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Günter Verheugen
"Der Euro ist nicht für alle gleich gut"

Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen hat die Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Zukunft der EU kritisiert. Deutschland verweigere den Blick auf die Lage der Realwirtschaft in den Mitgliedsländern und trage zu deren Destabilisierung bei, sagte Verheugen im Dlf.

Günter Verheugen im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen
    Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen (Imago)
    Tobias Armbrüster: Als Emmanuel Macron vor über einem Jahr in den Elysee-Palast eingezogen ist, da lag ihm als neuem französischen Präsidenten vor allem ein Thema am Herzen: eine Erneuerung der Europäischen Union, vor allem eine Erneuerung der Währungsunion. Er hat dazu mehrere Vorschläge vorgelegt, unter anderem für einen Europäischen Währungsfonds und größere Investitionen in den krisengeschüttelten Mitgliedsländern. Und danach hat er erst mal gewartet, wochenlang, monatelang. Und dann vorgestern, am Sonntag, da hat zum ersten Mal Angela Merkel so richtig geantwortet – nicht im Bundestag, nicht bei einer öffentlichen Rede, sondern im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
    Am Telefon ist jetzt Günter Verheugen. Er war von 1999 bis 2010 in verschiedenen Funktionen für die EU-Kommission tätig, unter anderem als Erweiterungskommissar. Schönen guten Morgen!
    Günter Verheugen: Guten Morgen!
    Armbrüster: Herr Verheugen, wie müssen wir uns das vorstellen? Hat diese Antwort von Angela Merkel Jubel und Begeisterungsströme ausgelöst im Elysee-Palast? Was schätzen Sie?
    Verheugen: Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Die Reaktion aus dem Elysee war zwar positiv, aber doch sehr verhalten. Das Ganze wirkt ja wie eine Pflichtübung. Man hat das Gefühl, die Bundeskanzlerin habe gesagt, na ja, damit der Macron endlich Ruhe gibt, muss man jetzt endlich was machen. Aber es ist kein Konzept. Es ist keine, in die Zukunft weisende Orientierung, die mit diesem Interview gegeben wird, sondern eine ganze Reihe von Versatzstücken werden da angeboten und jedes einzelne dieser Versatzstücke, das die Kanzlerin anbietet, wirft eine ganze Menge von Fragen auf, die sie nicht beantwortet hat.
    "Es geht nicht nur um einen neuen Haushalt"
    Armbrüster: Können Sie uns da ein Beispiel nennen?
    Verheugen: Zum Beispiel: Sie haben ja eben schon hingewiesen auf die Idee eines Europäischen Währungsfonds und auf die Idee eines zusätzlichen Investitionshaushaltes. Wenn wir einen Europäischen Währungsfonds machen, was ist der Unterschied zum IWF? Werden wir dann aus dem IWF rausgehen, oder wie wird unsere Rolle im IWF sein? Und warum wollen wir einen Europäischen Währungsfonds in einem Projekt, bei dem es darum geht, die europäische Gemeinschaft zu stärken, der nicht innerhalb der Gemeinschaft organisiert wird, sondern zwischen den Staaten? Hier halte ich die Kritik der Grünen für absolut berechtigt zu sagen, das muss selbstverständlich, wenn überhaupt, eine Gemeinschaftseinrichtung sein.
    Was den zusätzlichen Haushalt angeht: Die Kommission gibt im Jahr zwischen 50 und 60 Milliarden Euro aus für die verschiedenen Strukturfonds. Und jedes Jahr wird verkündet, das sei ein großer Erfolg. Die Wahrheit ist völlig anders. Mit dem vielen, vielen Geld, was wir aus dem Gemeinschaftshaushalt ausgeben für die Strukturfonds, wird ein nur sehr geringer ökonomischer Effekt erzielt. Es geht nicht um einen neuen Haushalt. Worum es wirklich geht ist, die Mittel, die zur Verfügung stehen, sinnvoll und effektiv einzusetzen und zum Beispiel zu konzentrieren auf die Dinge, die die Kanzlerin genannt hat. Aber dazu brauchen wir gar keine neuen Mittel. Es sind genug da.
    "Ein fundamentales deutsches Missverständnis"
    Armbrüster: Wenn ich jetzt noch mal auf Ihre Einschätzungen zu sprechen komme. Müssen wir nicht, wenn wir sehen, was zum Beispiel in Italien derzeit passiert, Verständnis für all diejenigen haben, die sagen, lasst uns da mal mit solchen weitreichenden Plänen für weiteres Geld für Europa, möglicherweise für diese ganzen neuen Pläne, lasst uns mal einen Gang zurückschalten und auf Sparflamme fahren, weil so besonders ausgeprägt ist ja zurzeit die Solidarität innerhalb dieser Europäischen Union gar nicht?
