Rüdiger Achenbach diskutiert mit Mouhanad Khorchide (Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster), Serdar Güneş (Institut für Studien der Kultur und Religion des Islams an der Universität Frankfurt am Main), Abdul Ahmad Rashid (Islamwissenschaftler und Redakteur beim ZDF) und Abderrahmane Ammar (Soziologe und Islamwissenschaftler aus Marokko).
Rüdiger Achenbach: Ziel des Propheten Mohammed ist der Bruch mit den überlieferten Stammestraditionen und vor allem mit dem Polytheismus. Dabei knüpft der Koran durchaus an bekannte monotheistische Vorstellungen an. Herr Güneş.
Serdar Güneş: Der koranische Text ist ein Text, der im 7. Jahrhundert für die arabische Halbinsel offenbart wurde und die Adressaten waren zum größten Teil Polytheisten. Es ging darum die Einheit Gottes, seine Einzigartigkeit, also seinen Monotheismus zu konstituieren. Insofern ist der Islam ein radikaler Monotheismus. Aber er hat nicht reinen Tisch gemacht, sondern der Islam, oder der Koran speziell, beruft sich auf vorangegangene Traditionen: auf das Christentum und auf das Judentum auch. Das steht auch im Koran. Also er knüpft an eine schon da gewesene Tradition an. Nach seinem Selbstverständnis korrigiert er da einiges auch. Er will als Korrektiv gemessen werden. Der Islam ist eigentlich immerwährende Reform. Und dieser Impuls ist irgendwo mit der Zeit zum Erliegen gekommen, weil der Islam sich institutionalisiert hat, Strukturen herausgebildet hat.
Das ist ein universales Gesetz, wenn ich irgendwo Strukturen herausbilde, da verknöchert dann irgendwann alles. Das kennt man aus der Verwaltung, denke ich mal. Das ist beim Islam nicht anders. Insofern müsste man die universellen Intentionen des Koran-Textes oder die moralischen Vorstellungen in unsere heutige Zeit transportieren und sie aktualisieren. Da gibt es Bestrebungen, Reformansätze, viele muslimische Reformer, die in den letzten 200 Jahren aufgekommen sind. Aber das ist kein modernes Phänomen in dem Sinne. Auch der klassische Islam kennt Mechanismen, sich zu aktualisieren. Falsch ist es – und das ist meine Meinung – eine gewisse historische Periode überzeitlich zu erklären und das sozusagen in die heutige Zeit zu bringen. Das ist der Fehler, den viele Salafisten machen, aber auch viele Traditionelle. Da muss man zwischen Traditionalisten und Salafisten auch unterscheiden, weil diese Begriffe oft auch synonym verwendet werden. Aber man muss schauen, dass der Islam als Reformimpuls, den er schon immer hatte, wieder aktualisiert wird. Man könnte den Koran als Fingerzeig ansehen. Man müsste in die Richtung schauen, in die er zeigt, und nicht den Finger. Problem ist, dass die meisten Leute auf den Finger schauen anstatt in die Richtung, in die er zeigt.
Achenbach: Herr Ammar.
Abderrahmane Ammar: Also Muslime sind auch in dem Bereich nicht einig und sie waren nie einig. Und der Koran war niemals die einzige Quelle, wie die Muslime ihren Alltag organisieren können. Neben dem Koran gibt es auch Propheten-Traditionen, also Sunna, es gibt auch die Gemeinde und es gibt auch andere Quellen. Wenn wir sagen, dass der Koran vollständig ist und die einzige Quelle ist und das, was nach Mohammed ist, nicht anerkannt ist, ist das falsch, weil Mohammed als letzter Prophet bedeutet, dass wir uns selber damit beschäftigen sollen, unser Leben in Ordnung zu bringen. Das heißt, es gibt viele Sachen, die der Koran nicht mehr lösen kann. Dann müssten andere Quellen einsteigen. Der Koran weist auch auf die Vernunft – das steht wortwörtlich im Koran: Fragt die Wissenden, wenn ihr nicht wisst, was ihr macht.
Das heißt, die Vernunft, dass man auch mitdenkt. Und es gibt einen Prophetenspruch: wenn man sich bemüht, selber eine Lösung zu finden, ohne zu einem Imam zu gehen, oder zu einem Theologen oder Gelehrten. Da wird man zweimal belohnt, wenn man ein positives Ergebnis erzielt. Wenn man ein negatives Ergebnis erzielt hat, wird man trotzdem belohnt, weil er es versucht hat, weil die Absicht zählt, ein guter Mensch zu sein, also mit den Mitmenschen die Ordnung zu schaffen. Von daher, von dem Koran als einzige Quelle zu sprechen, das war nie in der Geschichte des Islam gültig und das wird nie sein.
