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"Guter Muth ist halber Leib": Literarisches und Außerliterarisches zum Fitneß-Boom

Mein Gastfreund hielt auf körperliche Übungen sehr viel. (...) Das liege auf der Hand, pflegte er zu sagen, daß, so wie die Krankheit des Körpers den Geist zu etwas anderem mache, als er in der Gesundheit des Körpers ist, ein kräftiger und in hohem Maße entwickelter Körper die Grundlage zu allem dem abgebe, was tüchtig und herzhaft heißt. (...) In neuen Schulen vernachlässige man diese Pflege zu sehr, die bei uns um so notwendiger wäre, als sich durch das Zusammengehäuftsein in dunstigen und heißen Stuben ohnehin Übel erzeugen, die dem Aufenthalte in freier Luft fremd sind. Darum werden auch die Geisteskräfte von Schülern der neuen Zeit nicht entwickelt, wie sie sollten, und wie sie es bei Kindern, die in Wald und Feldern schweifen, freilich auf Kosten ihres höheren Wesens wirklich sind. Daher stamme ein Teil der Schalheit und Trägheit unserer Zeiten.

Florian Felix Wey |
    Ich glaube, wenn man immer nur unbewegt am Schreibtisch sitzt und denkt und schreibt, daß irgendwann mal der Gedankenfluß stockt und abrupt aufhört. Und dann ist auch so der Wunsch da, sich zu bewegen, aufzustehen, in irgendeiner Form den Körper auch zu spüren. Insofern glaube ich, daß kein Intellektueller, der am Schreibtisch sitzt ohne irgendeine Form von realer körperlicher Bewegung auskommt.

    ... pflichtet der Berliner Medienwissenschaftler und Publizist Jürgen Bräunlein Adalbert Stifters Protagonisten aus dem berühmten romantischen Bildungsroman "Der Nachsommer" bei. Der Appell ist klar, unüberhörbar und von strengem Nachdruck: Bewege dich! Treibe Sport und Gymnastik, befördere deine Kondition. Mit Mitte dreißig verspürt Bräunlein ein ähnliches Problem wie die meisten Menschen seines Alters: Je ferner die Jugend, desto peinlicher die Vorstellung, man könne durch körperliche Anstrengung ins Schwitzen geraten. Der Zeitaufwand! Die Verletzungsgefahr! Die Blamage, wenn Übungen nicht auf Anhieb glücken. Und schließlich das unangenehme Gefühl, einen dunklen, unerschlossenen Kontinent zu betreten. Bräunlein:

    Die Intellektuellen oder diese sogenannten "Schreibtischtäter" vielleicht - um sie auch gleich an den Schreibtisch zu fesseln oder an den Schreibtischstuhl - die spüren selber die Notwendigkeit, die innere Notwendigkeit: Eigentlich müßten sie sich bewegen. Es würde auch ihrer Arbeit gut tun. Und gleichzeitig haben sie ein Hemmnis, es zu tun. Vielleicht auch, weil sie von Anfang an eine sehr theoretische Lebensweise führen. Also eine Lebensweise, wo Dinge gedacht und durchdacht werden, wo Dinge reflektiert werden, aber nicht wirklich am eigenen Leibe erfahren werden. (...) Es ist also ein Kampf: Man müßte eigentlich, etwas hält einen aber zurück. Man versucht dann vielleicht auch lesend sich darauf vorzubereiten.

    Wer will, kann jede Muskelzuckung theoretisch ergründen, keine Sportart, die nicht mindestens zwei Dutzend Lehr- und Trainingsbücher bereithielte, von Ernährungsratgebern und Motivationsbibeln ganz zu schweigen. Heroische Autobiographien kettenrauchender Mittfünfziger, die eben noch die Kurve ins richtige Leben gekriegt haben, ergänzen die Regalbestände. Den Intellektuellen schaudert's, er greift zu grundlegenderen Werken, bevor er einen Fuß vor die Tür setzt.

