Archiv

Gülen gegen Erdogan
Die Türken verstehen ihr Land nicht mehr

In der Türkei ist scheinbar nichts mehr, wie es einmal war. Die politische Frontlinie im Land verläuft derzeit nicht zwischen säkularen und religiösen Bürgern. Jetzt stehen sich innerhalb des religiös-konservativen Lagers Ministerpräsident Erdogan und der Prediger Gülen gegenüber.

Von Luise Sammann |
    Zwei junge Frauen halten bei einer Anti-Regierungsdemo in Ankara Plakate mit dem Konterfei des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan und des islamistischen Predigers Gülen.
    Anti-Regierungsproteste in Ankara, auf den Plakaten Ministerpräsident Erdogan und Prediger Gülen, die einst Partner waren. (picture alliance / dpa/ Ulas Yunus Tosun)
    Es geht hektisch zu, wenn in Üsküdar der Muezzin zum Freitagsgebet ruft. 45 Moscheen stehen den Gläubigen des quirlig bunten Viertels auf der asiatischen Seite Istanbuls zur Verfügung. Oft reicht der Platz dennoch nicht aus. Wer zu spät kommt, rollt seinen Teppich draußen auf dem Bürgersteig aus.
    Doch nicht nur die Zahl der Moscheen, auch die der Kopftücher und langen Bärte in den Straßen Üsküdars spricht für sich: Vor allem gläubige Menschen wie Ministerpräsident Erdogan höchstpersönlich leben in der Umgebung. 49, 5 Prozent der Stimmen bekam die regierende AK-Partei hier bei den letzten Parlamentswahlen.
    Und so war es vielleicht eine Belohnung für diese Treue, dass der berühmte Marmaray-Tunnel, der seit dem vergangenen Jahr die asiatische mit der europäischen Seite Istanbuls verbindet, ausgerechnet hier seine Station hat.
    "Dieser Tunnel macht uns stolz. Richtig, dass sie ihn ein Jahrhundertprojekt nennen, schon unsere Großväter träumten davon. Jetzt wurde der Traum mit viel Arbeit verwirklicht und ich danke denen, die das geschafft haben."
    Dank und Stolz. Wer heute nach Üsküdar kommt, in einer Zeit, in der selbst Ministersöhne im Gefängnis sitzen, weil sie und ihre Väter Bestechungsgelder in Millionenhöhe angenommen haben, der könnte Enttäuschung erwarten. Menschen, die Erdogan und seiner AK-Partei seit über einem Jahrzehnt die Treue hielten, ihre Aufrichtigkeit lobten, müssten nun schockiert sein. Doch sie sind es nicht.
    AKP-Anhänger Salim glaubt an Erdogan
    In einem belebten Café sitzt der 33-jährige AKP-Anhänger Salim. Auch er hat den Blick auf ein überdimensionales Erdogan-Porträt gerichtet. Eines, das erst seit einigen Tagen die ganze Stadt ziert. "Saglam irade – Starker Wille", steht in weißer Schrift neben dem entschlossenen Gesicht des Ministerpräsidenten. Starker Wille, sonst nichts. "Mehr brauchen wir auch nicht um diese Krise zu meistern", findet Salim. Die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung? Die Videos, die die Übergabe von Bestechungsgeldern in Millionenhöhe beweisen? Salim verzieht den Mund zu einem spöttischen Grinsen.
    Recep Tayyip Erdogan
    Recep Tayyip Erdogan (dpa / picture alliance / Sergey Guneev)
    "Wenn es überhaupt irgendeine Form von Korruption gibt, dann höchstens in ganz kleinem Rahmen. Sogenannte Beweise kann schließlich jeder am Computer fälschen. Meine Meinung wird das jedenfalls nicht beeinflussen. Man muss das Gesamtbild betrachten, all das, was die AKP für dieses Land getan hat."
    Gefälschte Beweise, ein Spiel von ausländischen Kräften, die der Türkei ihren wirtschaftlichen Aufstieg nicht gönnen. Es sind die Worte Erdogans, die Salim in diesen Tagen jeden Tag im Fernsehen hört und jetzt wiedergibt. Wieder einmal hat der mächtige Ministerpräsident es geschafft, vom eigentlichen Thema – der Bestechlichkeit seiner Regierung – abzulenken und stattdessen das Drohgespenst eines ausländischen Komplotts gegen die Türkei heraufzubeschwören. Es ist die gleiche Taktik, die ihm während der Gezi-Proteste vor gut einem halben Jahr half, seine Anhänger an sich zu binden. Und wieder scheint sie aufzugehen.
