Ein klares kühles Licht liegt über dem See. An der Promenade, dem Malecón werden Regenmäntel und Ponchos verkauft. Das Wetter ist regnerisch und windig. Auch wenn häufig die Sonne zwischen den Wolken auftaucht, erinnert hier nur wenig an karibische Postkartenmotive.
In den kleinen engen Gassen, mit den pittoresken bunten Häusern wirkt Guatapé dagegen wie ein Kolumbien aus dem Bilderbuch. Handbemalte Keramiken schmücken die Hausfassaden. In den kleinen Gassen findet man kleine Läden mit Andenken und Kunsthandwerk. In einem der kleinen bunten Häuschen in der Innenstadt hat José Bermudez mit seiner Frau eine Schokoladenmanufaktur eröffnet: " Ja, die Leute in Bogota sagten, die sind verrückt, eine Schokoladenmanufaktur in so einem kleinen Dörfchen aufzumachen, aber hier gibt es sehr viele Touristen und ich glaube, dass man gute Schokolade auch in den entlegensten Ecken der Welt zu schätzen weiß."
So etwa der alte Herr mit weißem Bart und blitzenden Augen, der ganz offensichtlich die heiße Schokolade genießt. Der Schauspieler Gustavo Angarita besucht den Stausee zum ersten Mal, gemeinsam mit seinem Sohn, der ebenfalls Gustavo heißt, und auch als Schauspieler in Kolumbien sehr bekannt ist. "Das Dorf ist völlig anders als alle Dörfer, die ich vorher kennengelernt habe. Es ist so wie sich ein Kind, ein kolumbianisches Bilderbuchdorf vorstellt. Ich bin selbst auch Maler, ich benutze ähnliche Farben, diese leuchtenden dekorativen Farben."
Eine besondere Attraktion ist der Peñon
Für seinen Sohn Gustavo hat die ganze Region Antioquía einen wilden Charme, ist so etwas wie der "Wilden Westen" Kolumbiens: "Diese Gegend verkörpert diesen unabhängigen, wilden Charakter Kolumbiens. Tatkräftig, erdverbunden, die Nachfahren der Siedler, die hier eine Region urbar machten, die die spanischen Konquistadoren niemals betreten haben."
Heute wird im Dorf gefeiert. Schon am Mittag beginnt die Musik auf dem Hauptplatz mit seiner überdachten Bühne. Wie an jedem Wochenende ist das kleine Städtchen mit seinen etwas über 5.000 Einwohnern, voller Touristen, meist Kolumbianer aus den Großstädten Medellin und Bogota. Noch vor Jahrzehnten lag das Dorf Guatapé in den Bergen, und die Bevölkerung ernährte sich nur mühsam von den kargen Früchten der Landwirtschaft, erzählt Don Mariano, ein älterer Herr mit einem dunklen Filzhut. Ihm gehören zwei, der insgesamt 42 Hotels im Dorf. "Mit dem Stausee wurde alles besser. Heute kommen sehr viele Touristen. Vor dreißig Jahren gab es hier noch nichts, heute erkennt man Guatapé nicht mehr wieder. Das Dorf ist wunderschön geworden, viele neue Bewohner sind hinzugekommen, haben Häuser und Wohnungen gekauft. Die Atmosphäre hier ist sehr angenehm. "
Eine besondere Attraktion ist der Peñon, der hohe abgerundeten schwarze Felsen, der an den Zuckerhut von Rio de Janeiro erinnert. Der 220 Meter hohe freistehende Monolith liegt etwa fünf Kilometer vom Dorf entfernt. Am schnellsten kommt man mit den dreirädrigen überdachten Motorrädern hin. Sie werden "Chivas", Ziegen, genannt. Der Motor knattert, ein undefinierbarer Geruch von Zweitaktbenzin und altem Eisen dringt unter die Plane der Fahrgastkabine.
Kleine Inseln und Halbinseln mit Ferienhäusern, Villen
Auf den ersten Blick sieht es aus, als wäre der große schwarze Felsen vom Fuß bis zur Spitze mit grobem weißen Garn genäht. Aber es sind die Geländer der ineinander geschlungenen steilen Treppen die zum Mirador, dem Aussichtspunkt, führen. Der Aufstieg führt in eine breite Felsspalte, fast in das Innere des schwarzen Steins. Dabei sind die Treppen für den Auf- und Abstieg auf architektonisch eigenartige Weise, ineinander verschlungen, verwinkelt und doch voneinander getrennt. Mal führen die 650 schmalen Stufen ins Innere des Felsens, dann wieder nach Außen mit beeindruckendem Panoramablick auf die einzigartige Landschaft. Oben am Aussichtspunkt weht ein starker Wind. Bier wird verkauft, Kaffee, giftgrüne Erfrischungsgetränke und Andenken. Nebelschwaden treiben am Berg entlang. "El Peñon", ist der Legende nach ein Meteorit, der hier vor Urzeiten niedergegangen sein soll. Magische Kräfte werden ihm nachgesagt, erzählt Emilio, der hier oben Getränke verkauft: "Ich habe gehört, es sei ein Meteorit. Es gibt hier in der Gegend einige solcher schwarzer Felsen, die sind zwar nicht so groß, aber in Farbe und Form sehr ähnlich. Unter der Erde sind sie noch viel größer, als das, was man an der Oberfläche sieht."
