Kathrin Hondl: Was ist gut und was ist böse? Die Frage ist nicht neu – im Gegenteil: Wahrscheinlich ist die Frage nach Gut und Böse so alt wie das Denken überhaupt. Und ganz besonders beschäftigt uns das Böse – es ist ja auch omnipräsent: In Terroranschlägen wie gerade wieder in Manchester, in Kriegen, in Hass und in den Lügen, mit denen wir jeden Tag zu tun haben. Über das Böse habe ich vor der Sendung mit der Philosophin Bettina Stangneth gesprochen. Sie hat sich intensiv mit dem Bösen auseinandergesetzt – in ihrer Promotion über Kant und dessen These vom "radikal Bösen in der menschlichen Natur" – oder in ihrem letzten Buch mit dem Titel "Böses Denken" – erschienen 2016 im Rowohlt Verlag.
Frau Stangneth – das Böse ist seit jeher überall – schon die Mythen erzählen davon und leider auch die Nachrichten jeden Tag. Und das Böse zeigt sich nicht nur in Taten – wenn wie in Manchester ein Mensch andere Menschen brutal tötet - "das Böse" begegnet einem immer wieder auch in den Reden von Politikern. Zum Beispiel bei US-Präsident Donald Trump.
Der hat in einer Rede in Saudi-Arabien mit Blick auf den dschihadistischen Terror von einem "Kampf zwischen Gut und Böse" gesprochen. Inwiefern, meinen Sie, sind das denn angemessene Begriffe in der Weltpolitik – das Gute und das Böse? Ist das nicht ziemlich simple Schwarz-Weiß-Malerei?
"Wir müssen uns auf etwas besinnen, was wir gemeinsam haben"
Bettina Stangneth: Wir haben die seltsame Eigenschaft, insbesondere in Deutschland, reflexhaft abwehrend zu reagieren, wenn jemand vom Bösen spricht. Wir hören dann nicht mehr zu. Das ist in diesem Fall ein Fehler, denn Donald Trump hat – ich glaube ja kaum, dass ich das sage, aber Donald Trump hat eine sehr kluge Rede gehalten, die ein großer Fortschritt ist.
Wir erinnern uns ja alle noch an seinen Vorgänger Bush, der von der Achse des Bösen gesprochen hat und dann mit dem langen Zeigefinger auf Länder, auf Menschen gezeigt hat, die für ihn die Bösen sind. Das macht Trump hier interessanterweise nicht.
Er versucht, hier Fehler wiedergutzumachen, die im Wahlkampf passiert sind und eine andere Ebene zu finden und sagt, wir dürfen nicht eine Religion gegen die andere ausspielen, eine Zivilisation gegen die andere ausspielen, eine Kultur gegen die andere ausspielen, sondern wir müssen uns auf etwas besinnen, was wir, die wir uns um Zivilisation bemühen, doch gemeinsam haben, wo wir die Grenze ziehen zwischen dem, worauf wir uns einigen können, was wir tolerieren können, und dem, was nicht geht.
Und was er dann das Böse nennt, ist eine Ideologie. Er spricht ausdrücklich nicht von bösen Menschen, sondern er spricht von einem bösen Denken. Er sagt, es gibt heute Ideologien, die es darauf abgesehen haben, Zerstörung in die Welt zu bringen, Terror in die Welt zu bringen und zu destabilisieren.
"Die Grenze ist dort, wo jemand Gesellschaft vernichten, Institutionen destabilisieren will"
Hondl: Entschuldigung, wenn ich Sie da kurz unterbreche. Ganz radikal betrachtet ist es doch auch so, wenn man jetzt Trumps Worte vom Kampf gut gegen böse nimmt, dass das umgekehrt ganz genauso doch auch die dschihadistischen Terroristen, das sogenannte Kalifat sagen könnten beziehungsweise ja sogar sagen, nur dass die sich auf der Seite der Guten sehen und die ganze westliche Welt, Demokratie, Popkonzerte wie jetzt in Manchester, Konsum und so weiter als das Böse ansehen. Inwiefern gibt es denn überhaupt eine universelle Definition von Gut und Böse?
Stangneth: Das ist erstaunlich einfach. Wer sich von einem Menschen, der irgendwo singt, bedroht fühlt, hat ein etwas anderes Problem als ein Mensch, neben dem jemand eine Bombe um seinen Bauch zündet. Wir haben uns geeinigt, die Freiheit des Einzelnen soweit wir können zu mehren, ohne dass die Freiheit eines anderen dadurch eingeschränkt ist.
