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Gustave Flaubert: "Bouvard und Pécuchet"
Erste Edition des gesamten Werkkomplexes

Bis zu seinem Tod 1880 schrieb Gustave Flaubert unablässig an seinem radikalen Roman "Bouvard und Pécuchet", der Fragment blieb und in seiner Bedeutung nicht sofort erkannt wurde. Die vierbändige Edition des Wallstein Verlags bietet nun eine Möglichkeit, sich dieses komplexe Werk anzueignen.

Von Rainer Moritz |
    Buchcover: Gustave Flaubert: „Bouvard und Pécuchet. Der Werkkomplex“
    Die vier Bände Gustave Flaubert: "Bouvard und Pécuchet" wurden als Werkkomplex herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt und annotiert von Hans-Horst Henschen (Buchcover: Wallsteinverlag, Hintergrundbild: dpa / picture alliance / Kultur)
    Gustave Flaubert, 1821 geboren und 1880 gestorben, zählt seit langem zu den Klassikern der europäischen Literatur. Seine Romane "Madame Bovary" und "L’éducation sentimentale" sind Meilensteine der Gattung und weisen ihren Autor nicht nur als Meister des psychologischen Realismus, sondern auch als scharfsinnigen Analytiker der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts aus. Während das Interesse an Flauberts Zeitgenossen Honoré de Balzac und Émile Zola eher schwächer zu werden scheint, erfreut sich Flaubert bei Lesern und Literaturwissenschaftlern gleichermaßen großer Beliebtheit. Vor allem "Madame Bovary" ragt aus dem Fundus realistischer Romane jener Zeit heraus und schlägt für viele eine Brücke zur klassischen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts. Auch an neuen Flaubert-Übersetzungen mangelt es im deutschsprachigen Raum nicht. Elisabeth Edl hat so zuletzt vielgerühmt "Madame Bovary" und die "Trois Contes" – darunter die wunderbar empathische Erzählung "Un cœur simple"/"Ein schlichtes Herz" – ins Deutsche übertragen.
    Weitaus weniger bekannt freilich ist jenes Werk, an dem Flaubert bis zu seinem Tod arbeitete und das er selbst für den Höhepunkt seines Schaffens hielt: der mehrteilige Zyklus um zwei Helden traurigster Gestalt, um die aus Paris in die Provinz fliehenden Messieurs Bouvard und Pécuchet. Unermüdlich, ja besessen schrieb Flaubert an diesem alle Romankonventionen sprengenden Werk. Vollenden konnte er es nicht; es blieb Fragment. Zu skizzieren, worum es in "Bouvard und Pécuchet" geht, scheint auf den ersten Blick leicht. In einem grandios einfachen Einstieg präsentiert Flaubert seine Hauptfiguren, die sich – wie von einem Magneten angezogen – in Paris in die Arme laufen:
    "Da eine Hitze von dreiunddreißig Grad herrschte, lag der Boulevard Bourdon völlig verödet da.
    Etwas tiefer erstreckte sich in gerader Linie der tintenschwarze Wasserspiegel des Kanals Saint-Martin in den Grenzen seiner beiden Sperrschleusen. Auf halber Strecke lag ein mit Holz beladener Frachtkahn vor Anker, und an der Uferböschung türmten sich zwei Reihen Fässer.
    Jenseits des Kanals schnitten die Lücken zwischen den von Speicherschuppen zerteilten Häuserzeilen azurblaue Felder aus dem weiten, wolkenlosen Himmel, und der Widerschein der Sonneneinstrahlung tauchte die weißen Fassaden, die Schieferdächer und die granitenen Quais in grellen Glanz. Aus der Ferne drang ein verworrenes Rauschen in die laue Luft, und die ganze Szenerie wirkte in der Sonntagsruhe und der Trostlosigkeit brütender Sommertage wie erstarrt.
    Zwei Männer tauchten auf.
    Der eine kam von der Bastille, der andere vom Jardin des Plantes. Der größere, ganz in Leinen gewandet, ging mit in den Nacken geschobenem Hut, die Weste aufgeknöpft und die Halsbinde in der Hand. Der kleinere, dessen Rumpf in einem kastanienbraunen Gehrock steckte, barg den Kopf unter einer Kappe mit spitzem Schirm.
