"Die Gülen-Bewegung - Was sie ist, was sie will." Wer wüsste genau das nicht gern, in Zeiten, in denen das nach dem Prediger Fethullah Gülen benannte Netzwerk fast täglich durch die Medien geistert, dabei aber regelmäßig mit Attributen wie "umstritten" oder gar "mysteriös" belegt wird?!
Der Herder-Verlag hat die Verwirrung erkannt und verspricht auf seiner Website "Ein wichtiges Buch zu einem brennend aktuellen Thema - von einem echten Insider". Thema und Timing sind tatsächlich perfekt. Der Insider aber - das sollte man sich vor der Lektüre klarmachen - ist Ercan Karakoyun, Vorsitzender der Stiftung Bildung und Dialog, also der deutschen Repräsentanz Gülen-Bewegung.
Eine Verteidigungs- und Werbeschrift für Hizmet
Wenig überraschend also, dass das 224 Seiten umfassende Werk oft an eine Verteidigungs-, dann wieder eine Werbeschrift für Hizmet - wie sich die Anhänger der Bewegung selbst nennen - erinnert. Gleich zu Anfang beschreibt Autor Karakoyun ausführlichst den Bildungsansatz Hizmets, der inzwischen auch in Deutschland für seinen Erfolg bekannt ist, Kinder mit Migrationshintergrund zum Abitur zu führen.
"Wir bauen keine Moscheen. Wir bauen Schulen. Denn wahrer Glaube kann nur entstehen, wenn man weiß, was man tut, und warum. […] Muslime, die der Hizmet-Bewegung nahe stehen, haben weltweit mehr als tausend Schulen gegründet, anfangs nur in der Türkei, später in über hundert anderen Ländern. Für uns sind Mann und Frau gleichgestellt, ist Demokratie mit dem Islam vereinbar und Toleranz gegenüber Menschen anderer Glaubensrichtungen essenziell für den Frieden in jeder Gesellschaft."
Mindestens ebenso erhellend wie seine Berichte zum Bildungsengagement sind Karakoyuns Einschätzungen zur deutschen Gesellschaft insgesamt. Zum Miteinander - oder eben auch Nicht-Miteinander - von Muslimen und Nichtmuslimen in Deutschland vor allem seit dem 11. September 2001.
"Noch Anfang des Jahrtausends meinten viele Muslime, man solle sich lieber ruhig verhalten. Fünfzehn Jahre später wissen wir: Das nützt auch nichts! Im Gegenteil. Indem wir stillhielten, überließen wir anderen die Kommunikation und so kam es zu dem, was der Islamwissenschaftler Aziz al-Azmeh eine 'Islamisierung des Islam' nannte. Was er meinte: Der Westen konstruiert sich seinen eigenen Islam. Und der ist so fremd wie einheitlich. […] Statt der lebendigen friedlichen Vielfalt, für die der Islam in Wirklichkeit steht, dominiert das Image einer gewalttätigen grausamen Ideologie".
Viele Aha-Effekte für nichtmuslimische Leser
Ercan Karakoyun - als Student Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung und Vorsitzender der Jusos in Dortmund - ist intelligent und eloquent. Sein Buch steckt voller Daten und Informationen, liest sich dabei jedoch leicht wie ein Roman. Gerade dem nichtmuslimischen Leser beschert es unzählige Aha-Effekte, so zum Beispiel im eingeschobenen Kapitel "Eine zeitgenössische Koraninterpretation", das man am liebsten zur Pflichtlektüre an deutschen Gymnasien erklären würde. Vor allem aber: Bei allen Vorwürfen an die deutsche Mehrheitsgesellschaft wird Karakoyun nie bitter, nie plump anklagend, sondern bleibt immer konstruktiv - oft auch humorvoll.
"Sage ich meinen Namen, stockt mein Gegenüber. Ob ich Deutsch spreche? Nach ein paar Sätzen Erleichterung. Aber ob ich gebildet bin? Sage ich ein paar Nebensätze und Fremdworte, ernte ich Staunen. Aber ob… Es geht immer weiter, jede Begegnung mit einem Deutsch-Deutschen gleicht einem Verhör und mündet unweigerlich in die Feststellung, dass ich eben doch anders bin."
