Im August 2015, also mitten im Jahr der Willkommenskultur und des "Wir schaffen das", feiert Hedwig Leydenfrost in der märkischen Provinz ihren 89. Geburtstag. Der Kreis ist klein und familiär, und natürlich kommt die Frage auf, wie im nächsten Jahr der 90. der Jubilarin zu begehen sei. Die vom Zeitgeschehen beflügelte Idee, den runden Geburtstag mit einer Spendenaktion für Flüchtlinge zu verbinden, gefällt der Betagten, die einst als Wortführerin der außerparlamentarischen Opposition von sich Reden gemacht hat und zu den Gründungsmitgliedern der aus der Bewegung hervorgegangenen Partei zählte, der Grünen also, die im Roman jedoch nicht beim Namen genannt werden.
"Sie, die schon vor Jahrzehnten verlangt hatte, möglichst viele Fremde ins Land zu holen, um die deutsche Kultur zu einer globalen, also weniger deutschen werden zu lassen, fühlte sich jetzt verpflichtet, die von der Kanzlerin geforderte Freude über die ungeregelte Ankunft der vielen Kriegs- und Armutsflüchtlinge mitzuempfinden, obwohl ihr dabei das eigentlich doch auf Opposition getrimmte Gewissen schlug. (...) Ihr Bruder dagegen, der die Kanzlerin ihrer Nüchternheit wegen immer geschätzt und gewählt hatte, war von ihr jetzt enttäuscht. Sie habe, so meinte er, durch ihre unbegrenzte Zulassung der Flüchtlingsmassen ihre ehrenwerten Humanitätsgefühle von Allmachtsphantasien vergiften lassen und so ihre politische Vernunft außer Kraft gesetzt."
Biografische Überschneidungen
Die beiden Geschwister Hedwig, im Westen sozialisiert, und Leonhardt, ehemaliger DDR-Bürger, teilen sich nun das von den Eltern erbaute und den Dorfbewohnern nur "Villa" genannte Haus im brandenburgischen Wittenhagen als Alterssitz. Auch Leonhardts Tochter samt Enkel sowie Hedwigs erwachsene Adoptivtochter Fatima fanden nach gescheiterten Ehen in dem großzügigen Gebäude eine Bleibe. Doch vom ländlichen Idyll kann auch in der Abgeschiedenheit des Leydenfrostschen Anwesens keine Rede mehr sein. Die gesellschaftlichen Konflikte sind allgegenwärtig, sorgen für Diskussionsstoff in der Familie und in der Dorfgemeinschaft. In der Reithalle, die zum einstigen Gutshof der Leydenfrosts gehörte, sollen Flüchtlinge untergebracht werden. In diesem Spannungsfeld entwickelt Günter de Bruyn seinen ersten Gegenwartsstoff nach über dreißig Jahren vor allem aus Sicht von Leonhardt, kurz: Leo, Leydenfrost, von dem man annehmen kann, dass es sich um eine Art Alter Ego von de Bruyn handelt, zumindest gibt es biografische Überschneidungen.
"Leo, der Wittenhagen bald nach dem Tode der Mutter verlassen hatte, war so glücklich gewesen, in einer großen Bibliothek Ost-Berlins als Hilfskraft beschäftigt zu werden und später dort auch als Fachkraft arbeiten zu können, als sein Studium beendet war. Ein Aufstieg in der Bibliothekshierarchie war ihm nicht möglich gewesen, da er sich immer geweigert hatte, in die Staatspartei einzutreten."
Günter de Bruyn hat wie Leo Leydenfrost in Ost-Berlin als Bibliothekar gearbeitet und galt als Nichtparteimitglied in der DDR als "unsicherer Kandidat", wie er von sich selbst sagt. Auch literarische Ambitionen verbinden den Autor mit seiner Figur, die jedoch bei dieser nie zur Vollendung eines Werkes gereicht haben. Mit feinem Humor und viel Sinn für ihre Schwächen und Eigenheiten zeichnet de Bruyn seine Figuren, allen voran Leo Leydenfrost, mit dessen eigenem Humor es allerdings so eine Sache ist, wie dieser sich selbst bei der Vorbereitung seiner Geburtstagsrede eingestehen muss.
