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Günter Kunert: "Die zweite Frau"
Ironiefreie Zone

Für "absolut undruckbar" befand Günter Kunert sein Romanmanuskript "Die zweite Frau", als er es 1975 abgeschlossen hatte. Deshalb verwahrte er den Text 43 Jahre lang in einer Truhe auf. Nun liegt Kunerts zweiter Roman endlich vor – rechtzeitig zu seinem 90. Geburtstag am 6. März.

Von Katrin Hillgruber |
Günter Kunert und sein neuer Roman "Die zweite Frau"
Günter Kunerts radikaler Gegenwartsroman "Die zweite Frau" konnte in der DDR unmöglich erscheinen (Wallstein Verlag / dpa / picture alliance / Soeren Stache)
Der Schriftsteller, Maler und Grafiker Günter Kunert feiert am 6. März seinen 90. Geburtstag. Zu seinen mannigfachen Talenten gehört die Fähigkeit des Klartraums, auch luzider Traum genannt. Das bedeutet, dass der Träumende sich dessen bewusst ist und aktiv in das imaginierte Geschehen eingreifen kann.
Den Winter 1974/75 verbrachten Marianne und Günter Kunert im englischen Warwick. An der dortigen Universität hatte er eine Gastdozentur am Germanistischen Seminar inne, nachdem er zwei Jahre zuvor schon in den USA gelehrt hatte und dabei auf den Geschmack der Reisereportage gekommen war. Auch in Warwick referierte Günter Kunert über Lyrik. Er erkundete voller Sympathie die seltsamen Bräuche der Briten und litt an dem nasskalten Inselwetter.
Trotz der vielen neuen Eindrücke, die er in dem Band "Ein englisches Tagebuch" festhielt, strebten die Gedanken und Ängste des erklärten Skeptikers des Nachts ins heimische Ost-Berlin zurück. Mehrfach träumte er davon, verhaftet zu werden, darunter in einem Trödelladen, in dem er ein blechernes Spielzeug-Karussell gestohlen hatte.
Spiegelbildlich dichtete Günter Kunert in seinem Roman "Die zweite Frau" der Hauptfigur Barthold in England spielende Träume, wenn nicht gar Albträume an. Für Barthold handelt es sich dabei um einen – wie es heißt - "unkontrollierten Aufstand der Gedächtnispartikel".
Das Manuskript der "Zweiten Frau" entstand in den Jahren 1974/75, überschneidet sich also mit dem Großbritannien-Aufenthalt des Autors. Barthold, ein Ost-Berliner Archäologe Anfang fünfzig, träumt immer wieder von London, wobei zweifelhaft ist, ob er je dort war. Eines schönen Herbstnachmittags schläft er bei der Lektüre des "Neuen Deutschland" in seinem Gartenstuhl ein, als er auf einmal von den deutschen Luftangriffen auf London im Zweiten Weltkrieg träumt. In einer Straße voller düsterer Backsteinhäuser findet er in letzter Minute einem Bunker Zuflucht. Im Zwielicht des Kellers widerfährt dem DDR-Bürger Barthold eine Begegnung der unheimlichen Art:
"Und er stand immer noch mit der Hand des Staatsratsvorsitzenden in seiner eigenen da und überlegte, wie er seine Finger rasch und unauffällig zurückziehen und zugleich den Eindruck hervorrufen könnte, diese Begrüßung sei ein Zufall, besser: ein Irrtum. Dem alten Mann mit dem bekannten Spitzbart (welcher der wenig einfallsreiche Volksmund seinem Träger als Spitznamen angehängt hatte) zu bedeuten geben, er habe ihn verwechselt. Aber ehe solche Aufklärung stattfinden konnte, erkannte Barthold plötzlich, indem er seinem Gegenüber in die unnatürlich geweiteten Pupillen sah, es müsse vor seinem Eintreten in den Keller Bedrohliches sich begeben haben und er, Barthold, bilde nun unabsichtlich das Hindernis für irgendeinen Walter Ulbricht betreffenden Vorgang. Der bedankte sich jetzt bei ihm für sein Kommen. Er sagte: 'Ich wusste es – Sie sind Bart hold!' Das hatte man nun davon. Vick Tor wäre besser gewesen. Oder: Er Ich."