    "Ich glaube, das ganze ist ein Spiel, um die bevorstehenden Wahlen zu beeinflussen. Der Zeitpunkt so kurz vorher spricht doch für sich. Wenn man sich die ganze Sache so anschaut, wird klar, dass hinter den Korruptionsvorwürfen ein ganz anderes Ziel steckt. Aber wir werden das nicht zulassen. Vielleicht wird die AKP ein paar Stimmen verlieren, aber gewinnen wird sie trotzdem!"
    Salim ballt die Faust, während er spricht. Die Kräfte, die Erdogan im Gezi-Park schaden wollten, haben es nicht geschafft. Und sie werden es auch diesmal nicht schaffen, ist er überzeugt.
    Erdogan und Gülen bekämpfen sich neuerdings
    Alles beim Alten in der Türkei, könnte denken, wer Salim und andere Erdogan-Anhänger reden hört. Doch tatsächlich ist nichts, wie es einmal war. Das alte Schwarz-Weiß-Schema, nach dem das Land seit Jahrzehnten funktionierte, ist ins Wanken geraten. Jetzt sind es nicht mehr säkulare und religiöse Türken, die sich bekämpfen. Zum ersten Mal verläuft die Frontlinie innerhalb des religiös-konservativen Lagers: Erdogan und Gülen, der 73-jährige Prediger aus den USA, bekriegen sich offen.
    Selbst Salim muss zugeben, dass er nicht mehr genau versteht, wer inzwischen auf wessen Seite steht:
    "Ich war nie Mitglied der Gülen-Bewegung, aber sie war mir sympathisch. Weil ich glaubte, dass sie der Gesellschaft dienen und bei der Erziehung der Jugend helfen würde. Aber jetzt?"
    Wer gehört zu wem? Wer sind jetzt die Bösen, wer sind die Guten? Jahrelang waren die Allianzen in der Türkei klar: Erdogan und Gülen gehörten zusammen, bekämpften gemeinsam die säkularen Eliten, die seit Atatürks Zeiten das Sagen im Land gehabt hatten. Gülen sicherte Erdogan die Wählerstimmen seiner Anhänger, der wiederum versorgte ihn mit Macht. Wer den Prediger und sein mächtiges Netzwerk kritisierte, machte sich damit automatisch auch den Ministerpräsidenten zum Feind.
    Einer, der das schmerzlich zu Spüren bekam, ist der Journalist und Medienwissenschaftler Ahmet Şık. Für sein Buch "Armee des Imams", in dem er die Unterwanderung des türkischen Staates durch die Gülen-Bewegung beschreibt, verschwand er 2011 für ein Jahr im Gefängnis. Das Manuskript wurde noch vor seiner Veröffentlichung beschlagnahmt.
    "Was die AKP und Gülen zu Partnern machte, war eine Erklärung des Militärs im Jahr 2007, die Erdogan zeigte, dass man seine Partei schließen und ihn aus der Politik entfernen wollte", erklärt der Autor in seinem Büro an der privaten Istanbuler Bilgi-Universität.
    "Mit der Macht der Gülen-Bewegung und damit auch der Justiz begann er deshalb, die Armee zu entmachten. Es war ein Zusammenschluss für eine neue Türkei – bei dem ein Unrechtssystem durch ein anderes ersetzt wurde. Wenn die Regierung heute über die Macht Gülens klagt, hat sie nicht unrecht. Aber sie selbst hat es soweit gebracht, sie wollte es so!"
    Journalist Ahmet Şık sah den Bruch mit der Gülen-Bewegung kommen
    Als einer der wenigen sah Şık den Bruch zwischen den einstigen Partnern kommen. Zu direkt, so glaubt er, hatte der Prediger Gülen sich in den vergangenen Jahren aus seinem Exil in den USA in die türkische Politik eingemischt, kritisierte nicht nur Erdogans Vorgehen gegen die Gezi-Demonstranten offen, sondern auch den Umgang mit dem einstigen engen Freund Israel.