Achenbach: Das heißt aber, wenn ich das richtig verstanden habe, dass vom Koran aus schon eine Grundlage gelegt ist, die auffordert, Reformtheologie zu betreiben, Herr Khorchide.
Mouhanad Khorchide: Zum Beispiel, wenn der Koran das Judentum kritisiert, dann kritisiert er nicht das Judentum an sich, sondern Elemente im Judentum – gerade diese Elemente, die aus dem Judentum eine Gesetzesreligion gemacht haben. Da sagt der Koran, das sind Fesseln, von denen der Koran den Islam befreien möchte, diese zu vielen Verbote zum Beispiel. So sieht er sich schon als Reformbewegung anderer Traditionen. Und zugleich aber in derselben Tradition weiterhin. Also Mohammed hat nie gesagt: Ich bin gekommen, um hier eine neue Religion zu stiften, sondern er sah sich immer in dieser Tradition. Und um den Islam fortzuführen, müsste man diesen Geist der Reform im Islam selbst weiter behalten und immer wieder den Islam aktualisieren, in dem man hinterfragt, wie kann man den Islam heute übersetzen – in Deutschland sicher anders als in Saudi-Arabien, anders als in Australien. Jeder Kontext braucht Besonderheiten.
Achenbach: Sie haben gerade das Verhältnis zu den Juden angesprochen und das Verhältnis zu den Christen wird erwähnt. Das Verhältnis zu den Schriftreligionen wird besonders hervorgehoben, Herr Güneş.
Güneş: Christentum und Judentum werden im Koran an sich als abstrakte Größe nicht behandelt. Es gibt immer Kritik an vorgefundenen Juden und Christen. Der Koran kritisiert nie eine bestimmte Größe, immer nur bestimmte Verhältnisse. Und da kann es zum Beispiel sehr gut sein, wenn man historische Forschung betreibt, wenn man weiß, wie die Verhältnisse Arabiens im 7. Jahrhundert waren – zum Beispiel. Welche Christen, welche Juden da gelebt haben. Außerdem kann man auch sagen, es kann nicht das Christentum im Islam kritisiert werden, weil zu der Zeit, als der Koran entstanden ist, gab es miteinander konkurrierende Christologien. Also das war noch nicht so wie heute, wie wir das kennen, sondern das war ein Christentum, das selbst in einer gewissen Entwicklungsphase war. Wenn der Koran direkt kritisiert, dann meint er bestimmte Tendenzen.
Achenbach: Tendenzen eines Christentums, wie es wahrscheinlich auch auf der arabischen Halbinsel anzutreffen war.
Güneş: Natürlich. Das kann sein, dass es zum Beispiel eine sehr überhöhte Marienverehrung auf der arabischen Halbinsel gab. Das waren Christen, die ja gerade aus dem Abendland geflohen sind.
Achenbach: Herr Khorchide.
Khorchide: Und interessant ist, wenn von Juden und Christen im Koran im allgemeinen, theologischen Sinn gesprochen wird – nicht auf eine bestimmte Situation bezogen – dann haben wir Beispiel wie in der 2. Sure Vers 62, wo ihnen sogar Heil versprochen wird, wo gesagt wird Muslime, Juden, Christen, die an Gott glauben, Gutes verrichten und an das Jenseits auch glauben, die bekommen ihren Lohn bei Gott und die haben nichts zu befürchten. Als theologische Aussage.
Achenbach: Herr Ammar.
Ammar: Wenn Juden oder Christen kritisiert werden in dem Koran, damit sind nicht die Juden oder Christen von heute gemeint. Es gibt viele Leute, die diese Passage, wenn es um Kritik gegen Juden geht, um Israel zum Beispiel zu kritisieren oder Juden in der Heimat zu kritisieren und, und, und. Manchmal werden diese Passagen ausgenutzt - vor allem unter den Islamisten, um auch manchmal Hass gegen Angehörige anderer Religionen zu streuen.
Achenbach: Herr Rashid, wie schätzen Sie das ein – diese Situation?