Der Enttäuschung Luft machen
Damit ist der kompromisslos satirische Ton des Buches gesetzt, und es steht fest: Der radikale Gegenwartsroman "Die zweite Frau" konnte in der DDR unmöglich erscheinen. 1971 hatte Erich Honecker den 78-jährigen Walter Ulbricht als Staatsratsvorsitzender abgelöst. Von diesem Generationswechsel sollte das Signal eines zweiten Aufbruchs des Staates DDR und des sozialistischen Modells ausgehen.
Die von Honecker propagierte sogenannte untrennbare Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik verhieß auch eine Liberalisierung für die Kultur. Doch das Reformversprechen erwies sich bald als Illusion. So brach die gesamte Konsumorientierung der DDR mit dem Ende der Ära Ulbricht ab. Während sich dieser aktiv für innovatives Produktdesign eingesetzt hatte, galt nun ein Werbeverbot für Konsumgüter.
Zehn Jahre nach dem Mauerbau schien die utopische Parole vergessen, die der frühen Aktivistin Frida Hockauf zugeschrieben wird: "So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben." Nun begnügte sich das SED-Politbüro mit dem realexistierenden Sozialismus – für Hans Magnus Enzensberger eine ebenso affirmative wie resignative Wendung. Seiner ganzen, über Jahre angestauten Enttäuschung machte sich das SED-Mitglied Günter Kunert mit "Die zweite Frau" Luft:
"Margarete Helene wurde klar, warum es kein Schicksal mehr gebe: Weil wir alle zu vorsichtig geworden sind! Vorsicht ist unsere zweite Natur geworden! Darum sind auch die Bücher langweilig. Vorsicht und Literatur vertragen sich nicht […]."
Vorwärts in die Steinzeit
Von seiner Mutter wurde Günter Kunert früh mit Kriminalromanen versorgt und entwickelte sich nach eigenen Angaben zum Edgar-Wallace-Fan. Als Sohn einer Jüdin durfte Kunert in der NS-Zeit nur die Volksschule besuchen und wurde für wehrunwürdig erklärt. Er war stets ein Individualist und "Außenseiter von Kindheit an", wie er es in seiner Autobiographie "Erwachsenenspiele" beschrieben hat. Früh von Bertolt Brecht und dem DDR-Kulturminister Johannes R. Becher gefördert, aber genauso an amerikanischer Lyrik interessiert, wich Kunerts Glaube an die sozialistische Utopie einem immer tieferen Skeptizismus. Die DDR vertrug Ironie bekanntlich schlecht. Ein Gedicht in der Zeitschrift "Weltbühne" über das Lampenverbot des blinden Königs Tharsos von Xantos machte ihn 1963 zur Unperson. Forthin wurde sein Telefon überwacht. Auch bei seinem Engagement für den Umweltschutz erwies sich der Tierfreund Günter Kunert als unbestechlich.
Sein erster Roman "Im Namen der Hüte" ist im Berliner Schwarzmarkt-Milieu der Nachkriegszeit angesiedelt. Sobald er einen fremden Hut aufsetzt, kann der jugendliche Protagonist Henry die Gedanken des jeweiligen Besitzers lesen, was zu politischen Verwicklungen führt. "Im Namen der Hüte" erschien 1967 im Westen, die DDR-Ausgabe folgte in kleiner Auflage erst neun Jahre später. Der Hut-Roman galt bislang als der einzige von Kunert, der in erster Linie für seine meisterhafte Lyrik und Kurzprosa bekannt ist. Umso größer fällt daher die Überraschung aus, welche die Ankündigung seines bislang unbekannten zweiten Romans "Die zweite Frau" in diesem Winter auslöste.
Immer wieder geht es in Günter Kunerts Werk, das rund sechzig Bücher umfasst, um Steine. In seinen Notizen zur Literatur mit dem Titel "Warum schreiben?" bezeichnet er sie als "Archetyp der Verdinglichung", wie er formuliert, und in seinem "Englischen Tagebuch" nennt er sich "ruinensüchtig". Da erscheint es konsequent, dass er sich mit dem Archäologen Barthold einen Steinzeit-Spezialisten als Romanhelden erkoren hat, der sämtliche Epochen seinem Fachgebiet entsprechend einteilt:
"… mittlere Vormauerepoche, frühe fünfziger Jahre."
