Hans Werner Richter: "Was die Gruppe 47 ist? Ein Freundeskreis!"
Hans Werner Richter war der Gründungsvater. Freundeskreis war eine Untertreibung, denn die Gruppe 47 wurde zur einflussreichsten deutschsprachigen Schriftstellervereinigung der Nachkriegszeit. Und sie prägte den Literaturbetrieb und damit die Kultur der Bundesrepublik Deutschland entscheidend mit. Richter war Initiator und "graue Eminenz", denn er allein lud zu den Jahrestagungen der Gruppe 47 ein, wie sich der Schriftsteller Jürgen Becker erinnerte:
"Es war wie, wenn Sepp Herberger einen in die Nationalmannschaft beruft. Als junger Autor, so kam einem das vor."
Schnittstelle zwischen Markt, Kunst und Politik
Die bekanntesten deutschsprachigen Autoren debütierten vor der Gruppe 47: Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Martin Walser, Siegfried Lenz, Peter Handke. Autorinnen? Fehlanzeige. Die Gruppe 47 war überwiegend ein Männerverein mit Damenbegleitung. Rasch entwickelte sich die Schriftstellervereinigung zur Schnittstelle zwischen Markt, Kunst und Politik, so Heinz Friedrich, Gründungsmitglied und ehemaliger Leiter des Deutschen Taschenbuch Verlages:
"Diese Autoren, die sich hier trafen, die brauchten eine Basis, von der sie sich bemerkbar machen konnten. Und der Hans Werner Richter in seiner genialen und zugleich burschikosen und kameradschaftlichen Art hat uns umarmt und gesagt: Kommt, ich gebe euch diese Basis, hier könnt ihr euch bemerkbar machen."
Einladung per Postkarte
Man traf sich zweimal im Jahr – meisten in der tiefsten Provinz, aber die Tagungen wurden geschickt inszeniert und öffentlich ins Gespräch gebracht. Und immer war es Hans Werner Richter, der per Postkarte die Gruppe einberief:
"In seinem Auftreten war er ja ein liebenswerter, aufgeklärter Despot."
Literaturnobelpreisträger Günter Grass kam 1955 zur Gruppe 47: "Das was er von oben herab sagte, das war die Regel, so hatte das abzulaufen. Es gab keine Grundsatzdiskussionen."
Während der mehrtägigen Treffen saßen Lyriker neben Romanciers, bekannte neben unbekannten Schriftstellern, Verleger neben Rundfunkredakteuren. Die Gruppe 47 wurde zum Handelsplatz, zur Literaturbörse. Hier entstanden Bücher und Karrieren.
Keine Integration von Literaten der älteren Generation
Oft wurde der Gruppe 47 Meinungsterror vorgeworfen, ihre Vorstellungen von Literatur seien konservativ, die Exilautoren der NS-Zeit wie Thomas Mann, Alfred Döblin oder Bertolt Brecht nicht erwünscht gewesen. Die wenigen politischen Statements, die sie unter anderem gegen Atomwaffen und gegen den Axel-Springer-Konzern richteten, waren den einen viel zu weit links, den anderen gingen sie nicht weit genug. Roland H. Wiegenstein, über Jahre hinweg der Gruppe als Kritiker verbunden, beschrieb ihre Defizite folgendermaßen:
"Ich denke, eine Schwierigkeit, die Gruppe sehr früh hatte und an der sie in den 60er-Jahren noch, nennen wir es einmal gelitten hat, war die, die das begonnen hatten, eben diese Kriegsgeneration, einfach aus schierer erzwungener Unkenntnis, es nicht geschafft haben, erst nicht versucht und dann später nicht geschafft haben, Literaten der älteren Generation, die emigriert waren, wirklich in die Gruppe zu integrieren."
Zur letzten Tagung, 1967 in Erlangen, erschienen Studenten vom Sozialistischen Studentenbund. In ihren Augen war die Gruppe 47 ein bürgerliches Relikt, ihre Mitglieder würden in einem gut gepolsterten Elfenbeinturm sitzen:
"Die Gruppe 47 ist ein Papiertiger!"
So ungeplant, wie die Gruppe 47 entstanden war, so unspektakulär löste sie sich wieder auf: Hans Werner Richter verschickte einfach keine Einladungskarten mehr.