Rashid: Ich muss sagen, ich habe mir das jetzt hier so angehört, und das ist alles schönes Gerede und alles auch sehr schön harmonisch. Aber ich finde, das geht doch ein bisschen an der Realität vorbei. Herr Ammar hat das jetzt auch im letzten Satz gesagt. Das wird ja ausgenutzt. Ich meine, das alles – diese hermeneutische Auslegung – das wird vielleicht in Gelehrtenstuben gemacht. Dieser Ansatz ist ja nicht neu. Das muss man ja sagen. Er ist schon alt, aber wozu hat er geführt. Denn man sieht die Realität der islamischen Welt ist anders. Da ist jetzt kein Geistlicher, der auf der Kanzel steht – weder hier in Europa noch in den islamischen Ländern – sagt: Also, liebe Leute, dieser Vers, der ist in einer bestimmten Zeit entstanden und den müsst ihr so und so verstehen und deshalb dürft ihr euch nicht so und so verhalten. Nein. Diese Verse werden ja, und auch gerade die Gewalt hervorhebenden Verse, werden ja genutzt, um auch Muslimen und anders Gläubigen Gewalt anzutun. Also ich finde, das bewegt sich hier, was ich gerade gehört habe, in einem sehr schönen Raum, aber fruchten tun das doch im Grunde eigentlich nichts.
Achenbach: Herr Khochide?
Khorchide: Ja, aus einem Grund. Weil wir die politische Dimension nicht mit aufgenommen haben. Wenn wir heute im Islam im Kontext von Juden sprechen, dann ist der Nahost-Konflikt sehr ausschlaggebend für das Verhältnis zwischen Islam und Judentum. Das war vor ein paar Hundert Jahren in Spanien total anders. Da haben die Juden, als sie geflüchtet sind von Europa, Zuflucht bei Muslimen gefunden. Da war überhaupt keine Spannung, wie wir sie heute haben. Deshalb müssten wir immer ein Bewusstsein dafür haben, wenn wir über Theologie reden, was sagt die Theologie und wo sind die politischen Implikationen in der Lebenswirklichkeit. Wir dürfen nicht, wenn wir von Juden sprechen, nur an Nahost und an die Nahostkrise und die Konflikte dort denken, sondern es geht hier eben um eine Religion und dort geht es um politische Auseinandersetzungen. Das ist auch wichtig, diese Differenzierung zu machen, damit wir nicht an der Realität vorbei reden und sagen, das ist alles schön und gut.
Rashid: Aber Herr Professor Khorchide, Entschuldigung, die machen Sie und ich vielleicht, aber es machen doch viele Tausende Muslime diese Unterscheidung nicht. Es bringt doch nichts, immer davon zu reden, so theoretisch, ja wir müssen unterscheiden, wir müssen differenzieren. De facto findet aber diese Differenzierung vor Ort nicht statt. Also, da frage ich mich, was bringt denn diese hermeneutische Auslegung, wenn sie bei den Menschen gar nicht ankommt.
Khorchide: Wenn wir Imame zum Beispiel so weit ausbilden, dass sie nicht in der Predigt stehen und dann sagen, möge Gott alle Juden verfluchen oder dieses und jenes wegen dem, was jetzt in Palästina oder wo immer geschieht. Wenn wir reflektierte Imame ausbilden, die genau differenzieren und auf der Kanzel sagen, das Judentum ist vom Islam, vom Koran eine anerkannte Religion und das, was dort geschieht, ist etwas Politisches, das hat nichts mit Religionszugehörigkeit zu tun, dann könnten die Imame auch eine aufklärende Rolle spielen, um genau das, was Sie sagen, auch diesem Anspruch zu entsprechen, dass wir von unten auf der Basis eine Veränderung herbeiführen.
Achenbach: Aber gibt es nicht auch den Anspruch in diesem Zusammenhang, dass der Islam die Urreligion ist? Das heißt also, dass man – wenn man nicht zum Islam gehört – im Grunde genommen abgefallen ist. Ich nehme jetzt mal die Juden und die Christen. Sie sind der wahren Religion abgefallen, einen Irrweg gegangen mit ihren Schriften. Bekannt ist auch, dass sie teilweise ihre Schriften gefälscht haben sollen – das steht auch so im Koran – und dass man zu Urreligion zurückkommen muss. Das heißt, es ist hier eigentlich ein Auftrag, den man sich geben kann, als Muslim, ich arbeite dafür, dass alle Menschen wieder zurück zur Urreligion finden. Herr Khorchide.
Khorchide: Das ist wichtig, was sie ansprechen, denn auch viele Muslime berufen sich auf einen koranischen Vers, der lautet: die Religion, die Gültigkeit hat, weil Gott ist der Islam. Allerdings: Was meint dieser Vers, was meint der Islam im Koran? Der Begriff Islam im Koran wird nicht verwendet, wie wir heute den Islam verwenden – im Sinne von dieser Religion, die im 7. Jahrhundert von Mohammed gegründet wurde, sondern Moses wird als Muslim, Noah wird als Muslim, Abraham wird als Muslim im Koran bezeichnet. Sogar die Anhänger Jesu werden im Koran als Muslime bezeichnet. Das bedeutet, der Begriff Islam und Muslim im Koran bezieht sich nicht auf eine bestimmte Religion, sondern ...
