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Gysi: Drohung Camerons mit Austritt aus EU ist falsch

Der Fraktionschef der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, hält die EU-Austrittsdrohung des britischen Premierministers Cameron für falsch. Allerdings fordere Cameron zu Recht, dass die EU demokratischer werden müsse. Gysi glaubt jedoch nicht, dass Großbritannien tatsächlich aus der Europäischen Union ausscheidet.

Gregor Gysi im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Schuldenkrise, Eurokrise - kennen wir alles. Tatsächlich haben wir in Europa aber auch - und darauf muss man um diese Uhrzeit besonders hinweisen: Es ist gerade 7:18 Uhr - eine Frühstückskrise. Das jedenfalls analysierte Gregor Gysi in dieser Woche im Bundestag während des deutsch-französischen Festaktes:

    "Ich weiß, dass man in Frankreich hervorragend zu Abend essen kann, aber ich muss Ihnen sagen, das Frühstück ... - Wissen Sie, es gibt kleine Hotels in Frankreich, da kriegt man ein Croissant, einen Klacks Butter und einen Klacks Marmelade. Das ist ja ganz nett, aber noch kein Frühstück. Wir Deutschen können besser frühstücken!"

    Besser noch können es die Briten, die allerdings beim politischen Menü á la carte essen möchten. À la carte heißt wählen, und das heißt für den Premierminister 2017 Referendum über den Verbleib des Königreichs in der Europäischen Union, und er hat Bedingungen gestellt. Im nächsten Wahlprogramm der Konservativen werde der Binnenmarkt das zentrale Ziel der Europäischen Union.

    "The next Conservative Manifesto in 2015 will ask for a mandate from the British people for a Conservative Government to negotiate a new settlement with our European partners in the next Parliament. It will be a relationship with the Single Market at its heart."
    (Aus David Camerons EU-Rede)

    Heinemann: David Cameron ist britischer Premierminister und Gregor Gysi ist Fraktionsvorsitzender der Linken im Deutschen Bundestag. Guten Morgen!

    Gregor Gysi: Einen schönen guten Morgen.

    Heinemann: Was halten Sie vom englischen Frühstück?

    Gysi: Also ehrlich gesagt, ich finde, dass wir ziemlich weltweit am besten frühstücken. Ich habe ja die Französinnen und Franzosen auch sehr gewürdigt, sie können viel besser protestieren als wir, das muss ich ja einräumen. Aber das britische Frühstück ist auch nicht so ganz meine Welt. Aber das meine ich ja gar nicht ernst, das war ja wirklich ganz nett, sage ich mal. - Aber was jetzt der englische Premier ankündigt, ist ja doch, sagen wir mal, eine Drohung damit, sich aus der Europäischen Union zurückzuziehen. Ich finde das natürlich falsch. Aber das liegt auch daran, dass sie sich nie genau als Insel entscheiden können, wollen sie eigentlich mehr an die USA ran oder mehr zu Europa gehören, und dieser Konflikt ist bis heute dort nicht gelöst worden.

    Heinemann: Inwiefern Drohung?

    Gysi: Na ja, indem er sagt, entweder ihr macht das, was wir wollen, oder wir werden das Ganze zur Abstimmung stellen und dann scheiden wir eben aus aus der Europäischen Union.

    Heinemann: Das ist doch ein typisches europäisches Verfahren.

    Gysi: Das ist allerdings wahr, da haben Sie recht. Aber sagen wir mal, er spitzt das in besonderer Weise zu. Und ich finde, man soll sich auch nicht so darüber aufregen. Wenn Großbritannien aus der EU ausscheidet, scheidet Großbritannien eben aus. Letztlich glaube ich das aber nicht. Die Bevölkerung wird auch wissen, welche Vorteile die Europäische Union für sie bringt.

    Heinemann: Aber Großbritannien gehört ja zu Europa. Überlegen Sie mal, wo Karl Marx Teile seines "Kapitals" geschrieben hat.

    Gysi: Ja, das müssen Sie mir nicht sagen. Ich fahre auch gerne nach London. Ich meine ja auch, dass das zu Europa gehört. Ich sage nur, sie haben so ein komisches Verhältnis. Sie haben eine ganz enge Bindung an die USA. Sie haben ja da auch mal geherrscht in den USA, und Sie wissen ja, wie knapp die Entscheidung in den USA für die englische Sprache war. Das alles hat Folgen bis heute, und das verstehe ich auch. Ich verstehe bloß nicht, warum sie das immer so alternativ sehen, also warum sie immer sagen, ja wenn man sich näher dorthin fühlt, gehört man eigentlich nicht ganz zu Europa und so.

    Heinemann: Stichwort komisches Verhältnis. Cameron hat ja Bedingungen gestellt. Er hat gesagt, Wettbewerbsfähigkeit steigern, flexibler werden unter Berücksichtigung auch der Interessen der Staaten, die jetzt nicht zur Währungsunion gehören, Kompetenzen zurückverlagern auf die nationale Ebene und demokratischer und fairer werden. Wäre das nicht die bessere EU?

