"Stehen ist nicht in Ordnung, ich muss sofort weiterlaufen. Acht Stunden laufen, laufen, laufen. Nicht stehen, nicht reden, nicht sitzen vor allem."
Caro Lobig erzählt im ZDF wie das war, als sie bei Zalando gearbeitet hat. Nicht als Fußmodell für die neueste Schuhkollektion, sondern als "Picker". So nennt der Versandhändler seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf der niedrigsten Stufe der Zalando-Fresskette. Picker sind den ganzen Tag auf den Beinen, rennen durch das Lager und suchen die Bestellungen zusammen. Caro Lobig hat drei Monate bei Zalando in Erfurt ausgehalten. Undercover, bis man sie als Journalistin enttarnte. Wer sie verpfiffen hat, weiß sie bis heute nicht. Lobig ist eine der "Lastenträgerinnen", deren Protokolle Günter Wallraff als Herausgeber in seinem neuesten Buch veröffentlicht. Lobigs Wege durch das Zalando-Lager summierten sich an manchen Tagen auf 25 Kilometer, berichtet die junge Stipendiatin der Wallraff-Stiftung in ihrem Text:
"In den ersten zwei Wochen komme ich vor Schmerzen an den Füßen und in den Kniekehlen nur noch humpelnd nach Hause. Als ich am Ende meiner zweiten Woche kaum noch laufen kann und mich auf meinen Wannenwagen setze, kommt sofort eine Kollegin, sie ist wie ich 21 Jahre alt und seit ein paar Monaten dabei: "Lass das lieber, das sehen die gar nicht gerne, da wirst du gleich angeschnauzt."
In gewohnter Klassenkämpfer-Manier
Günter Wallraff, Undercover-Haudegen der ersten Generation, guckt in seinem Buch "Die Lastenträger" in die dunklen Ecken des deutschen Aufschwungs. Und das macht er in gewohnter Klassenkämpfer-Manier.
"Es sind Bedingungen, die menschenunwürdig sind. Wo Menschen nichts mehr gelten. Wo sie nur noch auf den effektivsten Nutzgewinn für dieses Unternehmen gelten. Wegwerfmenschen, die saisonbedingt geheuert, gefeuert, verschlissen werden. Dabei noch kontrolliert, gejagt, gehetzt, in Angst versetzt. Solche Arbeitsplätze, da kann man drauf verzichten."
Wallraff war diesmal nicht selber als Reporter unterwegs. Von ihm stammen Vorwort und Postskriptum, und von ihm kommt auch das Geld, das für die langwierige Recherche eines Teils der Themen notwendig war. Man könnte darüber motzen, dass sich Undercover-Journalisten in ihren Reportagen selber inszenieren. Oder dass einige der Artikel im Buch nur der zweite Aufguss für eine bereits bei RTL oder im Ersten gelaufene Reportage sind.
"Ich habe vier Kameras bei mir. Eingeschmuggelt in die riesigen Werkshallen von Mercedes Benz. Stuttgart Untertürkheim, hier habe ich undercover recherchiert und erstaunliche Methoden eines Großkonzerns aufgedeckt."
"Der Staat in der Dummenrolle"
Motzen wäre aber nicht angebracht, vielmehr die Undercover-Reportagen in dem Buch zu loben. Wie die von Jürgen Rose, Redakteur beim SWR. Sehr beeindruckend, wenn auch nicht mehr ganz taufrisch. Rose hat im vergangenen Jahr als Werkvertragsarbeiter bei Daimler Benz gearbeitet. Lohnsklaverei nennt er dieses System. Auch bei diesem renommierten Unternehmen, in dem die Macht der Gewerkschaften eigentlich berüchtigt ist, arbeiteten 2013 Vollzeitkräfte, die von ihrem Lohn nicht leben konnten. Sie waren bei Fremdfirmen beschäftigt, die sie mit Werkverträgen weit unter Tariflohn bezahlten. Ein Kollege berichtet dem Reporter, dass er 8,76 Euro pro Stunde verdient. Das ist zwar knapp oberhalb des vorgesehenen Mindestlohns, aber weit unter dem Tariflohn von 17 Euro.