Achenbach: ... auf die Anhänger von Monotheismus.
Khorchide: Genau, genau das ist es. Also jeder, der sein Leben auf Gott hin ausrichtet, ist ein Muslim. Das meint der Koran damit. Und somit haben wir eine ganz breite Basis laut dem Koran, viele Menschen aufzunehmen und zu sagen, der Koran nimmt all diese Menschen, die Monotheisten auf.
Rashid Das hat ja schon der gute Goethe erfasst, indem er gesagt hat, wenn Islam Gott-ergeben heißt, im Islam leben und sterben wir alle.
Güneş: Dem kann ich nur beipflichten. So wie es da verstanden wird, ist es nicht die Bezeichnung einer Religionsgemeinschaft, sondern eine gewisse gesittete Grundhaltung, die im Zentrum Gott hat. So gesehen waren die früheren Propheten Muslime in dem Sinne und nicht in dem Sinne, wie wir es dann heute kennen als organisierte Religion.
Achenbach: Also ein Leben in Übereinstimmung – würde ich jetzt verstehen – mit dem, was wir theologisch als allgemeine Prinzipien genannt haben, die sozusagen zum Streben nach Vollkommenheit dazugehören.
Khorchide: Definitiv.
Güneş: So könnte man das umschreiben.
Ammar: Im Islam ist wichtig Muslim zu sein, als gläubig zu sein. Weil, es gibt viele Leute, die würden sagen, ich glaube an Gott, an die Propheten, die alten Bücher und ich glaube auch an Engel. Aber wenn man sein Verhalten sieht, das widerspricht sich.
Achenbach: Also reduziert auf Glaubensbekenntnisse.
Ammar: Ganz genau. Wenn man lügt, wenn man betrügt, wenn man Korruption bezahlt, wenn ein Land diktatorisch beherrscht, wenn man sogar der Natur schadet und wenn man den Insekten, den Tieren schadet und sie nicht respektiert, das ist ein Widerspruch. Bei jedem könnte es sein, dass er gläubig ist, aber nicht jeder kann beweisen, ein guter Mensch zu sein. Und es gibt auch Atheisten – sie glauben nicht an Gott – aber sie können sie korrekt und gut benehmen, bei denen man manchmal sagen kann, wären doch die Gläubigen wie diese Atheisten, das heißt, weil sie eine Ethik und Moral haben.
Rashid: Das ist ja das, was Mouhanad Khorchide in seinem Buch "Islam ist Barmherzigkeit" in einem Kapitel herausgearbeitet hat, dass er sagt, nicht nur Muslime, sondern Juden, Christen und auch Nicht-Gläubige können der Barmherzigkeit Gottes teilhaftig werden, weil sie auch Muslime sind. Und das hat ja eine große Diskussion in der muslimischen Community hier in Deutschland hervorgerufen. Es ging so weit, dass er von einigen Verbandsvertretern aufgefordert wurde, Buße abzulegen, was auch sehr zweifelhaft ist, ob man das einfordern kann. Weil Muslime damit Schwierigkeiten haben, Anders-Gläubige und auch Nicht-Gläubige als Muslime zu bezeichnen.
Achenbach: Wenn man zum Beispiel davon ausgeht, dass es Menschen gibt, die die Information nicht haben – das heißt, die überhaupt nicht wissen, was der Islam ist, die den Koran nicht kennen, und dann stellt man fest, es gibt eine Übereinstimmung in ihrer Lebenshaltung. Das haben Sie doch in etwa gemeint, Herr Khorchide.
Khorchide: Vor allem nach der islamischen Vorstellung wird jeder als Muslim geboren, im Sinne von jeder ist veranlagt, sein Leben auf Gott hin auszurichten, bis er sich bewusst dagegen stellt und sagt, ich aus Überzeugung stelle ich mich dagegen. Aber was ist mit den Abermillionen Menschen hier zum Beispiel in Deutschland, die eben nichts vom Islam oder auch nur ein verzerrtes Bild vom Islam wahrgenommen haben, aber eben in ihrer Handlung, in ihrer Lebensführung ihr Leben doch auf das Gute, auf das absolut Liebende, auf das absolut Barmherzige ausgerichtet haben? Sprich, hätte man ihnen dann von diesem barmherzigen, lieben Gott, so wie Gott sich vorgestellt hat im Koran, erzählt, hätten sie wohlmöglich nichts dagegen – wir haben es gerade gehört, was Goethe auch dazu gesagt hat– nichts dagegen gehabt, sich auch als Muslime zu sehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Rüdiger Achenbach: Ziel des Propheten Mohammed ist der Bruch mit den überlieferten Stammestraditionen und vor allem mit dem Polytheismus. Dabei knüpft der Koran durchaus an bekannte monotheistische Vorstellungen an. Herr Güneş.