    Erster Parcours: "Guter Muth ist halber Leib" - Fitneß aus kulturgeschichtlicher und evolutionsbiologischer Sicht.

    Seltsam fürwahr: Sinnenfroh war der Protestantismus nie, und doch bereichern die Zitate Martin Luthers jede Geschichte der Körperkultur. "Guter Muth ist halber Leib" rief er 1538 aus und betete anläßlich einer überwundenen Unpäßlichkeit:

    Ach lieber Herr Gott, wie ein edel Kleinodt ists umb einen gesunden Leib, der essen und trinken, schlaffen, harnen und scheißen mag. Wie wenig dankt man Gott dafür.

    Vor drei Jahren legte der Kölner Medizinhistoriker Klaus Bergdolt eine akribische Monographie zur Geschichte der Diätik vor. Wer darunter die Anleitung zur Magersucht mißversteht, verkennt den ganzheitlichen Anspruch antiker Harmonielehren. In "Leib und Seele" - so Titel des lehrreichen Standardwerks - erfahren wir, auf welche religiösen, philosophischen und ästhetischen Vorstellungen das zugegebenermaßen etwas auf den Hund gekommene Fitneßideal der Jogger und Bodybuilder zurückgeht. Alle vitalen Funktionen sollen im Einklang miteinander stehen, auch wenn sie gegeneinander konkurrieren. So merkte schon Hippokrates an:

    Nahrung und körperliche Übung haben konträre Wirkungen und treten, was die Gesundheit betrifft, miteinander in Wettbewerb: Gymnastik zehrt das Vorhandene auf, Speisen und Getränke gleichen wiederum den Verlust aus.

    Diätik in diesem Sinne ist die Lehre vom ausgewogenen Leben, wozu eine sitzende Existenz kaum zählt. Wäre sie von der Evolution vorgesehen gewesen, gäbe es Sofabüsche und Stuhlbäume, die sich unserem müden Hintern entgegenreckten. "Geht ja gar nicht!" wendet der Biologe ein, denn dem Steiß, auf dem wir uns heute niederlassen, entwuchs dereinst ein muskulöser Schwanz. Wer auf den Bäumen hauste, hangelte sich damit von Ast zu Ast. Aber warum eigentlich blieb es nicht dabei?

    Die bedeutendste Umbildung ist der Fuß. Er unterscheidet die Menschenlinie klar und funktionell eindeutig von den anderen noch verbliebenen Menschenaffen. Aus dem Bau des Fußes läßt sich die Menschwerdung ableiten und nachvollziehen, denn es ist der Fuß, der uns zum Läufer und zum Menschen gemacht hat, nicht die Hand. Das Gehirn kam ohnehin später.

    Bösartig mag man anfügen: Für manchen zu spät, denn was der Münchner Evolutionsbiologe Joseph H. Reichholf unter dem reißerischen Titel "Warum wir siegen wollen" anbietet, glänzt nicht gerade durch intellektuelle Brillanz. Einzige These: Wir sind zum Wettkampf verdammt, weil wir lieber Steaks als Bananen essen. Dabei haben wir gar nicht als Jäger begonnen, sondern als Diebe - Aasdiebe, um genau zu sein. Während sich der Löwe noch von der anstrengenden Hetzjagd erholt, schleicht sich der Urmensch an den frisch gerissenen Antilopenkadaver heran und stibitzt die Filetstücke. Da heißt es schnell sein, denn der Löwe könnte ärgerlich werden.

    Aus dieser Situation kam der erste Sprint in die (Menschen-)Welt.

    ... sagt Reichholf, als wäre er dabeigewesen. Im krassen Gegensatz zu Klaus Bergdolts nüchterner, aber instruktiver Medizingeschichte schafft es der zu Unrecht als deutscher Stephen Jay Gould gepriesene Biologe, ein gleichermaßen hochspekulatives wie sterbenslangweiliges Traktat vorzulegen. Immerhin liefert er das Fundament nach, auf dem sich eine ganze Fitneß-Ideologie seit Jahren bewegt: Niemand muß zum Laufen gezwungen werden, sagt sie, es liegt uns im Blut, wir wollen es alle, Tag für Tag. Oder etwa nicht?