Eine Ideologie hingegen, die wirklich erklärtermaßen auf die Zerstörung der Welt aus ist, die sagt, dass die ganze Welt, das ganze Leben, das ganze sich Zuwenden zur Welt das falsche Leben ist, weil das echte Leben nur im Jenseits stattfindet, verneint tatsächlich grundlegend das, was wir wollen.
Wir kennen ja erstaunlicherweise in der deutschen Kultur einen fantastischen Text, wir haben ihn alle in der Schule nicht gelesen, nämlich Goethe, wo ja jemand auftritt, der sagt, ich bin der Geist, der stets verneint, und das mit Recht, denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht, denn besser wär’s, dass nichts entstünde. Wer sich dahinter stellt und tatsächlich die Vernichtung als Ziel propagiert – und das wird ja getan; die von Ihnen jetzt genannten Dschihadisten haben genau das als Ziel.
Die Grundlage, die hier angegriffen ist, ist unsere Art der Zivilisation, und die hat keine Alternative, weil das, was Trump hier versucht, ist ja zu sagen, jeder Mensch, der sich um Kultur und um Zivilisation und um die Entwicklung seines Landes bemüht und seiner Menschen bemüht – er spricht ja zu den jeweiligen Führenden der Länder, die dort vor ihm saßen -, der will dasselbe.
Wir können uns in einzelnen Fragen diskutierend begegnen, wir können auch unterschiedlicher Meinung sein, aber wir kennen doch alle die Grenze, und die Grenze ist dort, wo jemand Gesellschaft vernichten, Institutionen destabilisieren will, wo jemand tatsächlich alles angreift, was die Bedingung dafür ist, dass wir uns weiter entwickeln können.
"Die Frage ist, ob das selber Denken wegführt von der Moral"
Hondl: Diese, unsere Zivilisation hat ja nun aber auch das böse Denken hervorgebracht. Ich spiele jetzt noch mal an auf den Titel Ihres letzten Buches. Und genau in dieser Formulierung steckt ja auch schon was drin, was doch letztlich auch unsere große alte Hoffnung auf die Vernunft irgendwie zunichtemachen kann. Ist das denn so? Ist Denken potenziell böse und insofern unsere Hoffnung vergeblich, dass Aufklärung und Nachdenken helfen im Kampf gegen das Böse?
!Stangneth:!! Es ist ja unser Vermögen zu denken, das uns anders auf die Welt schauen lässt und auch andere Ansprüche an uns stellen lässt. Es reicht uns nicht, einfach nur klug und geschickt zu taktieren. Wir wollen auch vor einem anderen Maßstab genug sein. Insofern brauchen wir das Denken als Weg zur Moral. Ob das reicht, ist die entscheidende Frage, und ob vor allem das in der Abwehr reicht.
Wenn wir es mit jemandem zu tun haben, der Taten verübt, die wir alle unisono böse nennen, wenn jemand in ein Popkonzert geht, wie es in Manchester war, wenn ein Mensch sich eine Bombe um den Bauch bindet und sich in einer Gruppe von Menschen, die er alle überhaupt gar nicht kennt, mit denen ihn nichts verbindet, was irgendwie Revanchismus hervorrufen könnte, in die Luft sprengt, nennen wir das böse, und da haben wir auch gute Gründe, es böse zu nennen.
Wir fragen uns also, wie kommt es dazu, wie können wir das verhindern. Und der übliche Weg, den wir versucht haben, ist zu sagen, die Menschen müssen gründlich auf die Schule gehen, sie müssen lernen, sie müssen erkennen, wie man sich seiner eigenen Erkenntnisvermögen bedient, wie man selbstständig denkt, und dann sind wir auf dem richtigen Weg. Das stimmt. Das ist eindeutig richtig, das stimmt.
Die Frage ist, ob das selber denken eine Dynamik entwickeln kann, die dann wegführt von der Welt und wegführt von der Moral in, wir nennen das heute Radikalisierung, hin in ein vereinzeltes verirrtes Denken, das dann solche Taten zur Folge hat. Das betrifft Kinder.
"Wir sollten aufpassen, zu sehr Disziplin und Konsequenz und Prinzipien zu predigen"
Hondl: Das kennt man ja auch schon aus Krimis zum Beispiel, dass das Wissen um Gut und Böse vor Bösem nicht schützt. Mir fällt gerade so eine Zeile ein bei James Ellroy, diesem amerikanischen Thriller-Autor. Der lässt irgendwo einen ziemlich brutalen Serienmörder sagen, er kenne den Unterschied zwischen Gut und Böse, aber es sei ihm egal.