    Gysi: Also demokratischer muss es auf jeden Fall werden. Das geht ja nicht, dass Banker wie, sagen wir mal, in Griechenland und in Italien einfach mal so Premierminister werden, ohne dass da vorher eine demokratische Wahl stattgefunden hat.

    Heinemann: Da hat Cameron doch recht!

    Gysi: Ja, da hat er recht in dem Punkt. Aber dafür kann man streiten, ohne zu sagen, sonst scheiden wir aus, sondern dann kann man sagen, ich bin dafür und ich setze mich dafür ein, dass wir die Strukturen demokratischer gestalten. Ich weiß immer nicht, was mit wettbewerbsfähig gemeint ist. Sehen Sie mal, jetzt bei Griechenland und bei Italien, Spanien und Portugal sagen wir immer: Löhne runter, Renten runter, das macht die wettbewerbsfähiger. In Wirklichkeit geht die Wirtschaftsleistung dort zurück. In Wirklichkeit gehen die Steuereinnahmen dort zurück. Das ganze Geld ist in den Sand gesetzt, weil die sind ja gar nicht in der Lage, das zurückzubezahlen.

    Also ich kann nur sagen, da habe ich immer meine Vorbehalte. Da möchte ich mal gerne wissen, was darunter verstanden wird. Wenn man darunter versteht, die Qualität zu erhöhen und so weiter, das geht. Und wir Deutschen müssen natürlich auch Dinge ändern in der Europäischen Union. Wir sind ja der Vizeweltmeister im Export. Das heißt, was wir mehr herstellen, als wir brauchen, sollen ja die anderen kaufen. Und jetzt sorgen wir in Südeuropa dafür, dass sie es gar nicht mehr kaufen können. Und außerdem müssen wir den eigenen Binnenmarkt stärken. Das stimmt alles, aber ich verstehe nicht ... Verstehen Sie, ich habe ja gar nichts gegen bestimmte Forderungen. Manche teile ich, andere teile ich nicht. Nur das muss man ja nicht damit verbinden, dass man sagt: Wenn ihr das nicht macht, dann scheiden wir eben aus.

    Heinemann: Was Cameron nicht meint, wenn er Wettbewerbsfähigkeit stärken möchte, kann man in Frankreich besichtigen. Der Wirtschaftswissenschaftler Nicolas Baverez sagt, das französische Sozialsystem produziert verlässlich mindestens zehn Prozent Arbeitslosigkeit.

    Gysi: Ja, da habe ich eine andere Auffassung, weil ich nämlich sage: Wenn wir den Binnenmarkt nicht stärken - das gilt ja auch für Deutschland -, dann schwächen wir die Binnenwirtschaft. Ich habe ja nicht nur ein soziales Argument, ich habe ja auch noch ein ökonomisches Argument. Wir leben vornehmlich vom Export. Wenn wir die Löhne erhöhten, die Renten erhöhten, die Sozialleistungen erhöhten in Deutschland - und wir haben sie ja real gesenkt in den vergangenen zehn Jahren -, dann hätten wir eine stärkere Binnenwirtschaft und wären nicht so abhängig vom Export. Wir sind ja in Wirklichkeit diesbezüglich auch abhängig. Ich habe mir das ganz genau angesehen. Zum Beispiel Opel bricht deshalb zusammen in Bochum, weil eben der Markt in Südeuropa zusammenbricht, und sie dürfen nicht ausweichen. Bei Volkswagen geht es noch, da bricht der Markt auch zusammen in Südeuropa, aber sie können mehr verkaufen in die USA, nach Brasilien und nach China. Verstehen Sie, da entsteht ja eine Abhängigkeit von anderen Ländern. Wir setzen zu wenig auf die eigene Binnenwirtschaft. Das ist ja in Großbritannien noch anders. Das ist in Frankreich zum Teil auch noch anders als in Deutschland.

    Heinemann: Aber die Exporte sind doch was Positives.

    Gysi: Ich habe ja nichts gegen Exporte. Bloß wir sind immer darauf angewiesen, dass die anderen weniger herstellen, als sie benötigen, und bei uns einkaufen, und wir müssen uns immer einen Markt außerhalb suchen, wo wir das verkaufen, und keiner kommt bei uns auf die Idee, dass wir mal unsere Binnenwirtschaft stärken.

    Heinemann: Herr Gysi, das ist das vorherrschende Wirtschaftssystem, das geht nun mal so.

    Gysi: Dagegen habe ich auch nichts. Aber wenn man nicht darauf achtet und sagt, wir müssen auch unsere Binnenwirtschaft stärken, um nämlich darauf eingestellt zu sein, wenn der Export zurückgeht, dann entsteht eine Abhängigkeit, wo plötzlich Werke zusammenbrechen, weil der Export nicht mehr funktioniert, und wir haben dann nichts zu bieten, außer: Schade!

    Heinemann: Schauen wir uns die andere Forderung an: Rückverlagerung von Kompetenzen. Können nationale Parlamente nicht viel besser beurteilen, was gut für die Menschen ist und was nicht?