    Herzlich willkommen zum Start .... ein wahrer Zauberschlüssel, der den Namen Laufen trägt

    Bei Strunz ist es so (...) es geht nicht mehr um die Bewegung, sondern die Bewegung wird auch aufgebauscht zu so einem richtigen Wellness-Berater. "Wie ich gesund, glücklich und zufrieden leben". Und das finde ich, ist auch die Schwäche von ihm. Also es geht gar nicht mehr um das Laufen konkret, sondern das ist so ein Heilsbringer, (...) einfach so ein Wellness-Vermarkter, der aber diesen Wellness-Begriff so breit vermarktet, daß er eigentlich keine spezifische Handreichung mehr sein kann.

    Da würde Dr.med. Ulrich Strunz, seines Zeichens der Gotthilf Fischer des Fußes, mit Sicherheit protestieren. Auch wenn die Fakten gegen ihn sprechen. Längst ist aus seinem ursprünglichen Forever-young-Laufratgeber, der tatsächlich Tausende von trägen Couchpotatoes aus dem Wohnzimmer auf die Straße gebracht hat, ein vernetztes Medienimperium geworden. Wie lange sich Strunz-Anhänger nach der Investition von mehreren Hundert Euro in Bücher, Laufkleidung, Schuhe und Pulscomputer tatsächlich ans verordnete Trainingsprogramm halten, ist nicht bekannt. Aber Tiefenlotungen im Bekanntenkreis fördern ein deutliches Muster zutage: Fast niemand kann sich dem suggestiven Tonfall der Strunz-Bücher entziehen ...

    Sie sind stolz auf sich. (...) Die Augen leuchten. Der Geist ist herrlich frisch. Sie fühlen sich, als könnten Sie Bäume ausreißen. (...) Sie merken, daß Laufen Sie keine Zeit kostet, sondern Sie Zeit gewinnen. Ihre Prioritäten verschieben sich. Ihr Gehirn wird besser durchblutet, mit mehr Sauerstoff versorgt. Das macht Sie wach, konzentriert und leistungsfähig. Sie schlafen besser, Ihre Libido wächst.

    ... aber die Suggestion ist nicht Muskelkater-resistent. Nur wer immer wieder die Droge erneuert, gewissermaßen "auf Strunz läuft", wird den harschen Unterschied zwischen Theorie und Praxis ertragen. Der Medienwissenschaftler Jürgen Bräunlein hegt einen anderen Verdacht:

    Wenn ich ein Buch lese (...), so ein Fitneßbuch von Strunz, der mir erklärt "In 7 Tagen zum Joggingläufer", wenn ich das lese und durcharbeite, kann ich mir vielleicht einbilden, ich bin ja fast schon gelaufen. Ich glaube, es ist so eine Art Selbstsuggestion. So ähnlich wie ... man kauft sich Rezeptbücher, Bücher mit Rezepten, und kocht eigentlich gar nicht. Aber man liest die Rezepte und glaubt dann, eigentlich ernähre ich mich gesund.

    Geht man die Titelliste des Dr.med. Ulrich Strunz aufmerksam durch, bestätigt sich die Vermutung. Denn Kochrezepte gehören zu seiner moderne Diätik wie selbstverständlich dazu. "Quickies für Kopfarbeiter" heißt - fast schon satirisch - eine Hawaitoast-Sammlung, deren altbackene 08/15-Rezepte mit neckischen Slogans wie "Doping für Denker" kontrastieren. Fragt sich, ob das Geld hierfür nicht besser in echter Literatur angelegt wäre, mit der sich ein gut durchblutetes und darum nach Beschäftigung lechzendes Hirn lange Abende auseinandersetzen kann. Allen Unkenrufe zum Trotz sind Dichter nämlich nicht per se unsportlich.