"Witzig hatte er darstellen wollen, wie die Meinungsmacher jede ihnen nicht passende Meinung im Namen der Meinungsfreiheit zu unterdrücken versuchen, unserer Sprache die Schönheit und Verständlichkeit nehmen und uns lehren wollen, fremde Kulturen höher als die eigene zu achten, aber geraten war ihm das alles nicht witzig, sondern nur bitterernst. Statt Spottlieder hatte er Klagelieder angestimmt. Der Satiriker, der er gern hätte sein wollen, hatte sich wieder einmal als unfähig erwiesen. Richtig witzig konnte er nur in Gedanken sein."
Aus der Perspektive von Übriggebliebenen
Der zu einem gewissen Starrsinn und zur Rechthaberei neigende Leydenfrost ist ein wahrer Traditionalist. Mit Klassiker-Zitaten auf den Lippen mokiert er sich über modische Narrheiten und das allgegenwärtige Diktat der politischen Korrektheit. Wenn eine Lokalpolitikerin mit dem sprechenden Namen Grünlich verlangt, dass die Kreuze vom Friedhofsportal des Kaffs zu verschwinden hätten, um "Mitbürgerinnen und Mitbürger muslimischen Glaubens" nicht auszugrenzen, kippt de Bruyns Erzählung auch mal ins Satirische. Doch die Stärke der Geschichte liegt nicht in der Gesellschaftsanalyse, auch wenn der Blick auf die ostdeutsche Provinz, in der de Bruyn sich bestens auskennt, durchaus seinen Reiz hat. Das eigentlich Interessante ist die Perspektive seiner Figuren, die mit dem Bewusstsein ihres nahen Lebensendes das Geschehen um sich herum betrachten. Zu dieser Perspektive passt auch die mit Schachtelsätzen gespickte, wie aus der Zeit gefallene Sprache des mittlerweile 92-jährigen Schriftstellers. Wenn Leydenfrosts Enkel sich an Süßigkeiten aus der Kaufhalle "labt", fühlt man sich schon mal ins 20. Jahrhundert zurückversetzt, wenn nicht gar in noch frühere Zeiten, die de Bruyn als Sachbuchautor zur preußischen Geschichte erkundete. Seine beiden Hauptfiguren, die Geschwister Hedwig und Leo Leydenfrost sind Übriggebliebene, die drei politische Systeme erlebt haben und häufiger in ihren Erinnerungen verweilen als in der Gegenwart.
"Um endlich fähig zu werden, mich gegen schöne Erinnerungen nicht mehr zu wehren, habe ich wohl steinalt werden müssen", dachte Hedwig (...) Als sie sich jetzt das Bild ihres Vaters unter dem windschiefen Vordach des alten Herrenhauses und sich selbst als Achtjährige bei den ersten Reitversuchen bunt und lebendig ausmalen konnte, kam tatsächlich so etwas wie Feiertagsstimmung über sie. Die vage Trauer über das baldige Lebensende, die selbst ihre Träume umflorte, wurde zwar dadurch nicht beseitigt, aber doch bedeutend geschwächt. Es war ihr, als ob sich durch das erinnernde Wiedererleben der Jugendjahre der Schmerz um Niewiederkehrbares etwas verlor."
"Am Grabe die Hoffnung aufpflanzen"
Günter de Bruyn hat in "Der neunzigste Geburtstag" noch einmal seine alten Qualitäten ausspielen können und die Kritik an einer Gesellschaft, in der Symbolpolitik den Weg für den Ausverkauf des Bestehenden ebnet, mit einfühlsamen Figurenzeichnungen verknüpft. Statt einer Flüchtlingsunterkunft bekommt das Dorf schließlich ein Wellnesshotel. Alte Seilschaften profitieren von neuen Strukturen. Erstmals nach dem Mauerfall bringt de Bruyn sein tiefes Misstrauen gegenüber politischen Parolen und ideologisch gefärbten Denkmustern zum Ausdruck. Sein Ideal ist das Kantsche Menschenbild, also das eines aufgeklärten, kritischen, humanistisch-gebildeten Bürgers, dessen Handeln von moralischen Grundsätzen bestimmt wird. So etwas ist leider aus der Mode gekommen, scheint er mit seiner Hauptfigur zu beklagen. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt - oder wie es Leo Leydenfrost am Ende ausdrückt:"Ich warte noch auf einen ersten Anschein von Rückbesinnung, um am Grabe die Hoffnung aufpflanzen zu können."
Günter de Bruyn: "Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 272 Seiten kosten 22,- Euro
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 272 Seiten kosten 22,- Euro