Serdar Güneş: Der koranische Text ist ein Text, der im 7. Jahrhundert für die arabische Halbinsel offenbart wurde und die Adressaten waren zum größten Teil Polytheisten. Es ging darum die Einheit Gottes, seine Einzigartigkeit, also seinen Monotheismus zu konstituieren. Insofern ist der Islam ein radikaler Monotheismus. Aber er hat nicht reinen Tisch gemacht, sondern der Islam, oder der Koran speziell, beruft sich auf vorangegangene Traditionen: auf das Christentum und auf das Judentum auch. Das steht auch im Koran. Also er knüpft an eine schon da gewesene Tradition an. Nach seinem Selbstverständnis korrigiert er da einiges auch. Er will als Korrektiv gemessen werden. Der Islam ist eigentlich immerwährende Reform. Und dieser Impuls ist irgendwo mit der Zeit zum Erliegen gekommen, weil der Islam sich institutionalisiert hat, Strukturen herausgebildet hat.
Das ist ein universales Gesetz, wenn ich irgendwo Strukturen herausbilde, da verknöchert dann irgendwann alles. Das kennt man aus der Verwaltung, denke ich mal. Das ist beim Islam nicht anders. Insofern müsste man die universellen Intentionen des Koran-Textes oder die moralischen Vorstellungen in unsere heutige Zeit transportieren und sie aktualisieren. Da gibt es Bestrebungen, Reformansätze, viele muslimische Reformer, die in den letzten 200 Jahren aufgekommen sind. Aber das ist kein modernes Phänomen in dem Sinne. Auch der klassische Islam kennt Mechanismen, sich zu aktualisieren. Falsch ist es – und das ist meine Meinung – eine gewisse historische Periode überzeitlich zu erklären und das sozusagen in die heutige Zeit zu bringen. Das ist der Fehler, den viele Salafisten machen, aber auch viele Traditionelle. Da muss man zwischen Traditionalisten und Salafisten auch unterscheiden, weil diese Begriffe oft auch synonym verwendet werden. Aber man muss schauen, dass der Islam als Reformimpuls, den er schon immer hatte, wieder aktualisiert wird. Man könnte den Koran als Fingerzeig ansehen. Man müsste in die Richtung schauen, in die er zeigt, und nicht den Finger. Problem ist, dass die meisten Leute auf den Finger schauen anstatt in die Richtung, in die er zeigt.
Achenbach: Herr Ammar.
Abderrahmane Ammar: Also Muslime sind auch in dem Bereich nicht einig und sie waren nie einig. Und der Koran war niemals die einzige Quelle, wie die Muslime ihren Alltag organisieren können. Neben dem Koran gibt es auch Propheten-Traditionen, also Sunna, es gibt auch die Gemeinde und es gibt auch andere Quellen. Wenn wir sagen, dass der Koran vollständig ist und die einzige Quelle ist und das, was nach Mohammed ist, nicht anerkannt ist, ist das falsch, weil Mohammed als letzter Prophet bedeutet, dass wir uns selber damit beschäftigen sollen, unser Leben in Ordnung zu bringen. Das heißt, es gibt viele Sachen, die der Koran nicht mehr lösen kann. Dann müssten andere Quellen einsteigen. Der Koran weist auch auf die Vernunft – das steht wortwörtlich im Koran: Fragt die Wissenden, wenn ihr nicht wisst, was ihr macht.
Das heißt, die Vernunft, dass man auch mitdenkt. Und es gibt einen Prophetenspruch: wenn man sich bemüht, selber eine Lösung zu finden, ohne zu einem Imam zu gehen, oder zu einem Theologen oder Gelehrten. Da wird man zweimal belohnt, wenn man ein positives Ergebnis erzielt. Wenn man ein negatives Ergebnis erzielt hat, wird man trotzdem belohnt, weil er es versucht hat, weil die Absicht zählt, ein guter Mensch zu sein, also mit den Mitmenschen die Ordnung zu schaffen. Von daher, von dem Koran als einzige Quelle zu sprechen, das war nie in der Geschichte des Islam gültig und das wird nie sein.