    Verheugen: Ich würde es nicht so ausdrücken, aber im Grundsatz halte ich es für richtig zu sagen, das europäische Problem oder das Problem der Europäischen Union besteht nicht darin, wie wir Geld mobilisieren können für verschiedene Projekte. Wenn man sich die Europäische Investitionsbank ansieht: Die hat so viel Geld; sie weiß überhaupt nicht wohin damit. Es fehlt an brauchbaren Projekten. Es fehlt nicht am Geld. Insofern stimme ich zu zu sagen, die Diskussion geht in die falsche Richtung, wenn nur darüber geredet wird, wieviel Geld wir brauchen.
    Dahinter steckt ein grundlegendes fundamentales Missverständnis, gerade ein deutsches Missverständnis. Wir gucken immer auf den Haushalt und nichts sonst. Uns interessiert die schwarze Null und was weiß ich, dass ganz genau eingehalten werden die Vorschriften des Stabilitätspaktes. Aber wir verweigern den Blick auf die Lage der Realwirtschaft. Was ist wirklich in den Ökonomien der einzelnen Mitgliedsländer los. Da führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Der Euro ist nicht für alle gleich gut. Und das ist nicht eine Folge der Politik, die diese Länder betreiben, sondern das ist ein Strukturproblem, das wir von Anfang an hatten, und wir tragen dazu bei als Deutsche, dieses Strukturproblem zu vergrößern, indem wir nichts, aber auch gar nichts tun, um unsere gewaltigen Exportüberschüsse abzubauen. Im Interview der Kanzlerin war auch davon mit keinem Wort die Rede, welchen Beitrag Deutschland leistet zur Destabilisierung der Wirtschaft in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern. Das fehlt hier.
    "Instrumente für gemeinsame Außenpolitik haben wir"
    Armbrüster: Was raten Sie dann Emmanuel Macron? Was sollte er zurückantworten?
    Verheugen: Wir befinden uns hier auf der Ebene der allerhöchsten Diplomatie. Da geht man höflich und freundlich miteinander um, normalerweise jedenfalls. Aber er konnte ja nicht viel anderes sagen als das, was er im Elysee-Palast jetzt gesagt hat: Wir sind zufrieden. Aber ich denke, dass im vertraulichen Gespräch er sagen muss, dass die einzelnen Punkte deutlich konkretisiert werden müssen.
    Es gibt ja noch einen anderen, der Macron sehr am Herzen liegt und wo die Kanzlerin erstaunlich vage geblieben ist. Das ist dieser ganze Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Es fällt ja auf, dieses Interview hat zwei wirkliche Schwerpunkte. Das eine ist die Zukunft der Währungsunion, das andere ist die Frage der Selbstbehauptung Europas, was die Kanzlerin interpretiert als die Fähigkeit zur gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik, oder sie sagt Sicherheitspolitik. Interessanterweise sagt sie aber nicht, dass wir dahin nur kommen können, wenn wir in der Außenpolitik die Mehrheitsentscheidung einführen. Denn Instrumente für eine gemeinsame Außenpolitik, die haben wir ja in großer Zahl.
    "Nachsitzen und Nachbessern!"
    Armbrüster: Herr Verheugen, entschuldigen Sie, wenn ich Sie da unterbreche. Aber muss an dieser Stelle nicht spätestens dem französischen Präsidenten klar sein, dass er mit einer sehr zurückhaltenden Antwort rechnen muss, gerade von Deutschland, gerade von einem Deutschland, wo Sicherheits- und Verteidigungspolitik immer extrem auf dem Prüfstand steht?
    Verheugen: Ja. Das ist nicht nur in Deutschland so. Das ist überall so. Ich halte es auch für sehr unwahrscheinlich, dass wir zu einer wirklich gemeinschaftlichen Außen- und Sicherheitspolitik kommen werden, bevor nicht eine Endphase in der Entwicklung der europäischen Integration erreicht wird. Aber einzelne Schritte kann man schon tun. Zum Beispiel ist es ganz vernünftig zu sagen, wir schauen uns mal an, was in den einzelnen Mitgliedsländern im militärischen Bereich gemacht wird, ob man hier nicht Synergieeffekte erzielen kann. Es ist allerdings vor 15 Jahren schon beschlossen worden, das zu machen. Die Ergebnisse sind zu besichtigen in Brüssel und sie sind sehr ernüchternd.
    Armbrüster: Wie lässt uns das jetzt alles zurück? Was heißt das für die deutsch-französischen Beziehungen, auch für diesen immer wieder beschworenen deutsch-französischen Motor in der Europäischen Union?
    Verheugen: Für mich heißt das Nachsitzen in Berlin. Dieses Interview, das kann nicht alles sein. Das bleibt auch unter dem Anspruch dieser Regierung zurück, unter dem Anspruch, den der Koalitionsvertrag erhebt, in dem ja die Europapolitik – und da waren die Akteure ja sehr stolz darauf – an erster Stelle steht. Die Europapolitik sollte das Markenzeichen dieser Großen Koalition sein. Da kann ich nur sagen: Nachsitzen und Nachbessern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.