"'Ich bekomme vom Staat noch ordentlich was drauf', erzählt er. Hier steht er also vor mir, der lebende Beweis. Es gibt sie wirklich, die Hartz IV-Aufstocker mitten in der Werkshalle des Nobelherstellers Daimler."
"'Ich bekomme vom Staat noch ordentlich was drauf', erzählt er. Hier steht er also vor mir, der lebende Beweis. Es gibt sie wirklich, die Hartz IV-Aufstocker mitten in der Werkshalle des Nobelherstellers Daimler."
Für den Undercover-Reporter Jürgen Rose finanzieren deutsche Steuerzahler also indirekt die Lohnkostensparmaßnahmen bei Daimler. Günter Wallraff hält das für fragwürdig.
"Im Grunde genommen ist der Staat hier selber in der Dummenrolle. Vordergründig wird gesagt, es werden Standorte geschaffen, Arbeitsplätze geschaffen. Aber was für Arbeitsplätze sind das? Was bringt es der Struktur? Der Staat finanziert eigentlich hier ein System, was sich der hiesigen Rechtsordnung entzieht."
Autoren nicht immer klar
Dies galt im vergangenen Jahr augenscheinlich auch für Teile der deutschen Fleischindustrie. Wobei hier die Stundenlöhne der Daimler-Werkvertragler noch deutlich unterlaufen werden. Nur auf die Hälfte des künftigen deutschen Mindestlohns brachten es die zumeist ausländischen Fleischzerteiler zum Zeitpunkt der Recherche. Ein Unternehmer wird mit den Worten zitiert: Er finde einfach keine deutschen Mitarbeiter. Das könnte an den Löhnen liegen. Also müssen Menschen wie diese Bulgarin ran, die im Mittelpunkt des Artikels "Herrscher übers Schweineland" stehen.
"Gearbeitet hat Katya mindestens an fünf Tagen, meist zwischen 10 und 14 Stunden, mal Früh-, mal Spätschicht, oft auch samstags. Prinzipiell müssen die Werkvertragler auf Abruf bereitstehen. Wer gerufen wird, muss kommen. Nur selten wurde Katya nicht gerufen. Der Stundenlohn von Katya schwankte zwischen 4,20 und 4,50 Euro."
Hier zeigt das Buch Schwächen. Seltsamerweise gelingt es auch nach einigem Blättern - die Namen der Autoren und biografische Informationen befinden sich im letzten Teil des Buches - nach einigem Blättern also gelingt es nicht, herauszufinden, wer den Schweineland-Text geschrieben hat. Vielleicht Albrecht Kieser? Von dem heißt es hinten, er sei verantwortlich für Texte, die sonst niemandem zugeordnet sind. Wie ist das denn zu verstehen?
Von den Undercover-Reportagen hätte ich gerne mehr gelesen. Stattdessen liefert mir das Buch viel Gewerkschaftsrhetorik. Einerseits. Andererseits stinkt dieses Lohndumping-System, das im Schatten der deutschen Wirtschaftseuphorie entstanden ist, wirklich zum Himmel. Irgendwie scheinen wir das gerne und oft zu übersehen. Und Günter Wallraff hat völlig recht, wenn er darauf hinweist.
"Eine Konjunktur, die sich nur auf die momentane wirtschaftliche Effektivität und den höchstmöglichen Gewinn, der dann jeweils erwirtschaftet wird, beruft, das ist kein System von Dauer."
Günter Wallraff (Hrsg.): "Die Lastenträger. Arbeit im freien Fall - flexibel schuften ohne Perspektive". Verlag Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, 14,99 Euro, ISBN: 978-3-462-04625-0.