Stangneth: Vermutlich ist das ein unbedingter Ernst. Das ist ein Wille zum Ernst, zur Ernsthaftigkeit, zum Ernst machen mit den eigenen Prinzipien, der ganz erschreckend sein kann. Vermutlich haben Menschen, die so konsequent in den Tod, in den eigenen und den der anderen gehen, mehr Disziplin, mehr Konsequenz, mehr Prinzipien als wir.
Wir sollten aufpassen, zu sehr Disziplin und Konsequenz und Prinzipien zu predigen. Wir sollten auch aufhören, Werte zu predigen, denn jeder Wert, wenn ich ihn absolut setze und wenn ich ihn konsequent ohne Rücksicht verfolge, führt in den Mord – jeder Wert.
"Das Gute ist etwas, was wir als Idee im Kopf haben"
Hondl: Jetzt haben wir uns die ganze Zeit auf das Böse konzentriert. Aber es gibt ja noch seinen Gegenspieler, das Gute eben, wobei das ja zumindest in unserer Alltagssprache hier in Deutschland, in der bösen Alltagssprache, sage ich jetzt einfach mal, ja keinen besonders guten Stand hat. Wenn ich jetzt an das böse Wort von den Gutmenschen zum Beispiel denke. Wie deuten Sie eigentlich diese herablassende Sprache? Inwiefern ist das Gerede von Gutmenschen vielleicht auch symptomatisch für unsere Defizite im Umgang mit dem Bösen?
Stangneth: Das Reden von den Gutmenschen ist zunächst mal blöd und absoluter Unsinn. Das Gute ist darum für uns so schwer zu fassen, weil wir uns niemals ganz sicher sein können, ob wir denn das Gute tun. Der Mensch kann nur das Böse, dass er klar erkennen kann (im Unterschied zum Guten), verhindern. Was ich aber nicht hundertprozentig garantieren kann, ist, dass das, was ich stattdessen tue, dann das Gute ist.
Das heißt, das Gute steht nicht so im Raum wie eine schöne goldene Statue und man kann sie anbeten und so, sondern das Gute ist etwas, was wir als Idee im Kopf haben und dem wir uns annähern wollen. Interessanterweise ist es so, dass der Maßstab, mit dem wir uns dem annähern, das Abwenden von dem ist, was wir als eindeutig böse erkennen können, und das wenige, was wir da können, das müssen wir halt auch benutzen.
"Eher auf das Richtige als auf einen falschen Menschen verpflichten"
Hondl: Wenn wir jetzt zum Schluss vielleicht noch mal auf die Rede von Donald Trump zurückkommen, die Sie ja in ziemlich hohen Tönen gelobt haben, Trumps Rede vom Kampf des Guten gegen das Böse beziehungsweise des Kampfes zwischen Gut und Böse in der Weltpolitik. Was macht Sie da so sicher, dass er wirklich das meint? Geht es in der Politik und ja wahrscheinlich auch im Journalismus nicht viel eher immer wieder darum zu bestimmen, wer die Bösen sind und wer die Guten, als sich damit auseinanderzusetzen, was wirklich böse und was gut ist?
Stangneth: Der Fehler, den wir machen, wenn wir politischen Reden zuhören, der ist, zu viel zu denken. Wir versuchen immer, schon gar nicht mehr zuzuhören, sondern erst mal zu sagen, wer sagt das, was meint der, was will der damit, wie taktiert er, was hat er für Ziele und so etwas. Wir müssen aus pragmatischen Gründen die Blickrichtung umwenden.
Da steht ein Politiker in der Weltöffentlichkeit, der vor laufenden Kameras etwas sagt, was wichtig ist. Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder weisen wir ihm nach, dass er lügt, oder taktisch mit der Wahrheit umgeht; dann stehen wir genau da, wo wir gestern auch gestanden haben. Oder wir stellen uns hin und sagen, ha, da sagt jemand vielleicht auch gegen seinen eigenen Willen was sehr Kluges, also verpflichten wir ihn darauf.
Es gibt in der Geschichte ein hübsches Beispiel. Immanuel Kant, der Philosoph aus Königsberg, hatte große Probleme mit der Zensur. Er wollte was schreiben, was den Leuten nicht passte, insbesondere dem König nicht. Und dann hat er dem König gesagt: Ach wissen Sie, Sie sagen doch immer, Sie sind ein so aufgeklärter Herrscher, und ein so aufgeklärter Herrscher muss doch keine Angst haben vor jemandem, der einfach seine Meinung sagt. – Das ist eben der andere Weg. Wir können einfach einen Menschen auf etwas verpflichten, was er sagt, und wir sollten uns immer auf das Richtige verpflichten und vielleicht eher auf das Richtige als auf einen falschen Menschen.
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