    Proteste gegen den bevorstehenden Ergenekon-Prozess in Istanbul
    Proteste gegen den bevorstehenden Ergenekon-Prozess in Istanbul (dpa/picture-alliance/Tolga Bozoglu)
    "Die Gülen-Bewegung betont immer, dass sie unpolitisch sei. Aber allein durch die Macht, die ihnen das Wählerpotenzial ihrer Anhänger verleiht, mischen sie sich sehr wohl ein, nach dem Motto: Ich sichere dir die Stimmen meiner Anhänger, dafür lasst ihr meine Leute in bestimmte Positionen. Auch mit der AKP lief der Deal so. Langfristig wollen sie so den gesamten Sicherheitsapparat des Landes beherrschen: Polizei, Armee, Geheimdienst und Justiz. Wer das schafft, dem gehört der Staat. Wer regiert, spielt dann keine Rolle mehr."
    Was Ahmet Şık in jahrelangen Recherchen und Interviews herausgefunden hat, dürfte auch Erdogan in den letzten Jahren klar geworden sein. Ohnehin waren die gemeinsamen Feinde besiegt: die säkularen Eliten durch den undurchsichtigen Ergenekon-Prozess entmachtet, die Armeeführung im Gefängnis. Der Partner Gülen war überflüssig geworden. Mehr noch: Für Erdogans ständig wachsenden Machtanspruch war der alte Mann in Amerika plötzlich ein Konkurrent.
    "Das Ganze war eine Zwangsheirat – und jetzt werden wir Zeugen einer schmutzigen Scheidung. Es geht um die Verteilung der Ehegüter, um Machtbereiche. So einfach ist das."
    Gülen musste weg – und zwar am besten, indem man ihm die finanzielle Grundlage entzog. Im November 2013 blies Erdogan zum Angriff: Alle privaten Nachhilfeschulen der Türkei sollten geschlossen werden! Was nach einer kleinen Bildungsreform aussah, war ein Schlag ins Gesicht der Bewegung, die als größter privater Betreiber mehrere tausend solcher Schulen besitzt. Hier verdient sie ihr Geld, hier rekrutiert sie ihren Nachwuchs. Es kam, was kommen musste: Gülen und die von ihm beherrschte Justiz schlugen zurück. Die nächtlichen Verhaftungen von Ministersöhnen und Erdogan-Vertrauten am 17.Dezember vor sechs Wochen sollen erst der Anfang gewesen sein.
    "Wer bei diesem Krieg siegen wird? Dies ist ein Atomkrieg – da gibt es keine Gewinner! Hier kann man am Ende nur zählen, wer mehr verloren hat."
    Ahmet Şıks Gülen-kritisches Buch ist inzwischen frei erhältlich. Der neue Titel ist kurz, aber aussagekräftig: "Das Buch". Wäre es erst in diesen Tagen erschienen, vielleicht hätte die Regierung den Autor nicht zum Staatsfeind Nummer 1, sondern zum Helden erklärt. Denn im Kampf gegen Gülen scheint inzwischen jeder Partner willkommen. Ahmet Şık:
    "Ich bin froh, dass das Buch nicht in diesen Tagen erscheint. Bevor das Ganze offen ausbrach, saß ich tatsächlich an einem neuen Skript über den bevorstehenden Gülen-AKP-Krieg. Aber als es losging, habe ich die Arbeit ruhen lassen. Ich möchte nicht, dass mich die eine oder die andere Seite für ihre Zwecke einspannt. Ich bin mir sicher, dass sie beide Dreck am Stecken haben."
    Die Kochtöpfe schweigen, die Parks sind leer
    Ahmet Şık beobachtet und schweigt. So tun es viele Türken in diesen Tagen. Vielleicht zu viele. Ihr Land gleicht einem Spiel, in dem unvermittelt die Karten neu gemischt wurden. Die wenigsten Spieler wissen seitdem noch, welche Karte wohin gehört – und steigen lieber aus.
    Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul
    Zehntausende Demonstranten auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park im vergangenen Sommer - das war einmal. (picture alliance / dpa / Romain Beurrier / Wostok Press)
    So groß ist die Verwirrung, dass selbst die vor gut sechs Monaten noch so revolutionsfreudigen Erdogan-Gegner zu schweigenden Zaungästen geworden sind. Höchstens ein paar tausend Demonstranten fanden sich in den letzten Wochen in Ankara und Istanbul zusammen, um gegen Amtsmissbrauch und Bestechlichkeit ihrer Regierenden zu demonstrieren. Kein Vergleich zu den Zehntausenden, die im vergangenen Sommer Gezi-Park und Taksim-Platz bevölkerten.