    Auf halber Strecke des Boulevards angekommen, nahmen sie gleichzeitig Platz, auf ein und derselben Bank."
    Was sich auf dem Land erleben lässt und warum Flauberts Helden scheitern
    Was da als zufällige Bekanntschaft beim Spaziergang einsetzt, erweist sich rasch als folgenreiche Schicksalsgemeinschaft. Beide Männer gehen den gleichen Beruf nach: Sie arbeiten als Kopisten, der eine – Witwer Bouvard – in einem Handelshaus, der andere – Junggeselle Pécuchet – im Marineministerium. Binnen kurzer Zeit entdecken sie verblüffende Gemeinsamkeiten, angefangen damit, dass sie beide auf den staunenswerten Einfall kamen, ihre "Namen in die Kopfbedeckungen einsticken zu lassen". Angewidert von den Zeitläuften – man schreibt das Jahr 1838 – beschließen sie alsbald, ihre alte Existenz abzustreifen und zu neuen Ufern aufzubrechen. Eine Erbschaft ermöglicht es ihnen schließlich, den Moloch Paris hinter sich zu lassen und sich auf ein Landgut in der Normandie, irgendwo, wie Flaubert schrieb, in einer "öden Ebene zwischen Caen und Falaise", zurückzuziehen. Was dort geschieht, lässt sich knapp zusammenfassen – am besten in den Worten des mit Flaubert eng verbundenen Guy de Maupassant:
    "Dann beginnen sie eine Reihe von Studien und Experimenten, die alle menschlichen Kenntnisse umfassen. Zuerst widmen sie sich der Gartenkunst, dann dem Ackerbau, der Chemie, der Medizin, der Astronomie, der Chemie, der Medizin, der Astronomie, der Archäologie, der Geschichte, der Literatur, der Politik, der Hygiene, dem Magnetismus, der Zauberkunst. Sie kommen zur Philosophie, verlieren sich in ihren Abstraktionen, geraten auf die Religion, werden sie leid, versuchen die Erziehung zweier Waisen, scheitern wiederum und geben sich in ihrer Verzweiflung wieder an das Abschreiben wie früher."
    Und in der Tat verläuft der neue Alltag der oft dümmlich und mitunter tragisch wirkenden Männer auf diese Weise. In unermüdlicher Besessenheit versuchen sie das Dickicht der aufblühenden Wissenschaften zu durchkämmen und nehmen immer wieder neue Anläufe, die aufkommenden Meinungen und Erkenntnisse zu verstehen und auf ihr normannisches Leben zu münzen. Zur Erheiterung der sie ausnutzenden Dorfbevölkerung geben sich Bouvard und Pécuchet als beschlagene Landschaftsarchitekten, Gärtner und Hauswirtschafter, werfen das Geld aus dem Fenster und scheitern auf allen Gebieten kläglich. Auf eigenes Unvermögen führen sie diese Desaster nicht zurück. Das Manko aller Wissenschaften ist ihre Uneindeutigkeit, ihre Widersprüchlichkeit, die es letztlich nicht erlaube, stringent zu handeln. Der "Mangel an sicherer Gewissheit" empört die unermüdlichen Forscher, und selbst Esoterik und Philosophie helfen ihnen am Ende nicht weiter.
    Flaubert hat – das ist oft bemerkt worden – ein hoch komisches Buch geschrieben, das genüsslich ausbreitet, wie Dummheit und Selbstüberschätzung eine Katastrophe nach der anderen nach sich ziehen. Es ist Flaubert anzumerken, mit welch galliger Lust er die ehemaligen Kopisten zu Slapstickfiguren macht. Als sie an Küche und Herd ihre Fertigkeiten ausprobieren und Alkoholika selbst ansetzen, ist das Ergebnis filmreif:
    "Jetzt aber hatten sie Wichtigeres zu tun! Endlich waren nämlich alle Ingredienzien für die "Bouvarine" beisammen.
