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György Dragomán
Eine Kindheit in Rumänien

Mit dem Roman "Der weiße König" schrieb sich der 1973 in Siebenbürgen geborene, ungarische Schriftsteller György Dragomán 2005 in die Spitzenliga der osteuropäischen Literatur. Sein neuer Roman, "Der Scheiterhaufen", ist nicht als unmittelbare Fortsetzung des "Weißen Königs" zu lesen – und doch bilden beide Bücher eine Einheit. Dragomán liefert das düstere Porträt eines Landes im Umbruch, in dem Rumänien vor und nach der Revolution von 1989 kenntlich wird.

Von Holger Heimann |
    György Dragomán im Studio von Deutschlandradio Kultur
    György Dragomán im Studio von Deutschlandradio Kultur (Deutschlandradio/ Sandra Ketterer)
    Das Rumänien Ceausescus war 15 Jahre lang die Heimat von György Dragomán. Danach siedelte er zusammen mit seiner Familie nach Ungarn über. In seinen Büchern kehrt Dragomán indes immer wieder in das Land seiner Kindheit, zu einer der brutalsten und absurdesten kommunistischen Diktaturen in Europa zurück. Stets sind dabei seine Helden und Icherzähler Kinder. In seinem grandiosen Roman "Der weiße König", der in das Jahr 1986 führte, war es ein elfjähriger Junge, der sich inmitten von Lüge und Gewalt zu behaupten versuchte. Nun ist es die dreizehnjährige Emma, aus deren Perspektive wir das Land unmittelbar nach dem Sturz des Diktators erleben. Dragomán selbst erinnert sich noch präzise an die Erfahrungen seiner Kindheit:
    "Ich hatte nie eine Illusion. Ich wusste immer, ich lebe in einer Diktatur, und das ist gefährlich. Als ich drei Jahre alt war, sagte mir mein Vater, wie ich mich benehmen soll. Das hat mein ganzes Leben beeinflusst, dass man lügen muss, so tun muss als ob. Das alles bin ich geworden. Es war ganz traumatisch, darüber zu schreiben. Vielleicht kann ich kein Buch schreiben, das historisch akkurat ist, das interessiert mich auch nicht. Was mich interessiert ist das Ambiente, dieses finstere Ambiente näher zu bringen. Ich denke, nach der Wende oder Revolution war das nicht so ... Wenn man die Geschichtsbücher liest, ist es so, als würde man das Licht anschalten. Von der Dunkelheit kommt man ins Licht. Aber in Wahrheit ist es nicht so. Es ist ein sehr komplexer Prozess. Als ich nach Ungarn übersiedelte, war ich nicht plötzlich frei. Es dauerte mehr als drei Jahre, bis ich mich selbst gefunden hatte oder wusste, wer ich bin oder sein soll. Diese Erfahrung hat tiefe Zusammenhänge mit dem 'Scheiterhaufen'."
    Ist die Großmutter eine Lügnerin?
    György Dragománs Protagonistin Emma muss sich nach dem politischen Umsturz in einer undurchsichtigen Welt behaupten, die von Gespenster der Vergangenheit und Dämonen der Jetztzeit beherrscht wird. Von einer Frau, die sich als Emmas Großmutter vorstellt, wird das Mädchen, deren Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein sollen, aus einem Internat für Waisenkinder abgeholt. Fortan lebt das ungleiche Paar in einer kleinen, zutiefst zerrissenen Provinzstadt, in der Opfer und Täter aufeinandertreffen und sich die Menschen mit Misstrauen und Wut begegnen. War Emmas Großvater Dissident oder Spitzel? Hat er sich erhängt – oder wurde er umgebracht? Ist die Großmutter eine Lügnerin – oder eine tapfere, vertrauenswürdige Frau? Dragomán lässt die Antworten auf solche Fragen virtuos in der Schwebe und fängt dabei präzise die düstere Atmosphäre einer von der Diktatur vergifteten Gemeinschaft ein. Es ist eine Bedrängnis, die sich Dragomán selbst eingeprägt hat.
    "In so einer Gesellschaft, die sich in einer solch turbulenten Lage befindet, sind alle schuldig, die schuldig genannt werden. Es ist ganz hart, den richtigen Schuldigen zu finden. Das ist ein großes Ritual. Ich war nie ein Optimist. Ich habe das immer ganz dunkel gesehen. Geschichte ist für mich eine dunkle Geschichte, die man als Schriftsteller schreibt. Ich dachte immer, eine Diktatur ist ein Krieg, den die Gesellschaft mit sich selbst führt. Deswegen ist es so brutal, wenn man über Diktatur schreibt. Das Ganze ist eine ganz dunkle, finstere Geschichte, in der es kaum Licht gibt. Obwohl ich schreibe, weil mich das Licht interessiert."