    Die Kochtöpfe der Hausfrauen, die damals allabendlich ihren Unmut über die Regierung erklingen ließen? Sie schweigen – in einer Zeit, in der mehr als 2.000 Polizeibeamte strafversetzt oder suspendiert wurden, weil sie ihre Pflicht getan hatten und den Korruptionsvorwürfen gegen Regierungsmitglieder nachgegangen waren.
    Die Parks, in denen sich auch Wochen nach dem Ende der Gezi-Proteste engagierte Großstädter trafen, um über die politische Zukunft ihres Landes zu diskutieren, Bürgerinitiativen zu gründen und Forderungen zu formulieren? Wie leergefegt – in einer Zeit, in der die türkische Regierung ganz offen versucht, die Gewaltenteilung im Land abzuschaffen, indem die Judikative dem Justizminister – und damit der AKP-Partei – unterstellt werden soll.
    Nicht Kampfeslust oder gar Schadenfreude herrschen unter den Erdogan-Gegnern, jetzt wo der mächtige Ministerpräsident zum ersten Mal ernsthaft ins Schleudern geraten zu scheint. Stattdessen sorgen Verwirrung und Unsicherheit für eine Art landesweiten Schockzustand.
    "Nein, mir ist nicht nach Feiern zumute, das Ganze ist zu verwirrend und die Situation wird nur immer hoffnungsloser."
    Tuncay und Nihan finden die Situation beängstigend
    Tuncay Öztürk, 34, schüttelt ratlos mit dem Kopf. Die Wände seiner kleinen Küche sind mit Fotos geschmückt. "Erdogan verschwinde!" steht auf einem Plakat, das er und ein Freund darauf wie eine Trophäe in die Kamera halten, "Gezi forever" auf einem anderen. Jeden Abend zogen Tuncay und seine Frau Nihan im Sommer zum Taksim-Platz, forderten den Rücktritt der Regierung. Damals klangen sie so:
    "Diesmal ist das Maß voll, es gibt kein Zurück mehr. Wir werden weiter demonstrieren bis die Regierung uns endlich zuhört. Selbst, wenn wir uns vor Müdigkeit nicht mehr auf den Beinen halten können, wir schweigen nicht mehr."
    "Sie haben uns die apolitische Jugend genannt. Aber jetzt sind wir alle hier. Wir wollen endlich in einem freien Land leben und wir sind bereit dafür zu kämpfen."
    Rund sieben Monate sind seitdem vergangen. Doch von Kampfeslust und Entschlossenheit ist bei Tuncay und Nihan heute nichts mehr zu spüren. Anstatt zu demonstrieren, sitzen sie zu Hause und grübeln.
    "Ich habe kein Vertrauen mehr. Was wird in ein paar Jahren sein? In was für einem Land werden unsere Kinder einmal aufwachsen? Mir fehlt jede Hoffnung für die Zukunft."
    "Beängstigend" ist das Wort, das Tuncay und Nihan am häufigsten benutzen, wenn sie die aktuelle Situation beschreiben. Damals im Gezi-Park war ihr Ziel klar: Erdogan sollte weg. Nun aber fragen sich immer mehr einstige Demonstranten, ob die Alternative denn besser sein würde. Die türkische Opposition kann nicht mit Erdogan – aber vielleicht auch noch nicht ohne ihn.
    "Es hieß schon lange, dass die Gülen-Bewegung großen Einfluss haben soll. Nun haben wir es gesehen. Diese Leute sind keine Partei, keine richtige Organisation – aber wenn sie einen Knopf drücken, dann haben sie die Macht, Minister, deren Söhne und sogar den Premier anzugreifen. Ich weiß nicht, ob Erdogan fallen wird oder nicht. Aber das Beängstigende ist, dass die, die ihn dann gestürzt hätten, noch religiöser wären als er selbst. Sie würden jemanden an seinen Platz setzen, der ihnen gefallen würde. Es könnte alles noch schlimmer werden."
    "Wir können niemandem mehr vertrauen"
    Wie Tuncay und Nihan versinken viele Türken in diesen Tagen in Orientierungslosigkeit. Egal ob man Erdogan bisher mochte oder nicht, er war da, seit viele von ihnen politisch denken können. Was bleibt, wenn er am Ende stürzen sollte? Die Macht des Militärs ist längst gebrochen, die Politik korrupt, die Medien durch ihre parteiische Berichterstattung seit Gezi entzaubert. Und selbst im türkischen Fußball jagt ein Bestechungsskandal den anderen.
