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Händel-Festspiele Göttingen
Händels Heldinnen herausragend inszeniert

Die Händel-Festspiele in Göttigen haben sich in den vergangenen Jahren zu einer echten Institution etabliert – dabei kommen sie ohne große internationale Namen aus und können es vom Niveau her gut und gerne mit den Salzburger Pfingstfestspielen aufnehmen.

Von Kirsten Liese |
    Als Intrigantin, die nur das eine Ziel verfolgt, ihren Sohn auf den Thron zu hieven, erscheint Agrippina als eine ziemlich rücksichtslose Person. Die umjubelte Festspielproduktion in Göttingen lässt gleichwohl keinen Zweifel daran, dass wir es mit einer sehr komplexen, starken Persönlichkeit zu tun haben. Für den Regisseur Laurence Dale ist sie eine Heldin mit verschiedenen Gesichtern:
    "In gewisser Weise ist sie eine böse Frau, wir erleben sie aber auch als Mutter, die ihren Sohn über alles liebt, ihn für seinen mangelnden Ehrgeiz allerdings auch bitter tadelt. Und plötzlich, in einem Moment größter Ernsthaftigkeit, macht sie, die den ganzen Abend immer nur gelogen hat, ihrem Mann, den sie bald ermorden wird, herzergreifend die denkbar schönste Liebeserklärung."
    Diese Szene geht in Göttingen besonders tief unter die Haut, weil Laurence Dale die tragische Fallhöhe drastisch aufzeigt. Beherrschte Agrippina eben noch als stolze, majestätische Erscheinung mit breitem Reifrock und prächtigem Kopfschmuck die Szene, ist sie nun eine alte Frau mit weißem schütten Haar, erschlafftem Körper und vielen Falten, überwältigt von qualvollen Gedanken und Zweifeln. Die Mezzosopranistin Ulrike Schneider vollzieht diese Wandlung enorm. Sie geht ganz und gar in ihrer Rolle auf.
    Die lebendige, präzise Personenregie und der eines William Shakespeare würdige Humor sind weitere Trümpfe der Göttinger "Agrippina". Eine Klasse für sich ist der Bassist João Fernandez als stark beleibter, lüsterner Kaiser, ein törichter Ritter Falstaff, der nicht bemerkt, dass die Frauen ihn ausnutzen.Barockes Kolorit kommt bei alledem nicht zu kurz. Robby Duiveman hat prächtige, vornehme Kostüme entworfen. Zudem steht in Gestalt des Müttersöhnchens Nerone auch die Popkultur wieder auf, die mit ihrem grellen Outfit dem 18. Jahrhundert erstaunlich nahe war.
    Zu der thematischen Ausrichtung passt es gut, dass sich die Festspiele in Göttingen nicht nur auf Georg-Friedrich Händel festlegen. Romantische Händel-Variationen von Mendelssohn und Brahms umrahmten bei einem Konzert des Göttinger Symphonieorchesters die Komposition einer Heldin der Gegenwart: Zur Uraufführung gelangte der Teil eines Zyklus von Isabel Mundry mit dem Titel "Motions - der doppelte Blick". Nach Auskunft der Komponistin übersetzt dieses Auftragswerk der Festspiele Körperbewegungen in Klänge, der Höreindruck bestätigte solche Assoziationen jedoch weniger. Mit abgenutzten experimentellen Spieltechniken und Effekten klang das Stück etwas beliebig.
    Im Übrigen aber bewegen sich die Göttinger Händelfestspiele musikalisch auf einem hohen Niveau. Dafür sorgen der Dirigent Laurence Cummings, der das Musikdrama "Agrippina" affektreich auslotet, sowie vorzügliche Ensembles. Göttingen kommt traditionell ohne internationale Stars aus. Das hat nicht nur finanzielle Gründe, sagt Festspielintendant Tobias Wolff:
    "Ich finde es viel spannender, auf Suche zu gehen, sich viele Vorstellungen anzuschauen auch in kleinen Theatern, und dort findet man immer wieder Sänger, die genau für das Repertoire sich hervorragend eignen."
    In diesem Jahr empfiehlt sich eine ganze Vielzahl herrlicher Stimmen, insbesondere schlanke, schöne Soprane und Countertenöre. Sie prägten etwa auch eine exquisite Aufführung des Händel-Oratoriums "Deborah" mit dem Göttinger Barockorchester und dem Göttinger Kammerchor unter Bernd Eberhardt.
    Die Heldinnen dieses Abends waren mehr noch als die alttestamentarischen Figuren deren vorzügliche Interpretinnen Anna Dennis und Johanna Neß. Mit betörend schönen, schwerelosen Kopftönen krönten sie ihre Arien und Duette. Besser können das etablierte Sängerinnen vom Rang einer Anna Prohaska auch nicht.
    Angesichts dessen und im Hinblick auf den besseren Geschmack seitens der Regie erscheinen die Göttinger Händelfestspiele mittlerweile fast noch attraktiver als die renommierten Salzburger Pfingstfestspiele.