Achenbach: Das heißt aber, wenn ich das richtig verstanden habe, dass vom Koran aus schon eine Grundlage gelegt ist, die auffordert, Reformtheologie zu betreiben, Herr Khorchide.
Mouhanad Khorchide: Zum Beispiel, wenn der Koran das Judentum kritisiert, dann kritisiert er nicht das Judentum an sich, sondern Elemente im Judentum – gerade diese Elemente, die aus dem Judentum eine Gesetzesreligion gemacht haben. Da sagt der Koran, das sind Fesseln, von denen der Koran den Islam befreien möchte, diese zu vielen Verbote zum Beispiel. So sieht er sich schon als Reformbewegung anderer Traditionen. Und zugleich aber in derselben Tradition weiterhin. Also Mohammed hat nie gesagt: Ich bin gekommen, um hier eine neue Religion zu stiften, sondern er sah sich immer in dieser Tradition. Und um den Islam fortzuführen, müsste man diesen Geist der Reform im Islam selbst weiter behalten und immer wieder den Islam aktualisieren, in dem man hinterfragt, wie kann man den Islam heute übersetzen – in Deutschland sicher anders als in Saudi-Arabien, anders als in Australien. Jeder Kontext braucht Besonderheiten.
Achenbach: Sie haben gerade das Verhältnis zu den Juden angesprochen und das Verhältnis zu den Christen wird erwähnt. Das Verhältnis zu den Schriftreligionen wird besonders hervorgehoben, Herr Güneş.
Güneş: Christentum und Judentum werden im Koran an sich als abstrakte Größe nicht behandelt. Es gibt immer Kritik an vorgefundenen Juden und Christen. Der Koran kritisiert nie eine bestimmte Größe, immer nur bestimmte Verhältnisse. Und da kann es zum Beispiel sehr gut sein, wenn man historische Forschung betreibt, wenn man weiß, wie die Verhältnisse Arabiens im 7. Jahrhundert waren – zum Beispiel. Welche Christen, welche Juden da gelebt haben. Außerdem kann man auch sagen, es kann nicht das Christentum im Islam kritisiert werden, weil zu der Zeit, als der Koran entstanden ist, gab es miteinander konkurrierende Christologien. Also das war noch nicht so wie heute, wie wir das kennen, sondern das war ein Christentum, das selbst in einer gewissen Entwicklungsphase war. Wenn der Koran direkt kritisiert, dann meint er bestimmte Tendenzen.
Achenbach: Tendenzen eines Christentums, wie es wahrscheinlich auch auf der arabischen Halbinsel anzutreffen war.
Güneş: Natürlich. Das kann sein, dass es zum Beispiel eine sehr überhöhte Marienverehrung auf der arabischen Halbinsel gab. Das waren Christen, die ja gerade aus dem Abendland geflohen sind.
Achenbach: Herr Khorchide.
Khorchide: Und interessant ist, wenn von Juden und Christen im Koran im allgemeinen, theologischen Sinn gesprochen wird – nicht auf eine bestimmte Situation bezogen – dann haben wir Beispiel wie in der 2. Sure Vers 62, wo ihnen sogar Heil versprochen wird, wo gesagt wird Muslime, Juden, Christen, die an Gott glauben, Gutes verrichten und an das Jenseits auch glauben, die bekommen ihren Lohn bei Gott und die haben nichts zu befürchten. Als theologische Aussage.
Achenbach: Herr Ammar.
Ammar: Wenn Juden oder Christen kritisiert werden in dem Koran, damit sind nicht die Juden oder Christen von heute gemeint. Es gibt viele Leute, die diese Passage, wenn es um Kritik gegen Juden geht, um Israel zum Beispiel zu kritisieren oder Juden in der Heimat zu kritisieren und, und, und. Manchmal werden diese Passagen ausgenutzt - vor allem unter den Islamisten, um auch manchmal Hass gegen Angehörige anderer Religionen zu streuen.
Achenbach: Herr Rashid, wie schätzen Sie das ein – diese Situation?