    Und sie füllten sie in den Destillierkolben, setzten Alkohol zu, entflammten das Feuer und warteten. Währenddessen holte Pécuchet, dem das Missgeschick mit dem Malaga noch schwer im Magen lag, die Konservendosen aus dem Schrank und löste den Deckel der ersten, dann der zweiten, schließlich der dritten. Wütend warf er sie weg und rief Bouvard herbei.
    Bouvard schloss den Stopfen der Kühlschlange und stürzte sich auf die Konservendosen. Die Fleischscheiben ähnelten gekochten Schuhsohlen. Der Hummer hatte sich in einer stinkenden Jauche aufgelöst. Das Fischragout war nicht mehr wiederzuerkennen. Auf der Suppe hatten sich Fäulnispilze gebildet – und miteins war das ganze Labor von einem unerträglichen Gestank erfüllt.
    Urplötzlich zerbarst dann, mit dem Knall einer explodierenden Granate, der Destillierkolben in tausend Stücke, die bis zur Decke hinaufstoben, die Tiegel zerschmetterten, die Schaumlöffel platt walzten und die Gläser zerbrachen; die Kohlestückchen flogen umher, der Reflektorofen war dahin, und am nächsten Tag fand Germaine noch einen Spatel im Hof.
    Der zu hohe Dampfdruck hatte das Instrument zum Platzen gebracht, weil nämlich der Helm des Destillierkolbens geschlossen gewesen war.
    Pécuchet war sofort hinter den Bottich getaucht, und Bouvard hatte sich auf seinem Hocker zusammengekrümmt. Zehn Minuten harrten sie in dieser Stellung aus und wagten sich nicht zu rühren, bleich vor Schrecken inmitten des Scherbengewirrs."
    "Bouvard und Pécuchet" – ein Roman, der seinen Autor zum Verschwinden bringt
    "Bouvard und Pécuchet" ist ein Roman, dessen Handlungsfortgang völlig vorhersehbar ist. Was immer dessen Helden sich ausdenken und in die Tat umsetzen, ist zum jämmerlichen Scheitern verurteilt – gleichgültig, ob sie Melonen anbauen, aus ihrem Garten einen Skulpturenpark machen oder bei spiritistischen Sitzung ihr "Körperinneres" spüren, was sich bei genauerer Betrachtung leider nur als Regung eines Bandwurms erweist. Flaubert, dessen Wunsch, ein Buch "über nichts" zu schreiben, gern zitiert wird, geht in seinem letzten Romanprojekt einen entscheidenden, einen radikalen Schritt weiter. Er verzichtet weitgehend auf eine stringente Handlung, auf Spannungsbögen jedweder Art. Gewiss, das Schicksal der Kopisten ist kein schönes; es gibt Konflikte mit Angestellten und Anwohnern, und zwischendurch überlegen sich beide, ihr Sexualleben ein wenig aufzufrischen. Die Annäherungen ans weibliche Geschlecht verlaufen freilich – wen wundert’s? – unersprießlich, sodass man Keuschheitsgelübde ablegt, sich "aus Angst, der eigenen Blöße ansichtig zu werden, in der Unterkleidung zu Bett" begibt und in einem der herrlichen Dialoge des Romans das Thema "Frauen" schnell abhakt:
    "So käuten sie ihre Misserfolge und Enttäuschungen durch, wieder und wieder, im Esszimmer am Feuer sitzend, während Pécuchet seine Arzneien verschlang und Bouvard eine Pfeife nach der anderen rauchte – und disputierten über die Weiber.
    "Merkwürdiges Bedürfnis! Ist es überhaupt ein Bedürfnis? – Sie treiben einen zum Verbrechen, zum Heldentum, ja, sogar in den nackten Stumpfsinn. Die Hölle unter einem Rock, das Paradies in einem Kuss – Turteltaubengezwitscher, Schlangengezücht, Katzenkrallen – unberechenbar wie das Meer, wechselhaft wie der Mond." Und sie zählten einander alle Gemeinplätze auf, die über Frauen im Umlauf waren.
