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Gustave Doré
Der Vater des Comics

Das Straßburger Musée d'Art Moderne et Contemporain beleuchtet das Frühwerk von Gustave Doré. Der malte zum Beispiel exzesshafte Gewaltdarstellungen und bereitete den Weg für Comic und Manga.

Von Änne Seidel |
    Zeitgenössisches Porträt des französischen Grafikers, Malers und Bildhauers Gustave Doré (1832-83)
    Zeitgenössisches Porträt des französischen Grafikers, Malers und Bildhauers Gustave Doré (1832-83) (picture alliance / dpa)
    Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass Dorés Frühwerk ausgerechnet in diesen Tagen in Straßburg ausgestellt wird. Tage, in denen Europa erneut auf die Krim blickt – genau wie auch Mitte des 19. Jahrhunderts: Doré ist Anfang 20 und die Krim versinkt im Krieg, Russland kämpft gegen das Osmanische Reich, Großbritannien und Frankreich. 3.000 Kilometer westlich der Front beflügelt der Krieg die patriotischen Fantasien des jungen Illustrators: In seinem Pariser Atelier entwirft Doré "Die Historie vom heiligen Russland" – ein bitterböser Band mit 500 Zeichnungen, in denen er die Geschichte Russlands als bloße Abfolge von Bacchanalen und Gemetzeln inszeniert.
    Aus der Sicht des Historikers vollkommen indiskutabel, aber zeichnerisch ist Doré seiner Zeit weit voraus. Die exzesshaften Gewaltdarstellungen können problemlos mit Frank Millers düsterer Comicreihe "Sin City" aus den 90er-Jahren mithalten: Abgehackte Köpfe, aufgeschnittene Mägen, zerfetzte Gliedmaßen. Doré scheint keine Grenzen zu kennen. Doch dann, ganz unvermittelt zwischen all den kleinteiligen Schwarz-Weiß-Litografien: ein überdimensionierter blutroter Fleck, so groß, dass er eine komplette Seite einnimmt. In der Bildunterschrift erklärt der Künstler lapidar:
    "Kneifen wir angesichts all dieser Verbrechen die Augen zusammen, um davon nicht mehr als einen Gesamteindruck sehen zu müssen."
    Dorés roter Fleck: Nichts anderes als Abstraktion. Allerdings viele Jahrzehnte bevor die Abstraktion offiziell Einzug in die bildende Kunst hält. Und lange bevor der Dadaist Francis Picabia einen ganz ähnlichen Klecks zu Papier bringt und sein Werk provokativ als "Heilige Jungfrau" betitelt. Die Straßburger Ausstellung wagt diese Gegenüberstellung – genau wie zahlreiche andere: Zeichnungen von Max Beckmann und Paul Klee hängen neben Skizzen, die Doré für Pariser Satirezeitungen angefertigt hat.
    Der Versuch, durch diese Vergleiche die tollkühne Spontanität des jungen Doré zu unterstreichen, gelingt. In seiner jugendlichen Unbeschwertheit übertreibt er und überspitzt, kombiniert Bild und Text und prägt – wie nebenbei – die noch junge Kunstform des Comics. Vier komplette Bände wird das Wunderkind Doré bis zu seinem 23. Geburtstag entworfen haben. Im ersten Band - "Die Taten des Herkules" - hält er sich noch an eine klassische Abfolge von rechteckigen Panels. Der Einfluss Rodolphe Töpffers ist unübersehbar – Töpffer gilt mit seinen satirischen Bildergeschichten als einer der Väter des modernen Comics.
    Aber schon im zweiten Album wirft Doré alles bisherige über den Haufen. Er verzichtet auf die starren Panel-Rahmen, variiert Größe und Anordnung der Bilder. Ein Stilmittel, ohne das der heutige Comic gar nicht mehr auskommen würde. In der Ausstellung zeigen das Arbeiten zeitgenössischer Comic-Zeichner wie des Franzosen Vincent Paronnaud, Co-Autor des Animationsfilms "Persepolis".
    In seinem Russland-Band kehrt Doré ein paar Jahre später allerdings zu den klassischen Panels zurück, wenn auch nur kurz – und mit einem Augenzwinkern. Denn jetzt dienen die Panels nur noch als Platzhalter: Sie bleiben leer. In der Bildunterschrift heißt es:
    "Da das folgende Jahrhundert ebenso farblose Ereignisse hervorbrachte wie das vorherige, hatte ich Angst, lieber Leser, Sie gegen mein Werk aufzubringen, indem ich Sie mit zu langweiligen Zeichnungen belaste. Mein Verleger, pflichtbewusst wie er ist, ermunterte mich allerdings dazu, wenigstens den für die Zeichnungen vorgesehenen Platz anzudeuten."
    Vielleicht waren visuelle Gags wie dieser nur möglich, da Doré seine frühen Arbeiten selbst nicht ganz ernst nahm. Doré strebte nach öffentlicher Anerkennung – und die erwarb man zu seiner Zeit nicht mit Zeichnungen, sondern als Maler oder Bildhauer. Wenn er sein Geld aber vorerst als Grafiker verdienen musste, dann, sagte sich Doré, wenigstens als Illustrator von Weltliteratur.
    Nach den vier frühen Bänden war deshalb Schluss mit den Experimenten. Doré wandte sich den Werken zu, für die er bis heute berühmt ist: Er illustrierte alles von Dante über Cervantes und Shakespeare bis hin zur Bibel. Dorés Frühwerk, obwohl aus heutiger Sicht so radikal modern, geriet in Vergessenheit.
    Gut, dass es in Straßburg jetzt wiederbelebt wird – und dass es in der Nachbarschaft der Künstler zu sehen ist, die sicherlich ihre Freude an Dorés hemmungsloser Fantasie gehabt hätten.