Man möchte dieses sympathische Buch so gern an diesem Punkt auf sich beruhen lassen, einfach nur das Gute betrachten, das die Hizmet-Bewegung in den letzten Jahren zweifelsohne vor allem im deutschen Bildungssektor geleistet hat… Dann aber müsste man die Gerüchte und Vorfälle, die sich in ihrem Mutterland Türkei um sie ranken, ausblenden. Schade, dass Ercan Karakoyun gerade hier kaum Antworten liefert.
Auch, wenn die politische Situation in der Türkei und die Person Erdogans ausführlich beleuchtet werden. Es bleiben Zweifel, wie es zur immer wieder erwähnten Demokratieliebe des geistigen Führers Fethullah Gülen passt, dass er und seine Anhänger die AKP jahrelang offen unterstützten, die doch schon lange vor den berühmten Gezi-Protesten vom demokratischen Weg abgekommen war.
Gülen-Vertreter saßen an Schaltstellen
Jeder Türkei-Beobachter erinnert sich auch daran, als im Dezember 2013 im Internet Mitschnitte von Telefongesprächen Erdogan-naher Politiker auftauchten, die einen riesigen Korruptionsskandal in der AKP offenlegten. Der Vorfall bewies nicht nur die Korrumpierbarkeit der Regierungspartei, sondern auch, dass überall im Sicherheitsapparat Gülen-Leute saßen, die nun wie auf Kommando ihre Macht ausspielten und über Jahre gesammeltes Material preisgaben. Wäre ihnen wirklich an Aufklärung und nicht an Rache gelegen gewesen, hätten Sie die Öffentlichkeit dann nicht lange vorher von ihrem Wissen unterrichten müssen?
Dass die Gülen-Anhänger in den letzten Jahren zum inzwischen brutal verfolgten Erdogan-Gegner wurden, hat ihnen im Westen viel Sympathie eingebracht. Aber Ercan Karakoyuns Versuch, sie allein durch diese Gegnerschaft als "die Guten" darzustellen, wirkt unbefriedigend. Denn jeder in der Türkei weiß: Kritik an dem Netzwerk kommt auch von Gegnern der AKP, wie dem Investigativ Journalisten Nedim Sener, der im Oktober 2016 in einem wütenden ZEIT-Artikel schrieb: "Wir in der Türkei wissen, dass sowohl Gülen persönlich wie auch Polizisten, Staatsanwälte, Richter und Journalisten, die seiner Organisation angehören, seit Jahren die Türkei mit einem Sturm von Lügen und Verleumdungen überziehen… Ich weiß, wovon ich rede, denn ich war selbst eines ihrer Opfer[...] Mir wurde wegen meiner Recherchen über das Gülen-Netzwerk ein Prozess gemacht, der immer noch andauert. Dahinter steckten Gülen-treue Ermittler."
Nein, nach demokratischen Methoden klingt vieles von dem, was Gülen-Anhänger sich in den letzten Jahren am Bosporus geleistet haben sollen, nicht. Umso wichtiger, dass Ercan Karakoyun immer wieder die Verfassungstreue der in Deutschland Engagierten betont. Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln. Die Islamismus- oder Sektenvorwürfe einzelner Journalisten wirken an den Haaren herbeigezogen. Aber solange die Vorwürfe gegen den türkischen Arm der Bewegung nicht überzeugend entkräftet sind, müssen sich wohl auch ihre deutschen Vertreter weiter Fragen gefallen lassen.
Fazit: Ercan Karakoyun hat ein lesenswertes, anregendes Buch geschrieben, auch wenn Herders vielversprechender Klappentext nicht ganz eingehalten wird: Das Gefühl zu wissen, "was die Gülen-Bewegung wirklich ist", hat man auch nach dieser Lektüre nicht. Eine kontroverse Beleuchtung durch Insider UND Kritiker, fehlt auf dem deutschen Buchmarkt weiter.
Ercan Karakoyun "Die Gülen-Bewegung. Was sie ist, was sie will"
Herder Verlag, 224 Seiten, 19,99 Euro
Herder Verlag, 224 Seiten, 19,99 Euro