wissen müssen, das ist billiger Populismus. Aber es gibt ein paar Dinge, wo man dann sich schon fragt, wieso läuft das so, wie es läuft. Wir haben diese Entwicklung der Geburtenanstiege 2013, 2014, 2015 regelmäßig etwas mehr. Noch vor ein paar Wochen stand auf der Homepage der Kultusministerkonferenz eine Lehrerbedarfsprognose, die für 2017 sagte, wir haben einen Überschuss an Grundschullehrern. Also, die Reaktionen der Politik auf schwer vorhersagbare Entwicklungen – auf schwer vorhersagbare Entwicklungen ist die Politik in ihrer Reaktion viel zu langsam. Da ist eine Kritik. Dann gibt es wieder ein Problemfeld, wo Politik –
    May: Woran liegt das, wenn ich da mal ganz kurz einhaken dürfte?
    Klemm: Bei der KMK liegt es daran –
    "Die einzelnen Schulministerien sind viel zu langsam"
    May: Kultusministerkonferenz, die Konferenz der Landeskultusminister …
    Klemm: Ja. Bei der Kultusministerkonferenz liegt es daran, dass diese eigentlich personell so ausgedünnt worden ist im Verlauf der Jahrzehnte, der letzten Jahre auch, dass sie nicht anders kann als aufzuaddieren, was die 16 Länder ihnen sagen. Wenn die Kultusministerkonferenz eine neue Prognose – jetzt hat sie das getan für die Schülerzahlentwicklung – auf den Markt, auf ihre Homepage gibt, dann ist das nichts anderes als das, was sie addiert hat, was 16 Bundesländer ihr zuliefern. Also muss man …
    May: Aber kann sie nicht davon ausgehen, dass die 16 Länder das selbst überblicken – wir haben ein föderales System – wie viele sie brauchen?
    Klemm: Ja, da wird jetzt wieder – dass Sie das Versagen auf die Länderebene schieben. Auf der Homepage des Schulministeriums meines Landes, Nordrhein-Westfalen, stand vor einem halben Jahr eine Schülerzahlenprognose und eine darauf basierende Lehrerbedarfsprognose, die auf Bevölkerungsdaten des Jahres 2012 sich stützte. Die haben das vor ein paar Wochen erst, vor ein paar Monaten erst aktualisiert. Und das ist in vielen anderen Ländern ähnlich gewesen, nicht überall, aber die einzelnen Schulministerien sind da auch viel zu langsam.
    May: Die sind überfordert mit anderen Worten?
    Klemm: Weiß ich nicht, ob sie überfordert sind. Sie liefern nicht das, was man von ihnen erwarten müsste. Egal, wer da regiert.
    May: Wo ist der Mangel besonders eklatant?
    Klemm: Im Augenblick und in den nächsten Jahren noch verschärft in der Grundschule. Wir haben zu Beginn dieses Jahres eine Prognose auf den Markt gebracht, in der vorgerechnet wird, und das hat bisher keiner bezweifelt, dass wir in den Grundschulen bis 2025 insgesamt 35.000 Lehrerstellen nicht besetzen können. Die Zahl 35.000, die Sie eben vom Lehrerverband sagten, bezog sich auf alle Schulen. Allein in den Grundschulen werden wir in den Jahren bis 2025 35.000 Stellen nicht besetzen können.
    "Es wird sich deutlich verschärfen"
    May: Also das heißt, das ist konservativ noch, was der Lehrerverband sagt. Das Problem ist eigentlich viel schlimmer?
    Klemm: Es ist insofern nicht konservativ, die sagen den Status quo. Und ich gucke ein bisschen nach vorn. Der Lehrerverband, die haben gesagt, 35.000 Stellen fehlen jetzt.
    May: Okay. Und das wird sich noch verschärfen.
    Klemm: Es wird sich deutlich verschärfen, weil eben diese 110.000 Kinder mehr – das ist ja nicht erstaunlich, ein paar Jahre später auch in den Schulen auftauchen. Und wenn man weiß, wie lange das dauert, dass man neue Lehrer ausbildet … Eine Lehrerausbildung, auch die Grundschullehrerausbildung ist ja jetzt im Bachelor-Master-Studium, dauert mindestens fünf Jahre. Dann kommen je nach Land etwa anderthalb Jahre Referendariat hinzu, und zwischendurch gibt es ein bisschen Wartezeiten. Also, sechs, sieben Jahre braucht man, bis jemand, der jetzt – eine Studentin, die jetzt sich zum Wintersemester für das Lehramt Grundschule entscheidet, ist 2025 auf dem Arbeitsmarkt.