    Das tun viele, nur einen Marathon zu laufen, aber das ist nicht meine Art. Ich schreibe viele Bücher, viele Gedichte und laufe immer. (...) Und ich liebe die Serien und die langen Strecken, und ich liebe auch die Routine, in der ich mich sehr wohl fühle, wenn ich weiß, wann ich am Tag etwas Bestimmtes tue, das gehört zum Beispiel mit zum Schreiben.

    Dritter Parcours: "Wie viele rennen davon, wer zu sich zurück?" Intellektuelle und ihre Ertüchtigungsübungen.

    Ob sich Günter Herburger mit 70 Jahren anschickt, das 325-km-Rennen von Mauretanien zu absolvieren oder Martin Walser im täglichen Trainingsrausch die Bodenseewellen bezwingt - so mancher Mittzwanziger dürfte angesichts von Kondition und Disziplin der älteren Herren erbleichen. "Lauf und Wahn" heißt das 1988 erschienene, leider wegen des Untergangs des Luchterhand-Signets nie mehr wiederaufgelegte Marathon-Tagebuch Günter Herburgers, das mühelos beweist: Sport beflügelt die Literatur, Literatur wird von sportlichen Ambitionen nicht verdrängt.

    Kehren und Kurven, Überholmanöver, ich kam aus dem Takt, fiel zurück, spürte Lungenschmerzen oder besaß plötzlich zwei zusätzliche Herzen unter den Schlüsselbeinen. Dafür sah ich mit den Schulterblättern, hörte mit den Knien und sammelte ein, was es umsonst gab: Orangenschnitze, immer zu sauer; Elektrolytwässerchen, vorteilhaft; Tee aus Bechern, zu süß; Knäckebrot, absurd; gelbe Schwämme zum Abwischen steckte ich in den Hosenbund, zuletzt besaß ich deren sieben, die lange Zeit im Familiengeschehen eine Putzrolle spielten.

    Ich bin auch auf der Flucht. Da ich ein großer Hysteriker bin, und auch ein Neurotiker, laufe ich natürlich morgens immer davon, um zurückkehren zu können. Aber das tun sehr viele. Die einen trinken, die andern rauchen, ich laufe, trinke und rauche, esse sehr viel und schreibe sehr viel.

    ... entlarvt Günter Herburger die in "Lauf und Wahn" gestellte Frage "Wie viele rennen davon, wer zu sich zurück?" als rein rhetorisch. Natürlich ist es nach allen Qualen immer wieder ein Ankommen bei sich selbst. Ohne Widerstand geht nichts im Sport, in seiner Überwindung liegt das Glück. Dem einen genügt es, die eigenen Muskeln zu strapazieren, andere wie John von Düffel benötigen einen imaginären Gegner:

    Vor dem Wasser kann der Schwimmer nichts verbergen, es nimmt seine Unruhe auf, es zeigt ihm seine Schwächen, läßt ihn ermüden oder ermuntert ihn, je nach dem, wie geschickt er seine Kraft im Wasser umsetzt. Und jede Strecke ist das Ergebnis eines Gesprächs, einer keineswegs so einförmigen Wechselrede von Wasser und Körper. Denn in diesem Gespräch gibt es alles: Eingebungen und Erschöpfung, das leere Gewäsch der Schläge und die präzisen, gut geführten Züge, die es schneller machen. Es gibt das Fließen und Stocken der Gedanken, Bewegungen und Gegenbewegungen, es gibt Abschweifungen, Flüchtigkeiten und Vorantreibendes.

    Das kleine Drama eines Marathon oder 100-Kilometer-Laufs ist vergleichbar den Krisen und den Dramen und Tragödien des Schreibens eines langen Romans.