Hauptbeschäftigung der DDR-Bürger: das Warten
Das lässt sich auch als Ironisierung des Historischen Materialismus lesen. Diese marxistische Doktrin betrachtet den Ablauf der Geschichte als eine durch ökonomische Prozesse gesetzmäßig bestimmte Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Der Steinzeit-Spezialist Barthold ist aufgrund der schwammigen Diagnose "Vegetative Dystonie" von der Arbeit an einem nicht näher bezeichneten historischen Forschungsinstitut krankgeschrieben. Dadurch hat er die nötige Muße, sich vollumfänglich der Hauptbeschäftigung der DDR-Bürger zu widmen:
"Würde man Barthold fragen, was eigentlich für seine Lebensumstände am typischsten sei, müsste er nach längerem Überlegen, nötig, die Gewöhnung an ebendiese Umstände durchbrechen und ihre Besonderheit erkennen zu können, das Warten in allen seinen Erscheinungsformen nennen. Vom simplen Warten in konkreter Einkaufsschlange auf Bedienung sowie dem gleichen, doch abstrakteren Warten auf einer Liste mit Konsumgütern gehobenen Bedarfs, zu den höheren Ebenen der Erwartung verbesserter Arbeitsbedingungen, Prämien, Gehaltsaufbesserungen bis zu gesteigerten Formen, in denen das Warten zum Hoffen wurde, wodurch die individuellen Ziele zu allgemeinen erweitert wurden; man ein größeres Maß an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu erhalten gedenkt, doch in diesem umfänglicheren Bereich ähnlich oder ganz genauso versorgt wird wie im Konsum-Laden um die Ecke, wo das Bier entweder vor Bartholds Erscheinen ausverkauft ist oder erst noch kommen soll, das Weißbrot überhaupt wieder mal ausblieb und die ungarische Salami, ein legendäres Genussmittel, an eine kleine Gruppe privilegierter Kunden heimlich verteilt wurde."
Das Problem der Mangelwirtschaft hat auf genialische Weise Gert Neumann 1981 mit seinem Leipziger Kaufhaus-Roman "Elf Uhr" thematisiert. Für Kunerts Helden Barthold verschärft sich die Situation, als er ein möglichst wertvolles Geburtstagsgeschenk für seine Frau sucht. Sie hört auf den Namen Margarete Helene, der Anklänge an Goethes "Faust" und Homers "Odyssee" in sich vereint.
"Als das monotone 'der Nächste bitte!' ertönt, vergehen einige Augenblicke, ehe Barthold aus dem Mesolithikum zurück ist und inmitten leidender Gestalten Umschau hält, wer wohl der nächste Patient ist […]. Verlegen die Bücher zusammengerafft und eilig dem Ruf nachgekommen, während Margarete Helene daheim noch aufräumt: Ihr vierzigster Geburtstag steht ins Haus, darinnen die Fenster geputzt, die Gardinen gewaschen, die Böden geschrubbt, die Teppiche geklopft werden müssen. Besondere Daten fordern besondere Ordnung."
Verdrossene Dessous
Während ihr Mann im Liegestuhl hinter dem aufgeschlagenen "Neuen Deutschland" in erotischen Phantasien schwelgt, werkelt die tüchtige Hausfrau im Garten. Angesichts dieser konventionellen Rollenverteilung lässt sich von der "Zweiten Frau" als einer durchaus bürgerlichen Komödie in vermeintlich sozialistischem Setting sprechen. Der pensionierte Nachbar kommt vorbei und bietet an, das eine oder andere begehrte Konsumgut aus West-Berlin mitzubringen, da er als Rentner ja Reisefreiheit genießt. Auf einmal ist es mit der arkadischen Idylle vorbei: Margarete Helene schlägt mit der Axt einen windschiefen Schuppen nieder und entdeckt zwischen den Brettern einen Büstenhalter.
