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Häusliche Gewalt in Russland
Orthodoxe wehren sich gegen den Schutz von Opfern

In Russland wird häusliche Gewalt oftmals nicht verfolgt. Seit drei Jahren ist sie sogar unter bestimmten Bedingungen straffrei gestellt. Jetzt wird über ein Gesetz diskutiert, das Opfer besser schützen soll, doch der Widerstand dagegen ist gut organisiert.

Von Thielko Grieß |
Das Kreuz der Auferstehungskirche in St. Petersburg ist vor dem Panorama der Stadt zu sehen.
Der Staat habe sich nicht in die Familie einzumischen, sagen orthodoxe Aktivisten (Sputnik)
Jeden einzelnen ihrer Sätze schleudert Martha hinaus. Dazu beugt sie ihren Oberkörper nach vorn, danach wiederholen die anderen Demonstrantinnen und Demonstranten im Chor. "Niemand vertritt uns, keine Partei, nicht das Showbusiness, niemand Bekanntes. Wir müssen den Kampf für unsere Rechte in unsere eigenen Hände nehmen."
Martha gehört der sozialistisch-feministischen Organisation SozFem Alternativa an. Und man muss ein paar Sätze über die Umstände dieser Klein-Demonstration verlieren: "Man hat uns keine Lautsprecheranlage, keine Mikrofone genehmigt. Und außerdem nur fünfzig Teilnehmer. Werden es mehr, können die Organisatoren Strafen bekommen."
Wer der Staatsmacht suspekt ist, muss sich eben gehörig anstrengen, um überhaupt gesehen und gehört zu werden. Es ist halb sieben am Abend und längst dunkel, Scheinwerfer sind auch nicht gestattet, doch der kleine Platz füllt sich weiter. Hinterher wird es heißen, es seien bis zu 400 Teilnehmer geworden. Festnahmen habe es keine gegeben, auch keine Strafen.
Nicht ganz vorn, wo nun andere Rednerinnen ihre Forderungen in die Menge werfen, sondern etwas weiter hinten hält auch Angelika ein Pappschild in die Höhe – schnell gemalt, sagt sie, weil sie mit ihrer Freundin Rita direkt von der Uni kam.
"Ich bin auch betroffen", sagt Angelika. Sie wurde missbraucht. "Ich weiß einfach, dass dieser Mensch jetzt absolut ruhig in einer neuen Familie lebt. Ich finde, es ist meine Pflicht, hierher zu kommen und hier zu sein. Wenigstens. Wenn er schon nicht bestraft wird, dann soll es in Zukunft doch nicht noch mehr Opfer geben. Das Schreckliche ist, dass die Gewalt von jemandem ausgeübt wird, von dem Du es überhaupt nicht erwartest. Das ist das allerschmerzlichste."
Der genaue Inhalt des Gesetzes ist noch unklar
Angelika und Rita sind 20 Jahre alt. Damit sind sie an diesem Abend wohl Durchschnitt. Der ist jung, weiblich, gebildet. "Meine Mutter meinte, es sei sinnlos, hierher zu kommen. Gewalt in Familien passiere eben, meinte sie, und wir könnten nichts machen. Aber ich finde das nicht. Als ich gesehen habe, dass hier junge Menschen sind, sind mir die Tränen gekommen, so viele Leute hatte ich nicht erwartet. Ich bin stolz, dass ich in dieser Generation geboren wurde."
Und dann hält Rita wieder ihr Schild hoch. "Wir brauchen dieses Gesetz" steht auf Russisch darauf. Was genau in diesem neuen Gesetz stehen soll, ist noch gar nicht klar. Doch es zeichnet sich ab, dass Opfer etwas besser als zurzeit geschützt werden sollen: Täter sollen auf Abstand gehalten, Nachstellungen bestraft werden können. Von mehr Hilfszentren ist die Rede. "Wenn das Gesetz durchgesetzt werden soll, braucht man dafür Geld aus dem Haushalt", zweifelt Martha, die Organisatorin mit der lauten Stimme, daran, dass sich etwas ändert.
Dass es diese moderaten Versuche, Opfer besser zu schützen, überhaupt gibt, ist eine Überraschung. Denn erst vor knapp drei Jahren war ein von der Kremlpartei und der Systemopposition gemeinsam verabschiedetes Gesetz in Kraft getreten, das Gewalttätern das Leben seither erleichtert: Wer erstmals zuschlägt und dann so, dass das Opfer nicht gleich ins Krankenhaus muss, kommt mit einem überschaubaren Bußgeld davon.
Sämtliche ernstzunehmenden Statistiken weisen in dieselbe Richtung: Opfer werden vor allem Frauen, Täter sind vor allem ihre Partner. Genaue Zahlen jedoch gibt es nicht. Vielleicht sind es drei Frauen je Tag, die bei sich zu Hause getötet werden, vielleicht mehr, ziemlich sicher nicht weniger.
Eine weitere Folge der geltenden Gesetzeslage ist, dass die Polizei oft abwinkt, wenn eine Überlebende den Mut aufbringt, sich an sie zu wenden.
Währenddessen gibt es in Russland mächtige Gruppen, die nicht so sehr Gewalt, Prügel und Morde für das Problem halten. Sondern die überall Einmischung von außen wittern.
Orthodoxer Widerstand
Die Bewegung "40 mal 40" durfte am vergangenen Samstag in einem Moskauer Park eine Bühne, Mikrofone und Lautsprecher aufbauen. Rund 200 Menschen demonstrierten gegen den Gesetzentwurf. "40 mal 40", das soll die Zahl der Moskauer Kirchen vor Jahrhunderten bezeichnen, wenngleich es keine 1.600 Kirchen gab.
Die biblische Zahl mit sich zu multiplizieren steht im russischen Alltagssprachgebrauch denn auch nicht für eine präzise Zahl, sondern einfach für viele. Womit sich der Bogen in die Gegenwart ganz von allein schlägt: Hier geht es nicht um Fakten.
Sogar staatliche Fernsehkanäle stellten alle Männer als Tyrannen dar, ereifert sich der Bewegungsvorsitzende Andrej Kormuchin. Seine Organisation vertritt nach eigener Auffassung streng orthodoxe Werte. Moderne Frauenrechte zählen nicht dazu. Hinter ihm prangt ein Schriftzug mit dem Hashtag "sa semju", für die Familie. In die klar hierarchisch gegliederte Familie habe sich der Staat nicht einzumischen.
Ein Politiker der Kremlpartei Geeintes Russland ergänzt: "Dieser Gesetzentwurf teilt unsere Gesellschaft in Aggressoren und Geschädigte auf. Das ist ein gefährliches Experiment."
Kinder könnten aus Familien herausgenommen werden, wird behauptet, auch wenn nach dem, was vom Gesetzentwurf bekannt ist, ein solcher Schutz von Kindern vor prügelnden Vätern gar nicht geplant ist. Der nächste Redner meint, das Gesetz hätten sich Kräfte aus dem Westen ausgedacht, die Russlands Niedergang beabsichtigten. Ein anderer malt die Drohkulisse, das Gesetz ebne Homosexuellenparaden in russischen Städten den Weg.
Gewaltopfer zu schützen, ist ein langwieriger Prozess. Eine der Initiatorinnen des Entwurfs wird bedroht. Sie vermutet die Quelle im Umfeld erzkonservativer, orthodoxer Bewegungen, denen so vieles heilig ist. Nur der Schutz von Schwächeren nicht allzu sehr.