    May: Das heißt, 2025 haben wir dann keinen Lehrermangel mehr, sondern wieder Lehrerschwemme?
    Klemm: Unter der Annahme, dass die Länder mehr Ausbildungsplätze an den Hochschulen schaffen und in den Studienseminaren und dass die Studienberechtigten, die Abiturientinnen und Abiturienten diese Ausbildungsplätze annehmen, also sich verstärkt ins Lehrerstudium Grundschule hineinbewegen, haben wir dann die Voraussetzung, den sich bis dahin aufbauenden Lehrermangel wieder abzubauen. Wenn es jetzt dazu kommt, dass die Abiturientinnen und Abiturienten sagen, oh, Grundschule, überschaubare Ausbildungszeit, attraktiver Beruf, wenn der Kultusminister von Thüringen es erreicht, das Image zu stärken und die Gehälter anzuheben, wenn dann ganz viele studieren – wenn dann aber wieder, was denkbar ist, die Geburtenzahlen zurückgehen, dann haben wir auf einmal wieder zu viele.
    "Was wir jetzt an Maßnahmen ergreifen, sind Notmaßnahmen"
    May: Tja. Aber für den Moment ist auf jeden Fall das Problem erkannt und werden die richtigen Maßnahmen ergriffen, um mal was Positives zu sagen?
    Klemm: Im Moment ist das Problem erkannt. Die Maßnahmen, die grundständig ausgebildete Lehrkräfte in die Schulen bringen, egal ob man den Vorschlägen etwa des thüringischen Ministers folgt, die Ausbildung zu ändern und flexibler zu machen …
    May: Ist das denn richtig?
    Klemm: Ich sag mal eben erst meinen Satz zu Ende. Auch, wenn das passiert, dann wirkt das nicht vor 2025. Und bis dahin haben wir eine Mangelsituation. Was wir jetzt an Maßnahmen ergreifen, sind Hilfsmaßnahmen, sind Notmaßnahmen, sind pädagogisch nicht sehr befriedigend. Jetzt auf Ihre Frage, ob es richtig ist, die Lehrkräfte flexibler auszubilden: Auch da haben wir einen dauernden Wechsel. Wir haben in verschiedenen Ländern, auch hier in Nordrhein-Westfalen, eine Zeit gehabt, wo wir gesagt haben, die Lehrkräfte, die Grundschule und weiterführende Schulen außerhalb der Gymnasien, also Realschulen, Hauptschulen, Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen, wie immer die heißen, die Lehrkräfte kriegen eine Ausbildung. Dann hat man gefunden, das ist nicht optimal, und jetzt haben wir wieder die reine Grundschullehrerausbildung in den meisten Bundesländern, und die reine Ausbildung für die Sekundarstufe eins und fürs Gymnasium. Die Lehrkräfte so auszubilden, dass sie den Unterricht, den Fachunterricht in der gymnasialen Oberstufe gut und den Anforderungen entsprechend managen und hinkriegen und leisten und zugleich den Erstunterricht für Erstklässler zu erteilen …
    May: Sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe, würde ich jetzt sagen.
    Klemm: Das halte ich für schwierig, und ich weiß nicht, ob ich das für mein Kind wollte, dass ein eigentlich fürs Gymnasium ausgebildeter Lehrer oder eine Lehrerin den Erstleseunterricht in der Grundschule gibt.
    "Die reichen Länder kaufen den armen Ländern die Lehrer weg"
    May: Jetzt fordert der thüringische Bildungsminister ja auch zum Beispiel, die Bezahlung anzugleichen von Grundschullehrern und Gymnasiallehrern.