"'Ballon-Leinen!', sagt Barthold, hebt betont die Augenbrauen und verzieht den Mund, damit sein Scherz auch ja nicht unbemerkt verhalle. Für ihn hat sich der Fall erledigt: Ein Fundstück aus einer bereits historischen Zeit liegt weit außerhalb seines Interessenbereiches – ja, wäre er aus dem Paläolithikum und das Material Rentierfell, mit Mammutknöchlein verstärkt, Ösen und Haken aus Bein geschnitzt, vielleicht noch bandkeramisches Muster um die Brustbehälter, dann, ja dann! So retiriert Barthold zum Liegestuhl, um sich seufzend auszustrecken. Bartholds Lebensgefährtin, wobei keiner weiß, was das Leben noch bringt, hat ihre Überlegungen von dem Büstenhalter noch 'nicht freimachen' können; als hätte dieses intime Kleidungsstück die Eigenmächtigkeit, sie innerlich zu umschnüren. Boa constrictor, unter deren Druck seltsame Gedanken hervorquellen […]."
Margarete Helenes Misstrauen ist geweckt, und sie sucht weiter. Während ihr Mann seine Zeit beim Arzt absitzt, entdeckt sie in seinem Schreibtisch eine verblasste Postkarte von einer gewissen Elfi – gehört ihr das verschlissene Dessous? Verdrossen gräbt Margarete Helene weiter ihren Garten um. Erneut wird sie fündig, diesmal allerdings benötigt sie den Rat eines anatomischen Fachmanns. Sie sucht ihren Frauenarzt auf.
"Während sich Dr. med. neugierig vorbeugte, überzeugt, seinen Anteil an der rapide um sich greifenden Naturalwirtschaft zu erhalten, Zigarren oder Zigaretten, Whiskey oder Kognak, Kaffee oder Tabak, was er damals bei der Aufnahme der Arbeit abgelehnt hatte bzw. hatte ablehnen wollen, und schon den Mund öffnete, um ein überraschtes 'Das war doch nicht nötig!' zu rezitieren, schlug die Patientin das Papier auseinander, räusperte sich ein paar Mal und erklärte mit belegter Stimme: 'Die habe ich im Wald gefunden und möchte wissen, ob – ob sie vom Menschen stammen?'
Trotz seiner beherrschten Gesichtsmuskulatur ließ sich ein Ausdruck der Enttäuschung über die Handvoll alter, bereits brüchiger, stark kalziumhaltiger Knochen nicht verbergen. Immerhin tröstete ihn, dass er seinen Dank nicht vorzeitig ausgesprochen hatte: Es wäre peinlich gewesen, das Missverständnis, und hätte zusätzlich den Anschein erweckt, von Patienten beschenkt zu werden sie die übliche Art der Verabschiedung. Alte Knochen! […] - 'Darf man sich erkundigen, wozu Sie das wissen wollen?' Die Frau war ja ganz außer sich, Blutandrang zum Kopf, eindeutig: verfrühtes Klimakterium! […] 'Mein Mann ist Archäologe, und ich habe die Knochen im Wald gefunden, beim Spazierengehen, in einer Kiesgrube, vielleicht ist da etwas für ihn zu finden, bloß, ich wollte mich nicht blamieren, wollte mich nicht auslachen lassen, wenn das Schafsknochen sind…'"
Die unbedachte Knochensammlerin
Hieß das angebliche Schaf nicht eventuell doch Elfi? Was ist aus Bertholds ehemaliger Geliebter oder erster Frau geworden? Margarete Helenes düstere Gedanken lassen den Romantitel "Die zweite Frau" in neuem, unheimlichen Licht erscheinen. Barthold hingegen ahnt nichts von dem ungeheuerlichen Verdacht, der sein häusliches Glück zu zerstören droht; zu sehr ist der leidenschaftliche Montaigne-Leser damit beschäftigt, ein Geburtstagsgeschenk für seine Frau zu finden: Ein Juwelenring soll sie gnädig stimmen. Er unternimmt eine verzweifelte Odyssee durch die Geschäfte bis hin zum Intershop in der Chausseestraße, der nur Westgeld annimmt. Selbstvergessen rezitiert er beim Warten halblaut aus Michel de Montaignes "Essays", Kunerts erklärtem Lieblingsschriftsteller.