    Es war das Bedürfnis gewesen, Frauen zu besitzen, das ihre Freundschaft bedroht hatte. Reue begann sie zu plagen. – "Keine Frauen mehr, abgemacht? Versuchen wir’s künftig ganz ohne sie!" – und sie fielen einander gerührt in die Arme."
    Flaubert konnte das Manuskript an seinem Roman nicht abschließen. In einer Skizze deutet er jedoch an, welches Weiterleben er sich für seine ermatteten Forscher ausgedacht hatte: Da sie "keinerlei Interesse am Leben" mehr zeigen und zudem von den politischen Entwicklungen enttäuscht sind, sollen sie in ihren alten Beruf als Abschreiber zurückkehren und zu diesem Behufe einen "Schreibtisch mit doppeltem Pultaufsatz" in Auftrag geben, sodass sie einander bei ihrem sinnarmen Tun im Blick behalten können. Was genau sie dort zu tun gedenken, sollte Flauberts "Bouvard und Pécuchet" ausbreiten – und führte, da der Komplex nicht fertig redigiert werden konnte, zu einer editorischen Großaufgabe, der sich die neue Edition des Wallstein Verlags stellt.
    Der Übersetzer Hans-Horst Henschen hat knapp zwanzig Jahre seines Lebens den Herren Bouvard und Pécuchet geopfert. Bereits 2003 legte er in der "Anderen Bibliothek" eine Neuübersetzung des Romans vor, die heute in Konkurrenz zu Übertragungen von Caroline Vollmann und Erich Wolfgang Skwara steht. Henschens Ehrgeiz freilich bestand immer darin, erstmals den ganzen Werkkomplex, soweit er sich aus dem Nachlass Flauberts erschließen lässt, in Buchform vorzulegen und mit einem opulenten Anmerkungsapparat auszustatten.
    Angekündigt war Henschens Pioniertat, deren Erträge Romanisten von nun an mit dem abgleichen können, was die Universität Rouen mittlerweile an handschriftschriftlichen Materialen und Brouillons online gestellt hat, bereits mehrfach. Wie Wallstein-Verleger Thedel von Wallmoden in einer Nachbemerkung festhält, erwies sich – nachdem Henschen sein Manuskript 2015 weitgehend abgeschlossen hatte – die Vorbereitung der Publikation als äußerst schwierig. Ja, eine Zeit lang schien es so, als wollte sich kein Verleger dieses sperrigen Gegenstandes annehmen. Das Erscheinen des vierbändigen "Bouvard und Pécuchet"-Werkkomplexes erlebte Henschen nicht mehr: Achtundsiebzigjährig starb er im Juni 2016.
    Die nun vorliegende Edition ist ein Solitär, auch mit Blick auf die französischen Editionen. Das hat damit zu tun, dass Henschen gelegentlich kuriose Anmerkungen – etwa zur Rechtschreibreform – einstreut oder eigenwillige historische Schreibungen durchsetzt. Vor allem aber liegt sein Anspruch darin, das gedruckt vorzulegen, was Flaubert für die Fortsetzung des "herkömmlichen" Romans "Bouvard und Pécuchet" im Sinn hatte. Band 2 der Ausgabe liefert so unter dem Titel "Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit. Ein Sottisier" die umfangreiche, thematisch gegliederte Ansammlung dessen, was Flaubert aus Zeitungen, Romanen und wissenschaftlichen Studien jahrelang wie besessen exzerpiert hat – und was, so die Romanfiktion, seine des Forscherlebens überdrüssigen Helden fortan abzuschreiben haben.
    Flaubert hat – und hier sind Henschens Recherchen für den Anmerkungsapparat eine Pioniertat – allenthalben nach Lächerlichkeiten und Absurditäten gesucht, die die grassierende Dummheit gebiert und die mühelos in gelehrte Abhandlungen Einzug hält. Genüsslich kompiliert Flaubert seine oft stark bearbeiteten und verkürzten Funde, arbeitet sich an Koryphäen wie dem Historiker Adolphe Thiers ab, den er als nicht zu überbietenden "triumphalen Dummkopf" bezeichnet, und bietet so ein herrliches Sammelsurium an unfreiwilliger Komik:
    "Definition
    Die Brustwarzen der Frau können sowohl als Gegenstand des Vergnügens als auch der Nützlichkeit betrachtet werden.