Einen Moment kommt die Sonne heraus. Von oben hat man einen wunderbaren Blick auf die beeindruckende Seenlandschaft. Der Stausee ist einer der größten auf dem lateinamerikanischen Subkontinent. Überall ragen kleine Inseln und Halbinseln mit Ferienhäusern, Villen und kleinen Palästen auf. Diese Inselchen waren früher Berggipfel.
Die Villa von Pablo Escobar als Attraktion
Das "Meer Antioquias" wird der Stausee von den Einheimischen genannt. Kleine Motorboote, die lanchas, fahren auf den See hinaus. Mit zwölf Passagieren kann es eng werden. Man rückt plötzlich schnell zusammen, weil das Wasser ins Boot hineinspritzt, oder es einfach anfängt zu regnen. Auf einem Inselchen liegt eine ausgebrannte Villa. Es war das Haus, in dem Pablo Escobar, der berüchtigte und legendäre Drogenchef seine prominenten Gäste unterbrachte. Schon 1991 hatte das konkurrierende Kali Kartell dieses Gästehaus durch eine Bombe fast völlig ausbrennen lassen, zwei Jahre bevor Pablo Escobar selbst 1993 bei einem Polizeieinsatz auf den Dächern Medellins erschossen wurde. Bis heute ist der berüchtigte Drogenhändler für viele Menschen in der Region noch ein Idol erzählt der Bootsführer.
"Das Haupthaus sehen wir da oben, da wo die Nebengebäude stehen, hatten sie sogar Korkbäume aus Europa gepflanzt. Er hatte hier für das Haus 35 Arbeiter angestellt, von denen sich jeder um eine Sache kümmerte, der eine um die Pflanzen, der andere hielt die Wege in Ordnung, wieder einer die Säulen aus poliertem Stein. Ich fahre mal etwas näher ran."
Auch andere Inselchen haben respektable Herrenhäuser, eines sogar ein Hotel. Manche zeugen aber auch von Fehlspekulationen und unvorhergesehenen finanziellen Zusammenbrüchen, wie etwa eine kahle Insel, auf der nur drei Holzhütten stehen.
Ein altes Dorf auf dem dem Grunde des Stausees
Mitten im See ist plötzlich eine eigenartige Boje in Kreuzform zu sehen. Sie erinnert an den Turm der Dorfkirche von El Peñol. Die Reste des alten Dorfes liegen auf dem dem Grunde des Stausees. Einzig ein Haus ist übrig geblieben. Es ist 230 Jahre alt, lag früher auf dem Berghang über dem Dorf und gehörte dem Doktor Demetrio, einem aufgeklärten Lebemann. Heute ist es ein privates Museum, das über den Hausherrn, die Geschichte des Dorfs und die Opfer des Stausees informiert. Am Eingang steht eine lebensgroße Figur im eleganten Smoking, die Vergrößerung einer alten Schwarz-Weiß-Fotografie.
"Der elegante Herr, den Sie hier sehen ist Doktor Demetrio Galeano Jácome. Er studierte Medizin in Bogota und Medellin. Er war so unabhängig, dass er den Eid des Hippokrates verweigerte und sagte, ein freier Geist müsse niemandem schwören. Aber er praktizierte auch ohne ärztliche Zulassung, behandelte die Bewohner der ärmeren Viertel gratis und schenkte ihnen Medikamente. Hier in diesem Haus lebte er mit seiner Frau und seinen zwölf Kindern, sechs Mädchen und sechs Jungen. Aber dem Dorfklatsch zufolge hatte er mindestens 36 Kinder. Er war der reichste Mann im Dorf, seine ganzen Grundtücke und Ländereien liegen heute unter dem Wasser."