    Wie schwer es ist, dieser Dunkelheit zu entkommen, davon erzählt das Buch. Da sind die peinigenden Erfahrungen der Kinder in einer Schule, wo viele Erzieher unverändert an alten Denk- und Verhaltensmustern festhalten. Die sadistische Sportlehrerin etwa zwingt Emma und ihre Banknachbarin zu einem Wettbewerb, bei dem sie immer wieder Sand aus der Weitsprunggrube in einem Sack über die Aschenbahn und zurücktragen müssen – bis zur totalen Erschöpfung. Der Geschichtslehrer, der wegen seiner ins Gesicht hängenden Haare nur Onkel Vorhang genannt wird, pocht wiederum darauf, dass nur das richtig ist, was in den alten Schulbüchern steht. Kein Hosenscheißer aus der siebten Klasse werde ihm sagen, was historische Wahrheit ist. Und damit das auch niemand vergisst, schlägt Onkel Vorhang einem uneinsichtigen Jungen die Nase blutig.
    Dragomán entlässt den Leser nicht ohne Hoffnung
    Die wunderliche Großmutter wiederum schleppt eine erdrückende Schuld mit sich herum. Obwohl sie zeitlebens versuchte, das Richtige zu tun und sich und ihre Nächsten zu beschützen, hat sie letztlich ihre beste Freundin an die Nazis und ihren Schwiegersohn an die Securitate ausgeliefert. Vor den alptraumhaften Erinnerungen und vor den Zumutungen der Jetztzeit ist sie in eine Parallelwelt geflohen – voller Zauber und Zeichen, Marotten und Mysterien. Auch ihre Enkelin zieht sie mit in dieses Reich.
    "Das ist eine wichtige Beziehung zwischen Emma und ihrer Großmutter. Ich dachte oft, sie ist eine Lehrerin, die versucht, ihrer Enkelin etwas beizubringen. Aber das Problem ist, sie weiß nicht, was sie ihr beibringen sollte, denn es ist nicht so einfach zu sehen, was man eigentlich aus ihrem eigenen Leben lernen kann."
    Zum eindrucksvollsten Abwehrzauber wird ein Scheiterhaufen in der Mitte des heimischen Gartens. Emma soll auf die für das Feuer bestimmten Zweige schreiben, wovon sie sich befreien möchte und – rückwärts – was sie sich ersehnt. Und Emma notiert: "Kummer" und "Kopfweh" sowie "Geld" und "Fuchspelz". Das sind einfache kindliche Wunschfantasien. Doch Emma ist kein naives, unreflektiertes Kind mehr, wie noch ihr Pendant, der zwei Jahre jüngere Dzsátá, in "Der weiße König". Während dem Jungen die Unmittelbarkeit des kindlichen Empfindens sofort zur Sprache wurde, ist Emmas Reden stockender, nachdenklicher, reifer. "Der Scheiterhaufen" ist ein düsteres Buch, das bedrückende Zeugnis einer beschädigten, traumatisierten Gesellschaft. Und doch entlässt Dragomán den Leser nicht ohne Hoffnung. Es sind bei ihm immer wieder die Kinder, die für eine andere Möglichkeit stehen, denen es vielleicht doch gelingt, aus dem Schutt der Geschichte ihre Wünsche und Sehnsüchte zu bergen.
    "Ich erinnere mich noch an die Euphorie. Als ich mich selbst neu erfunden hatte nach einem Jahr, hatte ich dieses Euphoriegefühl. Vielleicht hat das damit zu tun, damals war ich ein Adoleszent, man fühlt diese Kraft, ist von dieser Kraft erfüllt. Man denkt, alles ist möglich, man ist fähig, alles zu tun. Dieses fast magische Gefühl hat mich auch geprägt. Als ich das Buch schrieb, wusste ich, es ist wichtig, das wiederzufinden, die Neigung zur Freiheit, die Fähigkeit, Dinge richtig gut zu machen. Manchmal spürt man das bei Emma, die Macht des Widerstands, dass sie widerstehen kann und alles gut machen kann. Für mich war es wichtig, das zu zeigen. Obwohl, es wäre falsch zu sagen, Kinder wurden verschont von solch einer Gesellschaft, niemand wurde verschont. Dieses Trauma müssen alle ertragen. Aber für Kinder ist es vielleicht doch möglich, ein neues Leben zu finden, sie haben noch genug Zeit dafür."
    György Dragomán: "Der Scheiterhaufen". Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer, Suhrkamp Verlag, 496 Seiten, 24,95 Euro.