    Aus: Murat und Patissier, Art. "Brustwarzen", Wörterbuch der medizinischen Wissenschaften          
    Wissenschaftlicher Stil, Definition
    Die Schenkel sind bei den Frauen hauptsächlich bemerkenswert durch ihre sinnliche Fülligkeit, ihren Schmelz und die Sanftheit ihrer Umrisse.
    Aus: Moreau de la Sarthe, Naturgeschichte der Frau
    Schwere Schwangerschaften
    Eine Frau aus Toulouse trug ihr Kind zehn Jahre lang im Schoß. Eine andere aus Sens behielt es 28 Jahre lang im Uterus, und es konnte nur mit Axthieben herausgeholt werden.
    Aus: Percy und Laurent, Art. "Lithopädion", Wörterbuch der medizinischen Wissenschaften          
    Merkwürdigkeiten Narren
    Ein Abbé litt in seinen letzten Lebensjahren unter der Zwangsvorstellung, ein Gerstenkorn zu sein. Er rang heftig mit sich, konnte sich aber nicht dazu entschließen, das Haus zu verlassen, aus Angst, von seinen eigenen Hühnern aufgepickt zu werden.
    Zimmermann, zitiert bei Réveillé-Parise, Studien zur menschlichen Gesundheit und Krankheit
    Enthaltsamkeitspraxis Gegen die Romane!
    Alles vermeiden, was die Phantasie entflammt, beispielsweise die Romane! Sich fortgesetzt lebhaft die Gefahren und Folgen der Ausschweifung vor Augen führen.
    Aus: Wilhelm Hufeland, Makrobiotik oder Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern"
    Chaos der widerstreitenden Meinungen und Behauptungen
    So füllt Flaubert Seite um Seite, reiht Absonderlichkeit an Absonderlichkeit, fischt mit besonderem Ehrgeiz im Feld der Medizin, beutet tote und lebende Kollegen aus und erstickt zwangsläufig seine Leser mit einem Wust an Dumm- und Eitelkeiten. Es ist so kein Wunder, dass die französischen Ausgaben – zum Beispiel auch diejenige, die Stephanie Dord-Crouslé bei Flammarion herausgegeben hat – es bislang scheuten, diese Materialanhäufung zu veröffentlichen. Hans-Horst Henschen nimmt Flaubert im Gegenzug ernst und sieht das "Sottisier" als – wenn auch Fragment gebliebenen – Bestandteil des Werkzyklus "Bouvard und Pécuchet".
    Flaubert schwebte in gewissem Sinn eine Revolution des Romans vor, ein Band, der den Autor selbst zum Verschwinden bringt und gänzlich ohne dessen Kommentierungen auskommt. Es gehe, wie er in einem Brief an Louise Colet schrieb, um "ein Buch, in dem kein Wort vorkommen dürfte, das auf meinem eigenen Mist gewachsen ist". Mit klassischer Erzählliteratur hat das nichts mehr zu tun. Die Methode verweist unmissverständlich auf avancierte literarische Formen, auf jene im 20. Jahrhundert so geläufigen Versuche, das Erzählen selbst zum Problem zu machen, seine Unmöglichkeit im Text selbst zu spiegeln.
    Flaubert zeichnet diesen Weg konsequent vor: Zu erzählen ist nichts mehr. Im Chaos der widerstreitenden Meinungen und Behauptungen ist für Originalität kein Platz vorhanden. Wie die beiden müden Helden Bouvard und Pécuchet einsehen mussten, dass sie auf keinem Feld zu reüssieren vermochten, und sich deshalb auf das Reproduzieren von Texten beschränkten, so lässt sich "Bouvard und Pécuchet" als Künstlerroman lesen, als Eingeständnis dessen, dass Ureigenes zumindest in der Literatur kaum noch hervorzubringen ist. Nichts Neues unter der Sonne, und wenn etwas sich als neu gebärdet, ist es alsbald widerlegt. Wo es im 20. Jahrhundert deshalb oftmals zum Verstummen kam, zum bewussten Fragment, häuft Flaubert einen Berg von Texten an, der kein Entkommen mehr möglich macht.