Rashid: Ich muss sagen, ich habe mir das jetzt hier so angehört, und das ist alles schönes Gerede und alles auch sehr schön harmonisch. Aber ich finde, das geht doch ein bisschen an der Realität vorbei. Herr Ammar hat das jetzt auch im letzten Satz gesagt. Das wird ja ausgenutzt. Ich meine, das alles – diese hermeneutische Auslegung – das wird vielleicht in Gelehrtenstuben gemacht. Dieser Ansatz ist ja nicht neu. Das muss man ja sagen. Er ist schon alt, aber wozu hat er geführt. Denn man sieht die Realität der islamischen Welt ist anders. Da ist jetzt kein Geistlicher, der auf der Kanzel steht – weder hier in Europa noch in den islamischen Ländern – sagt: Also, liebe Leute, dieser Vers, der ist in einer bestimmten Zeit entstanden und den müsst ihr so und so verstehen und deshalb dürft ihr euch nicht so und so verhalten. Nein. Diese Verse werden ja, und auch gerade die Gewalt hervorhebenden Verse, werden ja genutzt, um auch Muslimen und anders Gläubigen Gewalt anzutun. Also ich finde, das bewegt sich hier, was ich gerade gehört habe, in einem sehr schönen Raum, aber fruchten tun das doch im Grunde eigentlich nichts.
Achenbach: Herr Khochide?
Khorchide: Ja, aus einem Grund. Weil wir die politische Dimension nicht mit aufgenommen haben. Wenn wir heute im Islam im Kontext von Juden sprechen, dann ist der Nahost-Konflikt sehr ausschlaggebend für das Verhältnis zwischen Islam und Judentum. Das war vor ein paar Hundert Jahren in Spanien total anders. Da haben die Juden, als sie geflüchtet sind von Europa, Zuflucht bei Muslimen gefunden. Da war überhaupt keine Spannung, wie wir sie heute haben. Deshalb müssten wir immer ein Bewusstsein dafür haben, wenn wir über Theologie reden, was sagt die Theologie und wo sind die politischen Implikationen in der Lebenswirklichkeit. Wir dürfen nicht, wenn wir von Juden sprechen, nur an Nahost und an die Nahostkrise und die Konflikte dort denken, sondern es geht hier eben um eine Religion und dort geht es um politische Auseinandersetzungen. Das ist auch wichtig, diese Differenzierung zu machen, damit wir nicht an der Realität vorbei reden und sagen, das ist alles schön und gut.
Rashid: Aber Herr Professor Khorchide, Entschuldigung, die machen Sie und ich vielleicht, aber es machen doch viele Tausende Muslime diese Unterscheidung nicht. Es bringt doch nichts, immer davon zu reden, so theoretisch, ja wir müssen unterscheiden, wir müssen differenzieren. De facto findet aber diese Differenzierung vor Ort nicht statt. Also, da frage ich mich, was bringt denn diese hermeneutische Auslegung, wenn sie bei den Menschen gar nicht ankommt.
Khorchide: Wenn wir Imame zum Beispiel so weit ausbilden, dass sie nicht in der Predigt stehen und dann sagen, möge Gott alle Juden verfluchen oder dieses und jenes wegen dem, was jetzt in Palästina oder wo immer geschieht. Wenn wir reflektierte Imame ausbilden, die genau differenzieren und auf der Kanzel sagen, das Judentum ist vom Islam, vom Koran eine anerkannte Religion und das, was dort geschieht, ist etwas Politisches, das hat nichts mit Religionszugehörigkeit zu tun, dann könnten die Imame auch eine aufklärende Rolle spielen, um genau das, was Sie sagen, auch diesem Anspruch zu entsprechen, dass wir von unten auf der Basis eine Veränderung herbeiführen.
Achenbach: Aber gibt es nicht auch den Anspruch in diesem Zusammenhang, dass der Islam die Urreligion ist? Das heißt also, dass man – wenn man nicht zum Islam gehört – im Grunde genommen abgefallen ist. Ich nehme jetzt mal die Juden und die Christen. Sie sind der wahren Religion abgefallen, einen Irrweg gegangen mit ihren Schriften. Bekannt ist auch, dass sie teilweise ihre Schriften gefälscht haben sollen – das steht auch so im Koran – und dass man zu Urreligion zurückkommen muss. Das heißt, es ist hier eigentlich ein Auftrag, den man sich geben kann, als Muslim, ich arbeite dafür, dass alle Menschen wieder zurück zur Urreligion finden. Herr Khorchide.
Khorchide: Das ist wichtig, was sie ansprechen, denn auch viele Muslime berufen sich auf einen koranischen Vers, der lautet: die Religion, die Gültigkeit hat, weil Gott ist der Islam. Allerdings: Was meint dieser Vers, was meint der Islam im Koran? Der Begriff Islam im Koran wird nicht verwendet, wie wir heute den Islam verwenden – im Sinne von dieser Religion, die im 7. Jahrhundert von Mohammed gegründet wurde, sondern Moses wird als Muslim, Noah wird als Muslim, Abraham wird als Muslim im Koran bezeichnet. Sogar die Anhänger Jesu werden im Koran als Muslime bezeichnet. Das bedeutet, der Begriff Islam und Muslim im Koran bezieht sich nicht auf eine bestimmte Religion, sondern ...