    Klemm: Die Tatsache, dass, man muss sagen, in der Mehrheit der Bundesländer, einige haben das schon geändert in den letzten Jahren, dass in der Mehrheit der Bundesländer die Grundschullehrer grundsätzlich eine Gehaltsstufe niedriger, das heißt A12 für die Menschen, die das Beamtenrecht kennen, eine Gehaltsstufe niedriger bezahlt werden als die Hauptschullehrer, die Realschullehrer, die Gymnasiallehrer und so weiter, das ist spätestens seit der Einführung der Bachelor-Master-Lehrerausbildung nicht mehr angemessen. Früher wurde gesagt, Grundschullehrerausbildung dauert sechs Semester, alle anderen Lehrerämter brauchen acht Semester. Und damit wurde begründet, dass sie eine Gehaltsstufe schlechter bezahlt werden.
    May: Sie sagen, A12 für Grundschullehrer, was heißt das so ungefähr in Euro?
    Klemm: Das ist wieder das Problem, dass das in jedem der 16 Bundesländer was anderes heißt. Wir haben mit der Föderalismusreform, 2003 war es, glaube ich, das Bundesbeamtenrahmenbesoldungsgesetz abgeschafft. Jetzt haben wir Länder, in denen ein Lehramtsanwärter fünf- bis sechshundert Euro mehr verdient als in einem anderen. Das führt dann dazu, dass die reichen Länder die Lehrer aus den armen Ländern wegkaufen.
    May: Hilft dann der Föderalismus, der bundesrepublikanische Flickenteppich – Bildung ist ja Ländersache, wie wir wissen –, oder ist das eher hinderlich?
    Klemm: In dem Fall, über den wir jetzt reden, würde ein Föderalismus dann hinderlich wirken, wirkt dann für Deutschland hinderlich, wenn es um ein gleiches Verteilen des Mangels geht. Durch eine Abschaffung des Föderalismus oder eine Abschwächung des Föderalismus würden wir an der Mangelsituation überhaupt nichts ändern.
    "Es gibt keine andere Wahl, als solche Maßnahmen zu ergreifen"
    May: Jetzt muss man natürlich jetzt momentan Abhilfe schaffen. Wir haben es so, dass gerade vermehrt um Quereinsteiger geworben wird, zum Beispiel Diplom-Physikstudenten beziehungsweise Masterphysikstudenten, die aber keine Pädagogen sind, die dann aber trotzdem in den Unterricht geholt werden. Ist das als Notmaßnahme zielführend?
    Klemm: Wenn ich jetzt an einer verantwortlichen Stelle wäre, hätte ich überhaupt keine andere Wahl, als solche Maßnahmen zu ergreifen. Ich kann den Eltern ja nicht sagen, Seiteneinsteiger, Quereinsteiger sind nicht so gut, deshalb schicken wir Ihr Kind wieder nach Hause, kommen Sie demnächst einmal wieder, dann kriegt es Schule. Ich muss ja jetzt irgendwas machen als Politik, ich muss ja den Unterricht erteilen. Und wenn ich die Lehrer auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr finde, muss ich nach Strohhalmen greifen. Und die Möglichkeit, Seiteneinsteiger oder Quereinsteiger, das heißt überall wieder anders, solche zu beschäftigen, ist eine dieser Notmaßnahmen. Die ist dann verträglicher, wenn das verbunden ist mit einer anständigen, wenn auch kurzen Vorbereitung und vor allem Begleitung während der Einstiegsphase. Also, wenn ich einen Menschen finde, der irgendein akademisches Studium gemacht hat, was mit Schule erst mal gar nichts zu tun hat, und ich den in die Grundschule schicke – da geht es im Augenblick um die Quereinsteiger –, dann muss ich sicherstellen, dass er oder sie in gewisser Weise parallel dazu hingeführt wird auf die Aufgabe, die er oder sie dann leisten muss. Und dazu brauche ich wiederum Lehrkräfte, die schon erfahren sind. Ich muss also den neuen Seiteneinsteigern eine erfahrene Lehrkraft zur Seite stellen. Wenn ich das aber mache, muss ich der ja irgendwie eine Entlastung geben. Ich kann nicht einfach sagen, du musst 28 Stunden unterrichten und außerdem noch jemanden betreuen. Dann wird es schwierig.
    May: Bildungsmangel in Deutschland beziehungsweise Lehrermangel in Deutschland. Das war der Bildungsökonom Professor Klaus Klemm. Herr Klemm, vielen Dank für das Gespräch!
    Klemm: Gern!
    May: Und dann, in sieben Jahren, sprechen wir dann wieder über Lehrerschwemme!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.