    Hans-Horst Henschens Ausgabe umfasst nicht nur diese beiden Bände. Es schließt sich ein dritter Teil an, der das "Sottisier" um transkribierte Handschriften und Kommentare ergänzt. Den Abschluss bildet das immer wieder auch in Einzelausgaben vorgelegte "Dictionnaire des idées reçues", das Henschen mit "Wörterbuch der gemeinen Phrasen" übersetzt. Bis zur Druckreife hat Flaubert diesen "Dictionnaire" nicht gebracht, doch es war klar, dass er den Schlussstein des Komplexes "Bouvard und Pécuchet" bilden sollte. Alphabetisch geordnet reiht Flaubert darin, Gemeinplätze aneinander, die die Alltagsdialoge seiner Zeit prägen und die mit der zunehmenden Komplexität der Welt durch griffige Plattitüden zu Rande kommen wollen. Mit seinem ABC setzt er ein Ordnungsprinzip ein, das von seinen nachkommenden Kollegen gern aufgegriffen wurde, um der Unübersichtlichkeit der Welt ein Schnippchen zu schlagen. Hans-Horst Henschen verweist beispielsweise auf Roland Barthes’ knapp einhundert Jahre später erschienenen Bücher "Roland Barthes par Roland Barthes" und "Fragments d’un discours amoureux", die eine vergleichbare Struktur aufweisen. Wie langlebig mancher der von Flaubert gesammelten Umschreibungen und Banalitäten sind, zeigt sein Wörterbuch bis heute:
    "Chirurg
    Die Chirurgen sind allesamt gefühlskalt.
    Sie als "Metzger" bezeichnen.
    Dienstmädchen
    Die Dienstmädchen sind allesamt keinen Pfifferling
    wert. Es gibt einfach kein Hauspersonal mehr.
    Etat
    Nie ausgeglichen.
    Haschisch
    Nicht zu verwechseln mit Haschee, das fleischlicher Herkunft ist und keinerlei wollüstige Ekstase hervorruft.
    Machiavelli
    Ihn zwar nicht gelesen haben, aber dennoch für einen Schurken halten.
    Verwandte
    Alle lästig. Wenn sie nicht gerade reich sind, muss man mit ihnen hinterm Berg halten.
    Wetter
    Immerwährendes Thema. Allgemeine Ursache von Krankheiten. Ständig darüber klagen."
    Gustave Flaubert starb am 8. Mai 1880, ohne dass er sein Opus Magnum abschließen konnte. Der Roman wurde zuerst von Dezember 1880 bis März 1881 in der Zeitschrift "La nouvelle Revue" veröffentlicht. Die erste Buchausgabe folgte alsbald. An Popularität konnte sich "Bouvard und Pécuchet" nie mit Flauberts anderen Romanen messen. Guy de Maupassant zählte früh zu denjenigen, die das Singuläre dieses Projektes erkannten. Er war es auch, der die absurde Existenz der beiden plötzlich sehr modern wirkenden Figuren sah: "Sie sind immer guten Glaubens, immer brennend vor Begierde; und unfehlbar widerlegt die Erfahrung die bestbegründete Theorie. Der feinste Vernunftschluss wird durch die einfachste Theorie vernichtet."
    Hans-Horst Henschens Edition mag auf den ersten Blick erschlagend wirken, doch sie wird nicht ohne Folgen bleiben. Sie zeigt bis in alle Verästelungen eines Schaffensprozesses, dass Flauberts Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann. Oder um mit einer "gemeinen Phrase" zu schließen: "Flaubert – Madame Bovary, das bin ich." Ein Satz übrigens, den Flaubert niemals zu Papier gebracht hat.
    Gustave Flaubert: "Bouvard und Pécuchet. Der Werkkomplex". 4 Bde. Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt und annotiert von Hans-Horst Henschen. Wallstein, Göttingen 2017. 2069 Seiten, 128 Euro