    Gysi: Ja, zum Teil selbstverständlich. Wir sind ja auch für die Stärkung der nationalen Parlamente. Außerdem haben wir sehr viele Mitgliedsländer. Das bedeutet natürlich, dass das ein längerer Prozess ist. Aber wir haben ja auch ein Europäisches Parlament, und ganz vieles wird am Europäischen Parlament vorbei entschieden. Das Problem bei der Europäischen Union zurzeit besteht darin, dass es ein Regierungsföderalismus ist. Also was der französische Präsident und die deutsche Kanzlerin miteinander vereinbaren, das wird irgendwie umgesetzt und das Parlament spielt so gut wie keine Rolle. Hier in Deutschland ist es noch anders, weil unser Bundesverfassungsgericht sehr darauf achtet, dass das Parlament wesentlich mit eingeschaltet wird.

    Heinemann: Sehr zum Ärger der Partner!

    Gysi: Richtig! Aber das finde ich wieder gut beim Bundesverfassungsgericht. Ich finde auch gut, dass unser Parlament dort mehr zu sagen hat. Aber das Europäische Parlament wird nach wie vor unzureichend einbezogen. Fast alles entscheidet doch die Kommission, fast alles entscheiden die Regierungschefs miteinander, und das geht nicht. Wir brauchen eine Europäische Union der Bevölkerung und nicht der Regierungen. Zurzeit haben wir in erster Linie eine Europäische Union der Regierungen, und das reicht nicht.

    Heinemann: Herr Gysi, ich stelle jetzt mal um 7:26 Uhr fest: In mehreren Punkten sind Sie Cameronist!

    Gysi: Das ist etwas übertrieben, aber er hat mit einer bestimmten Kritik recht. Ich finde bloß die Art, wie er das fordert und ansonsten mit Austritt droht, falsch. Wir müssen die Europäische Union, wenn Sie so wollen, neu starten, demokratischer machen, sozialer machen, ökologisch nachhaltiger machen. Das ist alles richtig, das ist auch alles wichtig, dafür kann man streiten und dafür kann man kämpfen. Das machen wir, das kann er auch gerne tun. Aber ich finde, immer zu sagen, entweder ihr macht A, B und C, oder ich gehe, keine Methode. Wir brauchen die Europäische Union schon wegen des Friedens in Europa und aus vielen anderen Gründen.

    Heinemann: Aber ist es nicht ein Segen, dass die Briten von Zeit zu Zeit diesen Brüsseler Apparat auf den Prüfstand stellen?

    Gysi: Ja, wenn es nur so eine Drohung ins Leere hinein wäre, ginge es. Aber wenn man einer Bevölkerung einen Volksentscheid verspricht, dann muss man das eigentlich auch machen. Und wenn man es dann macht, dann weiß auch Cameron nicht, wie es ausgeht. Und wenn es so ausginge, dass Großbritannien ausscheidet aus der EU, dann isolieren sie sich auch. Ob das gut ist im Interesse der britischen Bevölkerung, da darf ich noch mal ein Fragezeichen machen.

    Heinemann: Was gut ist für die EU, weiß auch keiner, nämlich wie viele, welches Ziel, bis wann, auf wessen Kosten. Wer sollte jetzt die Gegenrede zu David Cameron halten?

    Gysi: Na ja, am besten wäre das, wenn es vielleicht viele Ministerpräsidenten machten, nicht nur einer, aber nicht eine Gegenrede, sondern eine Rede, wo sie sagen, tatsächlich muss sich das ändern, das ändern, das ändern, aber jenes nicht und jenes nicht und jenes nicht, also wo man nicht einfach bloß sagt, nein, ich lehne das ab, sondern mal sagt, ja wie können wir denn wirklich unsere Europäische Union sozialer, ökologisch nachhaltiger und vor allen Dingen auch demokratischer gestalten.

    Heinemann: Aber wäre das nicht dieselbe Rosinenpickerei, die Cameron jetzt vorgeworfen wird?

    Gysi: Nein. Im Gegenteil! Da kann man doch sagen, wieso, das ist doch eine ganz normale politische Auseinandersetzung, dass man sagt, da hat er meines Erachtens recht und da hat er meines Erachtens nicht recht. Und dann setzt man sich zusammen und fängt an, darüber zu diskutieren. Und dann muss man verabreden, was man eigentlich verändern will und was nicht. Und dann könnte er wieder sagen, okay, das genügt mir, oder er bleibt bei seiner Drohung. Aber ich sage mal, letztlich, wenn Großbritannien ausscheidet, ist das nicht gut, aber nun auch keine Katastrophe.

    Heinemann: Gregor Gysi, der Fraktionsvorsitzende der Linken im Deutschen Bundestag - danke schön für das Gespräch. Wir wünschen Ihnen natürlich ein gutes Frühstück ...

    Gysi: Danke schön!

    Heinemann: ... und auf Wiederhören!

    Gysi: Auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.