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Günter Wallraff
"Wir müssen auf verfolgte Kollegen aufmerksam machen"

"Ich muss selbst erleben und mit erleiden", sagt Günter Wallraff über seine Motivation, investigativ zu recherchieren. Schon als Jugendlicher habe er sich in die Welt anderer hineinversetzen wollen. Kurz vor seinem 75. Geburtstag berichtet er im Dlf-Interview über aktuelle Recherchen und seinen Einsatz für verfolgte Kollegen.

Günter Wallraff im Gespräch mit Stefan Koldehoff |
    Portait, Günter Wallraff steht vor einer Mauer
    Der Schriftsteller Günter Wallraff wurde am 1. Oktober 1942 in Burscheid geboren. (dpa / Caroline Seidel)
    Stefan Koldehoff: Den 50. hat er mit Vietnamesen gefeiert, die kurz zuvor - im August 1992 - die Angriffe von Rechtsradikalen in Rostock-Lichtenhagen überlebt hatten. Zum 60. stiftete er eine Mädchenschule in Vietnam - mit dem Geld einer gerade ausbezahlten Lebensversicherung. Und ziemlich sicher wird Günter Wallraff auch seinen 75. nicht mit einer rauschenden Party begehen. Der ist am Sonntag, am 1. Oktober - und da haben wir keine Sendung. Also habe ich heute schon mit dem Godfather des Investigativ-Journalismus gesprochen und ihn gefragt: Heute leisten sich manche Medienhäuser ganze Redaktionen, die undercover recherchieren. Sie waren damals - Gerling-Konzern, BILD-Zeitung, Leiharbeiter - einer der ersten, die das in Deutschland getan haben, und Sie waren ein Einzelkämpfer. Wie kam's dazu? Kam die Methode zu Ihnen, oder Sie zur Methode?
    Günter Wallraff: Ja, da ist wohl was zusammengekommen, was zusammengehört. Ich habe ja erst diese Tarnung auch mit anderen Outfits, anderen Papieren, mir erlaubt, als ich unter meinem wirklichen Namen nicht mehr angestellt wurde und Steckbriefe in Betrieben kursierten, wo vor meiner Einstellung gewarnt wurde. Vielleicht war das sogar sehr früh schon vorweggenommen.
    Ich habe mal einen Tagebucheintrag wiedergefunden, ich glaube, das war ich 18/19, als ich noch Lyrik machte. Da steht: Ich bin mein eigener heimlicher Maskenbildner, setze mir ständig neue Masken auf, um mich zu suchen, in einem von mir zu verbergen, und wenn ich mich gefunden habe und so weiter. Das hat mich erschreckt, dass ich so früh eigentlich schon diesen Weg vorgezeichnet habe, obwohl ich den selber mir nie vorstellen konnte.
    Es ist quasi in Erfüllung gegangen, es hat … Ich kann nicht anders. Und von daher gesehen habe ich vielleicht auch als Schüler ein Theoriedefizit, schlechter Schüler in abstrakten Fächern, und ich muss es selbst erleben. Ich muss dabei sein, ich muss es auch zum Teil mit erleiden. Und dann ist bei mir auch ein Engagement, dann kann ich manchmal auch was verändern.
    Recherche-Stipendium für jüngere Journalisten
    Koldehoff: Und es ging damals schon um die Arbeitswelt, und dem Thema sind Sie eigentlich bis heute treu geblieben.
    Wallraff: Ja, weil es zu wenig kritisch berücksichtigt wird. Gut, es gibt inzwischen andere Kollegen, die auch mit anderen Methoden sich dem Ganzen annähern, jeder hat seine Möglichkeiten. Aber die wirklichen Insiderberichte, sich dem auszusetzen und dann auch das Unhaltbare aufzudecken, dass sich da was ändert, das ist leider - sehr, sehr marginal nur wird das wahrgenommen. Sicher weil auch viel Zeit dafür gebraucht wird, sehr viel Entbehrung, sehr viel …
    Ja, man muss sein eigenes Leben hinter sich lassen, wenn man es ernsthaft betreibt, und langfristig einen Blick nehmen. Aus dem Grunde habe ich auch eine zusätzliche Stiftung gegründet, wo jüngere Journalisten, die nicht freigestellt werden - und das ist ja kaum der Fall -, die werden von mir mit einem Stipendium ausgestattet, damit sie sich Wochen, vielleicht Monate in solchen Bereichen umsehen. Da sind wieder welche unterwegs, da ist auch das erste Buch entstanden, "Lastenträger" heißt das. Da sind Zustände, und gerade auch in Alten- und Pflegeheimen, in Kliniken, wo 15, 18 Prozent Profit den Aktionären versprochen wird, und da geht es drunter und drüber und da ist die Menschenwürde weitgehend außer Kraft gesetzt, und darum ist das auch für mich und auch für "Team Wallraff" nach wie vor ein Thema.
    Journalisten-Kollegen müssen Öffentlichkeit herstellen
    Koldehoff: Herr Wallraff, der Deutschlandfunk ist Mitverleiher eines Journalistenpreises, der nach Ihnen benannt ist, der auch in diesem Jahr wieder im Juni vergeben worden ist, an Ahmet Şık, der ihn bisher auch nicht entgegennehmen konnte, weil es immer noch Kolleginnen und Kollegen gibt, die für investigativen, für kritischen Journalismus im Gefängnis landen. Haben Sie da irgendwelche Einflussmöglichkeiten?
    Wallraff: Nun, ich habe ihn ja vorgeschlagen, weil er ja in der Türkei unter großen Gefahren, großen Risiken investigativ arbeitet, über die Gülen-Bewegung das kritische Buch geschrieben hat, als Erdogan und Gülen noch Seite an Seite marschierten. Und jetzt sitzt er bereits Oktober wieder inhaftiert, und ich werde versuchen, eine Erlaubnis zu bekommen, ihn im Gefängnis zu besuchen. Wird unter Erdogan zurzeit wohl kaum möglich sein.
    Er muss freikommen und da setze ich mich und andere auch für ein. Und das Geld, was ich hier gestiftet habe, das werde ich seiner Frau zukommen lassen. Das ist im Moment eine etwas sehr komplizierte Geschichte, weil die Türkei willkürlich Verhaftungen durchführt und … ja, Rechtssicherheit, den Begriff darf man gar nicht in den Mund nehmen. Das ist ein Willkür-Regime, da werden Menschen wie Geiseln genommen, um dann wieder in Verhandlungen mit der Bundesregierung vielleicht was rauszupressen. Also, da ist ein Regime wirklich, wo wir auch gefordert sind als Kollegen, um dort Öffentlichkeit herzustellen und auch jetzt die kommende Regierung dazu zu bringen.
    Es müssten Hermesbürgschaften aufgehoben werden, denn das ist eine Sprache, die so ein Diktator in spe versteht. Und ansonsten ist das eine Kapitulation der europäischen Regierungen vor so einem Regime. Auch mein Kollege Dogan Akhanli, der in Madrid festgehalten wird, dem Sachen unterstellt werden, die reine Konstruktion sind oder ursprünglich mal unter Folter erpresst wurden, und der jetzt über Interpol da der Türkei zur Auslieferung festgehalten wird. Hier haben sich ja Politiker zum Glück eingesetzt, aber er sitzt immer noch in Madrid und müsste längst nach Deutschland zurückkommen. Also, hier hat die Türkei einen unheilvollen Einfluss.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.