"'Und wenn man mir sagt, in anderen Ländern herrsche vielleicht ebenso viel Verderbnis, und ihre Sitten seien auch nicht mehr wert als unsere, so antworte ich erstens: Das ist schwer zu sagen. Das Böse sieht so verschieden aus; zweitens: es ist immer ein Gewinn, einen sicher schlechten Zustand in einen unsicheren umzutauschen; außerdem tun uns die Schmerzen anderer nicht so weh wie unsere eigenen.' - 'Verderbnis is jut! Der Junge is richtig!', freute sich der Fremde und stieß Barthold in die Seite; teils aus Einverständnis, teils um Barthold zum Vorrücken zu bewegen, denn in die Schlange war inzwischen Leben gefahren."
Apropos Chausseestraße: Hatte Bertolt Brecht, wohnhaft in der Chausseestraße 125, der den jungen Günter Kunert einst zu Ausfahrten in seinem Automobil einlud, nicht gesagt, im Sozialismus dürfe man es weder mit der Justiz noch mit der Medizin zu tun bekommen? Für Margarete Helene und Barthold, das streitende und sich doch auf rührende Weise liebende Paar, kommt diese Warnung zu spät. Als ein unbekannter Mann im Trenchcoat am Gartenzaun auftaucht, rechnet Margarete Helene mit dem Schlimmsten: mit Bartholds Verhaftung und Verurteilung als Mörder. Und da in der DDR bis Ende 1987 formal die Todesstrafe in Kraft war, könnte der unbedachten Knochensammlerin sogar die Witwenschaft drohen.
Frische und Frechheit kennzeichnen "Die zweite Frau"
"Sinnieren: Wie lange ist es her, dass Barthold hingerichtet wurde? Dreißig Jahre? Fünfundreißig Jahre? Ein Menschenalter jedenfalls. Der Fall stand nicht mal in der Tagespresse, wenigstens diesen traurigen Ruhm hätte man ihm zugestehen sollen, aber dafür waren die Zeitungen nicht da, sondern bloß für enigmatische Mitteilungen aus dem Innern des Geheimnisses, die kein Mensch verstand und die wohl nur für Adepten bestimmt waren, die den Schlüssel hatten. Dass eine hohe Persönlichkeit abgereist sei und irgendwo angekommen. Völlige Übereinstimmung. Ewige Freundschaft. Seltsame Sätze, aus denen man nie klug wurde. […] Kabbalistische Prozentzahlen, auch schon Generationen lang: Etwas wurde gesteigert und etwas verringert, aber was da rauskam, erfuhr keiner. Vielleicht wusste es nicht mal der abgereiste oder angekommene Präsident selber."
Hat der Besuch des Staatssicherheitsdienstes tatsächlich mit dem Knochenfund zu tun? Oder eher mit Bartholds Einkauf im Intershop? Das sei an dieser Stelle nicht verraten. So trostlos kleinbürgerlich, wie Günter Kunert das Ost-Berlin in der frühen Ära Honecker zeichnet, so sehr frappieren die Frische und Frechheit seines Romans "Die zweite Frau". Auch nach gut vierzig Jahren unfreiwilliger Ruhezeit hat dieser kriminalistisch-politische Liebesroman nichts an Brisanz verloren und lässt das satirische Talent seines Verfassers aufs Prächtigste schillern, was schon das schelmische Selbstporträt inmitten von Schimären auf dem Einband verheißt. Mit katzenhafter Eleganz hat Günter Kunert in "Die zweite Frau" die Dichterlesung eines Zeitgenossen integriert, der sich staatlichen Zumutungen listig entzieht.
"Hugo, wie hieß der Dichter noch, den wir neulich gehört haben? Grunert, nein Kunert, ja, so hieß er, mit einem Bart wie Rilke, aber Rilke bleibt Rilke, insbesondere der Cornet, jedenfalls las dieser Kunert Gedichte, die ziemlich unverständlich waren, sollten wohl modern sein, nur die Prosastücke, eigentlich auch wie Gedichte, die waren irgendwie pessimistisch, wissen Sie, irgendwie zynisch, fandest du das nicht auch, Hugo? Obwohl es auch ganz lustig war, man merkte, er macht sich lustig über das ganze System, aber keiner kann ihm an den Wagen fahren […]."
Günter Kunert: "Die zweite Frau"
Wallstein Verlag, Göttingen. 204 Seiten, 20 Euro.