Kurdistan ist kein romantischer Winkel, sondern ein großes, ein hartes, aber auch ein potentiell reiches Land. Zum Beispiel stammt fast die Hälfte des irakischen Erdöls aus kurdischem Boden. Die größten Flüsse des Nahen Ostens, Euphrat und Tigris, von deren Wasser die Türkei zehrt und Syrien und der Irak, entspringen in Kurdistan. Das von jeher von Kurden besiedelte Kurdistan ist mit 500.000 Quadratkilometern Fläche so groß wie Frankreich und etwas größer als das wiedervereinigte heutige Deutschland und Österreich zusammengenommen. Mit anderen Worten bilden die Kurden in ihrem angestammten Land keine Minderheit, sondern sie sind die Mehrheit. Aber trotzdem ist dieses Land, Kurdistan, auf keiner Landkarte zu finden.
In Vergangenheit wie Gegenwart waren die Kurden, so der Autor, stets nur Figuren auf dem Schachbrett anderer. Ihre Kultur konnten sie, allem politischen Wechselspiel zum Trotz, zwar über Jahrhunderte behaupten, ihre staatliche Souveränität allerdings nie über einen nennenswerten Zeitraum hinaus sichern. Verträge, die ihnen Eigenständigkeit versprachen, wurden gebrochen, ihre Interessen stets verraten. Die Liste derer, die sie benutzten, ist lang: In den letzten Jahrzehnten waren es vor allem die Iraker, Iraner, Syrer und Türken, Briten, Franzosen, Russen und – gleich mehrfach – die Amerikaner.
Ein Beispiel: Im März 1988 ließ Saddam Hussein im Norden Giftgas abwerfen, 5000 Kurden starben, so Deschner. Die USA, mit dem irakischen Diktator noch eng verbunden, suchten das Verbrechen zu vertuschen. Nur drei Jahre später, der Golfkrieg unter George Bush senior hatte gerade begonnen, ermunterten die Amerikaner die Kurden zum Aufstand gegen Bagdad. Nachdem diese zu den Waffen gegriffen hatten, ließen die USA ihre Verbündeten wieder fallen. Sie waren nach den Worten des Autors "an einem aktuelleren Vorteil orientiert und überließen die Kurden ungerührt der blutigen Rache Bagdads."
Auf Drängen Frankreichs und Großbritanniens wurden 1991 im Norden und Süden des Irak Flugverbotszonen zum Schutz der kurdischen und schiitischen Bevölkerung eingerichtet. Britische und amerikanische Kampfflugzeuge schützten sie fortan vor dem Zugriff Saddam Husseins. Die Kurden gewannen eine relative Eigenständigkeit – die politischen Folgen sind aber, so Günther Deschner, noch nicht abzusehen:
Schon jetzt haben die Kurden in dieser autonomen Region, im Nordirak ihre Schwierigkeiten damit, sich als Iraker zu fühlen. Auch wenn ihre Politiker beschwören mögen, dass sie eine
föderale Ordnung im Irak anstreben. Denn nach zwölf Jahren kurdischer Freiheit unter dem Luftschirm der nördlichen
Flugverbotszone haben die jungen Kurden im Irak keine irakische Identität. Sie besuchen keine irakischen Schulen mehr, sondern schon längst nur kurdische Schulen.
Eine Entwicklung, die das Nachbarland Türkei mit Argusaugen beobachtet. Dort leben 15 Millionen Kurden, deren Existenz noch vor wenigen Jahren schlicht geleugnet wurde. Der
Unabhängigkeitskampf der türkischen Kurden, eng verbunden mit dem Namen ihres Führers Abdullah Öcalan, beschäftigte noch in den 90er Jahren sogar die deutsche Innenpolitik. Etwa 500.000 bis 600.000 leben in der Bundesrepublik, statistisch als
türkische Staatsbürger geführt. Öcalan, seit 1998 in türkischer Haft, wurde auch in Deutschland gesucht, seine Partei, die Arbeiterpartei Kurdistans, besser bekannt unter dem Kürzel PKK, in der Türkei wie in Deutschland verboten.
Die türkische Politik steckt in einem echten Dilemma. Dem
unbedingten Ziel, Mitglied der Europäischen Union zu werden, steht eine Behandlung der größten ethnischen Minderheit des Landes gegenüber, die demokratischen Gepflogenheiten Hohn spricht. Und: Mit allen Mitteln sucht man eine kurdische Autonomie oder gar einen kurdischen Staat im Nordirak zu verhindern, weil er dem Unabhängigkeitsstreben der Kurden im eigenen Land nach der Zerschlagung der PKK wieder Auftrieb geben dürfte. Ein selbständiges Kurdistan im Irak würde, zumal, wenn es über Einnahmen aus den Ölfeldern des Nordens verfügen könnte, als Angriff auf die türkische Souveränität verstanden - so Deschners Einschätzung. Die mögliche Rückführung von Kurden, die unter Saddam Hussein aus dem Norden vertrieben wurden, belastet schon jetzt die traditionell guten Beziehungen der Türkei zu den USA. Prüfstein ist die 3000 Jahre alte Stadt Kirkuk, das "kurdische Jerusalem", unter Saddam entschlossen arabisiert, das die nordirakischen Kurden zur Hauptstadt machen wollen.
Also, ich glaube, dass es sehr überraschend wäre, wenn es den Kurden nicht gelingen würde, ihre Hauptstadt Kirkuk tatsächlich als Hauptstadt zu definieren. Dadurch ist der kurdische Zug auf ein Gleis gesetzt worden, wo er jedenfalls ein Stückchen weiterfahren kann, ein Stückchen weiter in Richtung Selbstbestimmung, Autonomie, Verwirklichung des kurdischen Volkes in einem kurdischen Staat, wie immer er heißen mag.
Ob der Autor Recht behalten wird, dürfte sich in den kommenden Monaten bis Jahren entscheiden. Dass die Kurdenfrage auf die Bühne internationaler Politik gelangt ist, steht jedenfalls außer Zweifel. Ihre Komplexität und Sprengkraft wird durch Deschners sachlich-fundierte, spannend geschriebene Darstellung deutlich. Ein solches Buch war überfällig; es sollte viele Leser finden.
Reinhard Backes rezensierte: Günther Deschner: Die Kurden. Volk ohne Staat. Der Band ist im Herbig Verlag erschienen. 349 Seiten, 24 Euro 90.