    Tuncay: "Wir können niemandem mehr vertrauen – nicht den Abgeordneten, nicht der Justiz, nicht der Polizei. Wer heute vor Gericht steht, der muss sich fragen: Ist der Staatsanwalt vielleicht von der Gülen-Bewegung? Oder doch von der AKP? Oder irgendeiner anderen Gruppe? Wir leben in einer Zeit, in der man nur noch etwas zählt, wenn man die richtigen Unterstützer hat. Das macht uns Angst."
    Nihan: "Dazu kommt die Abstumpfung. Nichts kann uns mehr schockieren, vielleicht ist das das Schlimmste. Selbst wenn morgen die nächsten unglaublichen Meldungen kommen, wäre ich nicht mal mehr überrascht."
    In diesem Sinne sorgt selbst die Tatsache, dass der eigene Sohn des Ministerpräsidenten wegen Korruptionsverdachts vorgeladen wurde, nur noch für Schulterzucken am Bosporus. Statt zu erscheinen, tauchte er ab. Der zuständige Staatsanwalt aber wurde durch einen neuen, regierungstreuen Kandidaten ersetzt, der die Vorladung außer Kraft setzte.
    Wieder und wieder schafft Erdogan es, seine Gegner zu entwaffnen. Nur die wachsende Angst vor der Wirtschaftskrise scheint sich nicht mehr kontrollieren zu lassen. Nihan arbeitet als Vertriebsleiterin bei einem großen Online-Versandhaus in Istanbul.
    "Ich sehe die Wirtschaftskrise schon vor der Tür stehen. Unsere Verkaufszahlen gehen zurück, die Leute halten ihr Geld jetzt zusammen, weil keiner weiß, was kommt. Der Kunde denkt: Vielleicht habe ich morgen keinen Job mehr? Er fängt an, nur noch das Nötigste einzukaufen."
    Angst vor einer Wirtschaftskrise
    Und tatsächlich: Schon wenige Tage nach den ersten Verhaftungen im vergangenen Dezember brach die türkische Börse ein, der Kurs der Türkischen Lira ging auf Talfahrt. Händler im ganzen Land klagen über das gedämpfte Konsumklima.
    "Die türkische Wirtschaft ist eigentlich noch sehr anfällig. Aber sie gleicht das durch den Glauben an Stabilität und Vertrauen aus. Erdogan funktionierte wie eine Vertrauenspumpe für dieses Land. Was in diesen Tagen passiert, bedeutet einen großen Verlust für die Zukunft", erklärt der emeritierte Wirtschaftsprofessor Ahmet Insel. Denn nicht nur die Politik, auch die Wirtschaft am Bosporus konzentrierte sich seit der letzten großen Krise im Jahr 2001 vor allem auf die Person Erdogans.
    "In diesem Klima der Unsicherheit könnten wir bald Dinge erleben, die die Wirtschaft endgültig zum Stolpern bringen. Erstens: Internationale Investoren, die die Türkei bisher als profitabel einstuften, beginnen sich abzuwenden. Zweitens: Auch im Inland wird die Zukunftsangst weiter abschrecken. Große Firmen verschieben bereits geplante Investitionen, verordnen Einstellungsstopps. Und drittens: Wenn die Investitionen ausbleiben und die Arbeitslosigkeit steigt, könnte Erdogan soweit gehen und dem Wirtschaftsminister verordnen, den Haushalt aufzustocken und neue Schulden zu machen."
    Doch nicht nur politisch und wirtschaftlich steht in der Türkei viel auf dem Spiel. Die große Unsicherheit wird vor allem auch gesellschaftliche Folgen haben, warnen Soziologen. Wieder einmal wenden sich Tausende Menschen enttäuscht von der Politik und allem Öffentlichen ab, ziehen sich ins Private zurück. Parteien, Bürgerinitiativen, Gewerkschaften – der ohnehin schwach ausgeprägten Zivilgesellschaft dürften weiter aktive Mitglieder verloren gehen, die für einen demokratischen Neuanfang am Bosporus so dringend benötigt werden.
    Die Kommunalwahlen Ende März könnten einen ersten Vorgeschmack geben: Beobachter erwarten mehr Nichtwähler als je zuvor. Auch und vor allem, weil die gerade erst erwachte junge Generation in diesen Tagen zu Hause bleibt.