Achenbach: ... auf die Anhänger von Monotheismus.
Khorchide: Genau, genau das ist es. Also jeder, der sein Leben auf Gott hin ausrichtet, ist ein Muslim. Das meint der Koran damit. Und somit haben wir eine ganz breite Basis laut dem Koran, viele Menschen aufzunehmen und zu sagen, der Koran nimmt all diese Menschen, die Monotheisten auf.
Rashid Das hat ja schon der gute Goethe erfasst, indem er gesagt hat, wenn Islam Gott-ergeben heißt, im Islam leben und sterben wir alle.
Güneş: Dem kann ich nur beipflichten. So wie es da verstanden wird, ist es nicht die Bezeichnung einer Religionsgemeinschaft, sondern eine gewisse gesittete Grundhaltung, die im Zentrum Gott hat. So gesehen waren die früheren Propheten Muslime in dem Sinne und nicht in dem Sinne, wie wir es dann heute kennen als organisierte Religion.
Achenbach: Also ein Leben in Übereinstimmung – würde ich jetzt verstehen – mit dem, was wir theologisch als allgemeine Prinzipien genannt haben, die sozusagen zum Streben nach Vollkommenheit dazugehören.
Khorchide: Definitiv.
Güneş: So könnte man das umschreiben.
Ammar: Im Islam ist wichtig Muslim zu sein, als gläubig zu sein. Weil, es gibt viele Leute, die würden sagen, ich glaube an Gott, an die Propheten, die alten Bücher und ich glaube auch an Engel. Aber wenn man sein Verhalten sieht, das widerspricht sich.
Achenbach: Also reduziert auf Glaubensbekenntnisse.
Ammar: Ganz genau. Wenn man lügt, wenn man betrügt, wenn man Korruption bezahlt, wenn ein Land diktatorisch beherrscht, wenn man sogar der Natur schadet und wenn man den Insekten, den Tieren schadet und sie nicht respektiert, das ist ein Widerspruch. Bei jedem könnte es sein, dass er gläubig ist, aber nicht jeder kann beweisen, ein guter Mensch zu sein. Und es gibt auch Atheisten – sie glauben nicht an Gott – aber sie können sie korrekt und gut benehmen, bei denen man manchmal sagen kann, wären doch die Gläubigen wie diese Atheisten, das heißt, weil sie eine Ethik und Moral haben.
Rashid: Das ist ja das, was Mouhanad Khorchide in seinem Buch "Islam ist Barmherzigkeit" in einem Kapitel herausgearbeitet hat, dass er sagt, nicht nur Muslime, sondern Juden, Christen und auch Nicht-Gläubige können der Barmherzigkeit Gottes teilhaftig werden, weil sie auch Muslime sind. Und das hat ja eine große Diskussion in der muslimischen Community hier in Deutschland hervorgerufen. Es ging so weit, dass er von einigen Verbandsvertretern aufgefordert wurde, Buße abzulegen, was auch sehr zweifelhaft ist, ob man das einfordern kann. Weil Muslime damit Schwierigkeiten haben, Anders-Gläubige und auch Nicht-Gläubige als Muslime zu bezeichnen.
Achenbach: Wenn man zum Beispiel davon ausgeht, dass es Menschen gibt, die die Information nicht haben – das heißt, die überhaupt nicht wissen, was der Islam ist, die den Koran nicht kennen, und dann stellt man fest, es gibt eine Übereinstimmung in ihrer Lebenshaltung. Das haben Sie doch in etwa gemeint, Herr Khorchide.
Khorchide: Vor allem nach der islamischen Vorstellung wird jeder als Muslim geboren, im Sinne von jeder ist veranlagt, sein Leben auf Gott hin auszurichten, bis er sich bewusst dagegen stellt und sagt, ich aus Überzeugung stelle ich mich dagegen. Aber was ist mit den Abermillionen Menschen hier zum Beispiel in Deutschland, die eben nichts vom Islam oder auch nur ein verzerrtes Bild vom Islam wahrgenommen haben, aber eben in ihrer Handlung, in ihrer Lebensführung ihr Leben doch auf das Gute, auf das absolut Liebende, auf das absolut Barmherzige ausgerichtet haben? Sprich, hätte man ihnen dann von diesem barmherzigen, lieben Gott, so wie Gott sich vorgestellt hat im Koran, erzählt, hätten sie wohlmöglich nichts dagegen – wir haben es gerade gehört, was Goethe auch dazu gesagt hat– nichts dagegen gehabt, sich auch als Muslime zu sehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.