    Muskelmasse und Sprachozean scheinen aus verwandtem Material gemacht: ungefügig und widerspenstig, einem schnellen Zugriff versperrt. Wenn Literaten über sportliche Anstrengungen berichten, reden sie stets zugleich über den Schreibprozeß. Das mag erklären, warum literarische Sportbücher trotz des potentiellen Massenpublikums ein Nischendasein führen. John von Düffels Schwimmreflexionen, erschienen als "Kleine Philosophie der Passionen" im Deutschen Taschenbuchverlag, machen da allerdings eine Ausnahme - wie die gesamte Reihe. Insgesamt umfaßt die leichte, unterhaltsame Essayistik jenseits von Laktattabellen sieben Sportarten: Fußball, Laufen, Tennis, Segeln, Schwimmen, Bergsteigen und Stadtradeln. Letzteres eine Disziplin, die der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude höchstpersönlich erfunden hat und vehement gegen Leistungsethiker aller Disziplinen verteidigt:

    Unheimlich trendy sind die Fitneß-Fahrer. (...) Sie müssen ununterbrochen erzählen, wie weit sie am Wochenende gefahren sind und wie gut ihnen das tut und wie fit sie seitdem sind und wie gut sie sich fühlen und wie viele Kilometer sie sich fürs nächste Wochenende vorgenommen haben, wenn nicht noch mehr. Natürlich wissen auch wir Stadtradler aus purer Genußsucht, daß Radeln gesund ist. Aber es ist uns wurscht. Und wir reden nicht darüber. Fitneß nimmt man in Kauf, man hechelt ihr nicht nach, ist das klar?

    Gut gebrüllt, Löwe, und sich dabei en passant auch noch vom politischen wie sportlichen Konkurrenten Joschka Fischer distanziert, der alle Maßstäbe dessen sprengt, was ein untrainierter Stubenhocker von sich und seinem Begleitpersonal verlangen kann. Sein Bestseller "Mein langer Lauf zu mir selbst" - nun im Taschenbuch erhältlich - ist inhaltsarm wie Strunz, aber ohne dessen suggestive Kraft. Das Buch lebt vom Fotovergleich. Wer den alten, aufgeschwemmten Oppositions-Joschka neben das stellt, was er aus sich selbst in wenigen Monaten formte, könnte dem Irrtum erliegen, der Außenminister habe unter einer Krankheit gelitten. Einer seelischen, wohlgemerkt.

    Vierter Parcours: Wenn alle Sehnen reißen. Adoniskomplex und Herkuleswahn.

    Das ist ein Teil einer fatalen, aber auch irgendwo lustigen Gleichberechtigung, die da stattfindet. Die werden jetzt genauso dem Schönheitsdiktat unterworfen oder müssen sich dem Schönheitsdiktat unterwerfen wie Frauen, und dazu gehört eben: Ich brauche einen Waschbrettbauch, ich muß mich zum Beispiel auch rasieren, also ich soll die Brusthaare entfernen. Ich muß meine Muskeln trainieren, ich glaube, ich muß schön sein.

    Dereinst hatte Sigmund Freud Befürchtungen, seine Psychoanalyse könne in den USA schlecht aufgenommen werden. Unbegründet, wie sich rasch zeigte - die Amerikaner erwiesen sich als Weltmeister im Neue-Komplexe-Erfinden. Die Psychiater Pope, Phillips und Olivardia steuerten unlängst den Adonis-Komplex bei. Denn gegen die vollendete Gleichberechtigung wirkt nur ein Mittel:

    Ganz gleich, welche Triumphe der Feminismus errungen hat (...), welche Leistungen Frauen vollbringen, nie im Leben werden sie in der Lage sein, beim Bankdrücken 160 Kilo zu stemmen.

