In unserer Reihe "Religion und Identität" fragen wir in dieser Woche: Inwiefern prägt Religion das eigene Leben und Entscheiden? Wer gehört zu welcher religiösen oder nicht-religiösen Gruppe? Und wer gehört nicht dazu? Denn Religion ist einerseits Privatsache. Andererseits findet Religion im öffentlichen Raum statt: durch Kreuze in Klassenzimmern, den Bau von Moscheen, Synagogen und Kirchen, oder durch religiöse Sendungen im Radio. Religion kann Identität stiften. Wie sieht das Güner Yasemin Balci?
Einige muslimische Intellektuelle sprechen von einer "Krise des Denkens" im Islam: Starres Festhalten an Regeln, eine rückwärtsgewandte Theologie, ein konservatives Familienbild. So sieht es auch die Berliner Autorin Güner Yasemin Balci.
"Diese Krise hält jetzt so lange an, weil es kaum eine Auseinandersetzung gibt. Das heißt, es findet kein Streit auf einer Ebene statt, die für beide Seiten akzeptabel wäre. Und das ist tatsächlich eine Krise."
Güner Balci ist in Berlin-Neukölln geboren, ihre Eltern waren in den 60er-Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei gekommen. Die 41-Jährige wurde alevitisch erzogen. Sie lernte den Islam als freiheitliche, fortschrittsfreundliche Religion kennen. Heute schreibt sie Bücher und dreht Fernsehreportagen – zum Teil preisgekrönt –, in denen es auch um religiöse Identität geht. Es gibt sie, die liberalen muslimischen Vordenker – davon ist Balci überzeugt. Das Gesicht des Islams in Deutschland werde aber von anderen geprägt: Nämlich von den etablierten Verbänden, die den Islam hierzulande offiziell vertreten und die eher ein traditionelles Bild der Religion vermitteln würden. Sie säßen in Fernseh-Talkshows und in der Deutschen Islamkonferenz. Sie verhandelten die Regeln und würden entscheiden, welche Imame Gemeinden leiten und predigen dürfen. Liberale Strömungen hingegen seien unterrepräsentiert, kritisiert Güner Balci.
"Ich finde es erstaunlich, dass diese Stimmen so wenig Raum bekommen, in der politischen Debatte, in der öffentlichen Diskussion. Der Grund dafür ist aber ganz klar: Sie betreiben keine Lobbyarbeit, das sind oft einzelne, die an Universitäten oder in Gemeinden Großes leisten, aber am Ende dann politisch nicht relevant sind, weil sie nicht in einem Verband organisiert sind. Weil sie abgelehnt werden von den großen muslimischen Organisationen, die in erster Linie politische Machtinteressen verfolgen und nicht den Traum und Wunsch haben, dass der Islam spirituell hier in Deutschland und Europa ankommt."
"Problematische Religionsinterpretation"
Balci vermisst die Gleichberechtigung von Männern und Frauen: Sie nennt das "Geschlechter-Apartheid", spricht von "Jungfrauenwahn" und im Zusammenhang mit Burka-Trägerinnen vom "Ausverkauf des weiblichen Körpers". Was im Koran und in den Hadithen stehe, sei in Teilen menschenfeindlich.
"Das ist alles in einer Zeit entstanden, in der Frauen nicht gleichberechtigt waren. Aber wenn ich das heute genauso versuche durchzusetzen, dann ist das ein Problem. Wir haben eine Gleichberechtigung, und das hat auch eine Menge Kraft gekostet und Kämpfe. Wenn jetzt aber eine Religionsinterpretation einen Vorrang hat an Schulen und in Gemeinden, die genau das Gegenteil davon einfordert, dann sehe ich darin ein großes Problem."
Güner Balci setzt da an, wo junge Muslime sozialisiert werden. Sie hält die Moscheen für identitätsprägend. Hier landeten auch Jugendliche aus einfachen Verhältnissen: Aus Familien, in denen Bildung kaum eine Rolle spielt, wo über Religion nicht gesprochen wird, die alleingelassen werden bei ihrer Suche nach etwas, mit dem sie sich identifizieren können. Wer Fragen habe, bekomme hier Antworten, die oft entscheidend seien für den weiteren Lebens- und Glaubensweg.
"Auf der einen Seite gibt es junge Menschen, die auf der Suche nach religiöser Identität in den falschen Moscheegemeinden und bei den falschen Leuten landen. Und ihnen dort ein Schwarz-weiß-Bild präsentiert wird: Es gibt nur Gut und Böse - und dazwischen nichts. Auf der anderen Seite gibt’s ja diese Unsicherheit von jungen Menschen, die religiöse Identität suchen und wollen, aber gar nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen. Was ich mir wünsche ist, dass junge Menschen feststellen: Was bedeutet Islam für mich? Und wie kann ich mir das am besten aneignen, ohne bei den falschen Leuten zu landen?"
Suche nach liberalen Vorbildern
Güner Balci ist eine Suchende. Eine Zweiflerin. Sie fragt sich: Wo sind die Vorbilder, die einen liberalen Islam vertreten? Die eine historisch-kritische Lesart des Koran anbieten und Frauen als gleichberechtigt ansehen? Es gibt sie. Das weiß Güner Balci. Aber sie ist etwas ratlos, in welche Gemeinde sie etwa neu zugezogene Muslime schicken würde, die in Deutschland auf der Suche nach religiöser Heimat sind. Machen also auch fortschrittliche Muslime etwas verkehrt?
"Absolut. Sie haben sich mittlerweile schon fast das Recht genommen, sich selbst als Muslime zu definieren. Weil sie sich ja nicht wiederfinden in diesem konservativen Islamverständnis. Gleichzeitig sind das Menschen, die fasten, die die Feiertage noch einhalten, die auch beten. Die aber nicht diesen Schritt wagen zu sagen: Eigentlich müssen wir was Neues anfangen. Eigentlich können wir das nicht den Leuten überlassen, die das schon die ganzen Jahrzehnte hier falsch machen."
Und ihr eigener Glaube? Balci sagt, sie wolle sich keinem Bekenntniszwang unterwerfen. In Talkshows wurde sie gelegentlich als liberale Muslimin vorgestellt. Schwachsinn, schimpft die Autorin. Und verweigert sich dem Versuch, sie in eine Schublade zu stecken.
"Das Gottverständnis, was mir als Kind nahegebracht wurde, war ein sehr individuelles. Das war nämlich die Aufforderung an mich, selbst danach zu suchen, was ich als das empfinde. Und ich habe irgendwann entschieden, dass ich das wunderbar finde, dass man seine eigene Spiritualität als etwas sehr Privates leben darf in Deutschland. Deswegen bekenne ich mich zu keiner Religion. Es ist völlig egal, welche Religion man hat, es ist immer gut, dass man eine Haltung zu Themen hat, die unsere Gesellschaft bewegen und wo es Probleme gibt."
Darin sieht Güner Balci ihre Aufgabe: Den Finger in die Wunde legen, Missstände benennen – und damit vielleicht etwas zu einem allmählichen Wandel der Identität des Islams beizutragen.