Einige von ihnen haben es nicht geschafft. Der junge Mann im grünen Parker zählt an den Fingern diejenigen ab, die gestern Nacht auf ihrem Weg in die EU verlorengegangen sind. Erschöpft zusammengebrochen, plötzlich verschwunden oder ertrunken. Elf oder zwölf müssten es sein, ganz genau weiß der Mann es nicht. Egal. Auf einen mehr oder weniger kommt es für ihn, den Schlepper, sowieso nicht an:
"Einmal, als ich 600 Leute auf einmal rüber gebracht habe, stand ich bei niedrigem Wasserstand auf der einen Flussseite und die griechischen Grenzschützer auf der anderen. Ich habe die Flüchtlinge losgeschickt und die Griechen haben einfach nur gerufen, sie sollen da bleiben. Die dürfen ja nicht schießen und nix! Von den 600 Leuten, die ich rüber geschickt habe, konnten sie vielleicht 200 abfangen, aber 400 sind drüben angekommen. Ein guter Schnitt."
"Für mich ist das Ganze wie ein Hobby"
Der Schlepper, nennen wir ihn Ali, grinst breit, zeigt die nikotingefärbten Zähne. Nacht für Nacht schleust er Menschen durch das griechisch-türkische Grenzgebiet am Evros-Fluss - lange Haupteinreisetor für alle, die illegal in die EU gelangen wollten. Afghanen, Pakistaner, Iraker und vor allem Syrer. Auch, wenn viele Flüchtlinge inzwischen lieber den Seeweg über die griechischen Inseln wählen: Alis Geschäft läuft auch jetzt noch gut. Wenn er wollte, prahlt er, könnte er sich von seinen Einnahmen ein deutsches Auto kaufen.
"Ich bin seit vielen Jahren in diesem Geschäft. In dieser Zeit habe ich unvorstellbar viel Geld verdient. Außerdem mag ich den Adrenalin-Kick. Für mich ist das Ganze wie ein Hobby."
Ali sitzt in einem verqualmten türkischen Café in der Nähe der Grenze. Er hat den Treffpunkt mit der lauten Musik selbst ausgesucht. Eigentlich kommen vor allem junge Pärchen hierher, um in den kleinen abgetrennten Logen ungestört Händchen halten zu können. Aber auch für Schlepper Ali ist der unübersichtliche Ort perfekt. Wenn zwischen zwei Liedern die Lautsprecher schweigen, verstummt auch er, tippt dann hektisch auf einem seiner drei Handys herum. Zwei Mal in nur einer Stunde zerknickt er eine Sim-Karte zwischen Daumen und Zeigefinger, legt eine ungebrauchte ein. Nur Alis Kontaktmänner im vier Stunden entfernten Istanbul kennen seine ständig wechselnden Nummern.
"Man muss sich Istanbul wie einen Großmarkt vorstellen, auf dem das Gemüse von den unterschiedlichsten Feldern zusammen kommt. So wie das Gemüse wechseln die Flüchtlinge dort ihre Besitzer und werden mit Minibussen oder Lastwagen in eine der Grenzstädte verschickt."
Wie übereinandergestapelte Tomatenkisten komme die menschliche Fracht dann bei ihm an, so Ali. Wer wenig Geld hat, landet im Norden der Türkei und lässt sich von Schleppern über die griechische oder die bulgarische Landgrenze in die EU bringen. Wer mehr zahlen kann, setzt von der türkischen Küste per Schlauchboot nach Lesbos, Kos oder Samos über... Schlepper Ali zündet sich eine Zigarette an, pafft eine Weile schweigend vor sich hin. Ein paar Stunden noch, dann trifft seine nächste "Lieferung" aus Istanbul ein: 30 Syrer, die noch heute Nacht über die Grenze wollen.
"Die Wagen kommen hier gegen ein Uhr nachts an, um zwei sind wir dann an der Grenze. Um diese Zeit, morgens zwischen zwei und vier, ist der Mensch am unaufmerksamsten, egal, ob er ein Soldat oder ein Offizier ist. Das ist deswegen die Zeit, zu der wir die Grenze überqueren."
Je mehr Konflikte es in der Welt gibt, desto mehr Geld verdient er
Mehrere Hundert Dollar kassiert Ali vom "Big Boss" in Istanbul für jeden Flüchtling, den er lebend auf griechischen Boden schafft. Je mehr Konflikte es in der Welt gibt, desto mehr Geld verdient er. Syrien ist ein Glücksfall für Ali und seine Kollegen.
"Wenn du zum Beispiel 20 Passagiere hast, sammelst du am Ende deren Pässe ein und bringst sie zum Boss nach Istanbul. Für jeden Pass bekommst du dort Geld. Manchmal geben die Leute dir auch nicht ihren Pass, sondern etwas anderes - kleine Dinge, die beweisen sollen, dass sie die EU erreicht haben. Ein Knopf, eine Murmel, eine Rasierklinge, irgendwas. Nur der Flüchtling und der Boss in Istanbul kennen das Zeichen, und nur wenn du es später ablieferst, bekommst du dein Geld."
Für die Flüchtlinge, die in der vergangenen Nacht verloren gingen, bekommt Ali nichts. "Dumm gelaufen", er zuckt mit den Schultern. Was mit ihnen passiert ist? Oder mit den unzähligen anderen, die in den letzten Jahren im Grenzgebiet verschollen sind? Und ob er von den griechischen Lagern gehört hat, in denen Flüchtlinge auf engstem Raum zusammengepfercht sitzen, monatelang? Ali pafft schweigend seine Zigarette. Mitleid, findet er schließlich, sollen andere haben. Sein Job ist es, jeden, der dafür bezahlt, auf griechischen Boden zu bringen. Sonst nichts.
"Sogar, wenn sie hier die gesamte Nato stationieren, sogar, wenn sie an der gesamten Grenze Soldaten aufstellen, sie können die Flüchtlingsströme nicht verhindern. Diese Menschen kommen mit einer Hoffnung. Wenn sie zurückgeschickt werden, kommen sie morgen wieder, oder eben übermorgen. Und solange machen wir weiter. Denn in diesem Geschäft steckt warmes Geld, süßes Geld!"
Zäune und Gräben, Kameras und Nachtsichtgeräte, Hundestaffeln und sogar Minenfelder. Mit allen Mitteln versuchen, Griechenland und die EU den Schleppern das Handwerk zu legen. Ali aber lacht nur ein verrauchtes Lachen, wenn er von ihren Versuchen hört. Für ihn gilt: Je stärker die Kontrollen an den Grenzen, desto höher auch die Preise, die er und seine Kollegen sich erlauben können. Aufhören? Niemals.