    Also formt der entthronte Herr der Schöpfung beim Bodybuilding einen Körper, den Frauen nicht zu imitieren vermögen. Ob sie ihn freilich als sexuell verlockend empfinden, steht in den Sternen. Glaubt man den Psychiatern, spielt das bei den gedopten Masthähnchen aus den Kraftstudios auch keine Rolle mehr. Sex bedeutet ihnen ein bloßer Eiweißverlust, der den abgezirkelten Proteinhaushalt gründlich durcheinanderwirbelt. Als Lektüre ist das Buch "Der Adonis-Komplex" etwa so realistisch wie eine Nachmittagsshow auf RTL II, aber ähnlich bizarr und deswegen von einigem Unterhaltungswert. Ins Wechselbad der Gefühle stößt einen auch der überdrehte Marathonreport "Der Eis-Lauf" des Hamburger Journalisten Tom Ockers. Manche seiner Sätze scheinen direkt aus Testosteron gemacht:

    Der Boxer namens Laufen polierte mir schon wieder seit Stunden die Fresse.

    So sprechen echte Kerle, und Ockers ist der kerlste von allen. Ausgerechnet am kältesten Tag der Menschheitsgeschichte absolviert er den "Siberian Ice Marathon" und schreibt darüber, als sei es ein Witz: Mal eben hingefahren und überlebt. Mußte sein, um dem Sohn einen Vater abzugeben, der Vater genannt zu werden lohnt. "Herkuleswahn!" würden die Amerikaner jubilieren und flugs einen psychiatrischen Kongreß einberufen. Hierzulande bleibt nur die kleine Münze übrig - Tilmann Spengler könnte Ockers in sein Archiv der Sportinvaliden einsortieren. Kategorie: mentale Beschädigung. Gefunden hat der Rezensent diese Geste des Aufbegehrens gegen den Fitneß-Wahn in Spenglers schmerzlich-amüsantem Essay "Wenn Männer sich verheben. Eine Leidensgeschichte in 24 Wirbeln". Wer dieses Buch aus ganz gewissen Gründen konsultiert, ist für Fitneßliteratur längst verloren. Rehabilitation lautet dann sein Schlagwort, Schongymnastik, Akupunktur. Gerade darum sei Spengler all jenen empfohlen, die sich noch bewegen können. Als Menetekel bevorstehender Malaisen und zur Überwindung jener Hybris, wie sie idealtypisch bei Peter Handke zum Ausdruck kommt:

    Mein Spruch an die Läufer: "Keucht woanders!"

    Gründlich missverstanden muss Barfußgeher und Antikenfreund Handke die alten Griechen haben. Sie förderten den Sport nicht um des Muskelaufbaus willen, sondern weil sie den "Geist eines Weisen im Körper eines Athleten" suchten. An die Hanteln, Männer! Dabei kann man übrigens philosophischen Hörbüchern lauschen.

    Besprochene bzw. zitierte bzw. erwähnte Bücher

    Klaus Bergdolt: "Leib und Seele", C.H. Beck 1999, 29,90 Euro.

    John von Düffel: "Kleine Philosophie der Passionen: Schwimmen", DTV 2000, 8 Euro.

    Joschka Fischer: "Mein langer Lauf zu mir selbst", Knaur 2001. 8,90 Euro.

    Peter Handke: "Am Felsfenster morgens", DTV 2000, 14,06 Euro.

    Günter Herburger: "Lauf und Wahn", Luchterhand 1988. 16,40 Euro

    Harrison Pope et al.: "Der Adonis-Komplex", DTV 2001, 15,50 Euro.

    Tom Ockers: "Eis-Lauf", List Verlag 2002, 12 Euro.

    Josef H. Reichholf: "Warum wir siegen wollen", DTV 2001, 14,50 Euro.

    Adalbert Stifter: "Der Nachsommer", Goldmann 1999, 16 Euro.

    Ulrich Strunz: "Forever young. Das Leichtlaufprogramm". Gräfe und Unzer 2000, 20,90 Euro.

    Tilmann Spengler: "Wenn Männer sich verheben. Eine Leidensgeschichte in 24 Wirbeln" Rowohlt 1998, 7,50 Euro.

    Christian Ude: "Kleine Philosophie der Passionen: Stadtradeln", DTV 2000, 8 Euro.