Geschichte einer längst versunkenen kleinen Welt
Den Stausee, der das Wasser so angenehm an die Mauern seines Hauses plätschern lässt, hat Doktor Demetrio nicht mehr erlebt. 1965 wurde er in einer dunklen Nacht vor seinem Hauseingang erschossen, mit 82 Jahren, 1965, vermutlich von einem eifersüchtigen Ehemann oder im Auftrag eines seiner gekränkten illegitimen Kinder. Und nicht einmal nach dem Tode in seinem Grab, direkt an seinem Haus, fand er Frieden erzählt Professor Carlos, ein schmächtiger kleiner Mann mit einer großen Narbe im Gesicht:
"Im vergangenen Jahr drangen irgendwelche Typen, von denen wir nicht wissen ob es Satanisten, oder randalierende Schatzsucher waren, ein, sie beschmierten die Grabplatte und raubten seine sterblichen Reste, nur ein paar Zähne liessen sie zurück."
Auch die Dorfbewohner fanden keinen Frieden. Sepiafarbene Fotos an den Wänden des großen Hauses erzählen die Geschichte einer längst versunkenen kleinen Welt. Sie zeigen die Entstehung des Stausees, die halb überfluteter Kirche, Straßen schon halb vom Wasser bedeckt. Zehn Jahre dauerte es bis der Rio Nare den Stausee endlich gefüllt hatte. Die Planungen für die große Staustufe nahmen Anfang der 1970er-Jahre keine besondere Rücksicht auf die Dorfbewohner. Den Bewohnern wurde eine lächerliche Entschädigung gewährt, 22 alte Menschen blieben auch angesichts des steigenden Wassers in ihren zerstörten Häusern und starben dort. Auf einem Foto sind die Maultierführer zu sehen. Zahlreiche Särge sind aufeinandergestapelt.
Die alten Einwohner zogen in die Elendsquartiere
"Die staatliche Baufirma wollte den Friedhof mit den Toten einfach überfluten. Aber da begannen die Leute zu protestieren, hier liegen meine Mutter, meine Großmutter, meine Tochter. Wie kann man so etwas überfluten? Nein, gehen wir mit dem Priester, holen die Gebeine aus der Erde und bringen sie zu einem neuen Friedhof. 1156 Körper wurden aus der Erde geholt." Aber, so erzählt Carlos weiter, in dem neuen Dorf, das am Fuße des schwarzen Felsens entstand, gab es für die alten Einwohner kaum Platz. Mit ihrer geringen Entschädigung konnten sie sich die neuen Häuser nicht mehr leisten und zogen in die Elendsquartiere Medellins oder anderer großer Städte Kolumbiens. Aber das, ergänzt Javier, einer der Mitbetreiber des Museums, sei nicht das einzige Manko des neuentstandenen Dorfes:
"Sie bauten das neue Dorf ohne einen zentralen Platz in der Mitte, damit die Einwohner keinen Platz hatten, wo sie sich etwa versammeln konnten, um weiter zu protestieren. "El Peñol" ist vielleicht das einzige Dorf in Antioquia oder in ganz Kolumbien, das keinen Dorfplatz hat."
Der Bürgerkrieg kam auch in dieses Gebiet
In den nachfolgenden Jahrzehnten tobten auch um den Stausee herum die gewalttätigen Auseinandersetzungen, die ganz Kolumbien erschüttern. Vom Krieg der Drogenbarone in den späten 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre, blieb die Region fast unbehelligt, denn der fand überwiegend in den Großstädten statt. Viele Drogenhändler der großen Kartelle hatten ihre familiären Wurzeln im ländlichen Raum und vermieden es daher, die blutigen Auseinandersetzungen auf die Dörfer zu verlagern.
Die brutale Gewalt brach erst mit dem Bürgerkrieg zwischen der kommunistischen FARC Guerilla auf der einen und den Paramilitärs und den Regierungstruppen auf der anderen Seite aus. Die Bevölkerung ganzer Dörfer wurde umgebracht und in Guatapé war über mehrere Jahre hinweg Militär stationiert, weil die Guerilla wiederholt versuchte, die Staumauern zu erobern, um die Elektrizitätsversorgung lahmzulegen.
All das ist jetzt Geschichte. Kolumbien befindet sich im Friedensprozess, aber die Vergangenheit kommt in teils grausamen, teils grotesken Geschichten immer wieder zurück, sagt der Schauspieler Gustavo Antonio Angarita: "Heute ist das alles ein glücklicher Ferienort. Man kann mit Booten auf den See hinaus fahren, fischen, es gibt schöne Hotels. Das zerbombte Haus von Pablo Escobar ist eine Touristenattraktion, es ist ein Stück unserer blutigen Auseinandersetzung. Diese Region wird einfach auch von diesen ganzen dunklen Geschichten geprägt, was von der Geschichte bleibt, sind Legenden. Wir neigen in Kolumbien manchmal zu einer gewissen Heuchelei, man möge die Vergangenheit doch einfach vergessen. So ein Stausee ist eine schöne Metapher. Man kann alles mit Wasser bedecken, aber am Ende kommt immer wieder alles an die Oberfläche zurück."