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Hafenstadt am Gelben Meer

Am 1. Mai öffnet die Expo in Shanghai ihre Pforten. Mit Superlativen wird auf der Weltausstellung nicht gegeizt werden. Aber auch Shanghai selbst ist ein Riesen-Reiz für alle Sinne.

Von Reinhard Hübsch |
    Wo auch immer man sich in den letzten Monaten in Shanghai aufhält – die Expo ist allenthalben präsent: mit dem blauen Maskottchen, mit dem grünen logo, auf Plakaten, in Fernsehspots, überall wird dem Besucher der Hafenstadt am Gelben Meer erläutert, was zu sehen sein wird, und an Superlativen wird da, wie bei jeder Weltausstellung der letzten Dekaden, natürlich nicht gegeizt:

    Auf fast sechs Quadratkilometern wird es die weiträumigste, mit erwarteten 70 Millionen Besuchern die mit den meisten Gästen in der fast 160-jährigen Geschichte der Weltausstellungen werden, versprechen die Organisatoren, die mitten in der Stadt in einem Expo-Pavillon Touristen und Einheimischen erklären, was auf sie erwartet, etwa der chinesische Pavillon, der größte auf dem Gelände, 69 Meter hoch.

    Doch nicht nur die Chinesen werben für die Expo, für sich, auch die mehr als 200 Aussteller, Organisationen wie Nationen, führen interessierte über ihre Baustellen. Der deutsche Pavillon steht unter dem Thema "BalanCity" und will, schon mit seiner Architektur, für das innere Gleichgewicht der Städte, aber auch für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Stadt und Land werben.

    Johannes Dosch ist der verantwortliche Bauingenieur auf der 6000 Quadratmeter großen Baustelle, auf der die Bundesrepublik 30 Millionen Euro investiert, um den Gästen aus aller Welt zu zeigen, was deutsche Stadtplaner leisten und was die deutsche Wirtschaft produzieren kann – bis das Ausstellungsgebäude mit seiner High-Tech-Architektur nach Ende der Expo, also im November, wohl abgerissen werden wird:

    Ob der deutsche Pavillon dazugehören wird – am 11. Mai wird man es wissen. Fest steht, dass Shanghai ab Ende dieses Jahres mit dem Expo-Gelände endlich - muss man wohl sagen - ein großes, innerstädtisches Naherholungsgebiet haben wird, eine Art Central Park als Ruhezone.

    Und einen Pausenraum benötigt die Boomtown auch dringend. Auf einer Fläche von mehr als 6300 Quadratkilometern, etwa doppelt so groß wie das Saarland, leben 20 Millionen Menschen, also ein Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung. Die Bevölkerungsdichte liegt in der Kernstadt bei weit über 22.000 Menschen pro Quadratkilometer – in Berlin sind es knapp 4000. Wer sich einen Eindruck von der Bebauungsdichte machen will, sollte die Urban Planing Exhibition Hall besuchen, die direkt am zentralen People Square, dem Volksplatz liegt: Dort wird Shanghai en miniature gezeigt, als Stadtmodell, ein Stockwerk darüber übrigens ein Modell des Expo-Areals.

    Und der Druck auf die prosperierende Stadt hält an, hier, wo im Containerhafen mit mehr als einer halben Milliarde Tonne so viele Güter bewegt werden wie in sonst keiner Stadt der Welt, und da werden Arbeitskräfte aus dem Inneren des Landes geradezu magisch angezogen.
    Aber nicht nur sie: Im als "Paris des Ostens" gerühmten Shanghai haben zahlreiche Hochschulen ihren Sitz, unter anderem die renommierte die Tonji-Universität mit 30.000 Studenten – eine Hochschulstadt, deren Ruf immer wieder mit dem britischen Oxford, mit dem amerikanischen Harvard verglichen wird. Shanghai bietet diesem intellektuellen Publikum diverse Museen und Galerien, ein – in Chinas Städten keine Selbstverständlichkeit – ein eigenes Opernhaus und immer wieder große, artistische Shows.

    Das Ensemble ERA präsentiert hier mehrfach in der Woche seine "Intersection of Time" mit jenem verblüffenden Wagemut, den man vom chinesischen Staatszirkus her kennt, mit fliegenden Menschen, Motorrad-Artistik, light-show und einem Abschluss, der an die Melodramatik des Film-Epos "Titanic" erinnert, wenn ein Paar an und in weißen Tüchern durch die Riesenkuppel schwebt.

    Das kulturelle Leben der Stadt ist unüberhör-, unübersehbar auch vom Westen geprägt, nicht zuletzt durch die Geschichte. Mitte des 19. Jahrhunderts erzwang die britische Regierung Sonderrechte von den Chinesen, wenig später richtete Frankreich, dann die USA und schließlich Japan eigene Konzessionsgebiete ein, in denen sie ihre Repräsentanzen erbauten – im Kolonialstil, wie er heute noch am "Bund", der legendären Promenade am Westufer des Huangpu zu sehen ist. Der Huangpu zerschneidet die Stadt in zwei Teile, bevor er ins Meer fließt.

    Jenseits der Altstadt, am Ostufer liegt Pudong, hier ist in den letzten Jahren ein neuer Stadtteil entstanden, dessen Hochhäuser zu den Ikonen Asiens zählen, etwa der 468 Meter hohe Fernsehturm, der leicht kitschige Oriental Pearl Tower, der ebenso besichtigt werden kann wie das benachbarte Shanghai World Financial Center, mit knapp 500 Metern das höchste Gebäude Chinas, aufgrund seiner Form und der Öffnung im oberen Teil auch als "Flaschenöffner" bezeichnet. Von der Aussichtsplattform im 100. Stockwerk mit dem gläsern durchbrochenen Fußboden hat man einen fantastischen Blick über die Stadt und – auf das Jin Mao Building nebenan, ein 420-Meter-Riese, der, anders als zahllose andere Gebäude der Stadt, chinesische Architekturelemente aufnimmt, nämlich die der Pagode.

    Auch der chinesische Pavillon auf der Expo steht in die Tradition der chinesischen Baugeschichte, in Shanghais Altstadt kann man gelegentlich noch etwas von den shi-ku-men, den meist dreigeschossigen Steinbauten ahnen, Wohnhäuser, in deren Erdgeschossen Lebensmittel verkauft werden, die shi-ku-men, die sich häufig zu sogenannten Longtans, zu Gassenhäusern formierten und so autonome, in sich geschlossene Quartiere bildeten. Doch in Shanghai wird die Baugeschichte getilgt, abgerissen, es wird Platz gemacht für die in der Regel 30- bis 40-geschossigen Wohnhochhäuser, die dringend benötigt werden, aber die Geschichte des Landes, der Stadt ignorieren. Warum?

    "Als die westlichen Kolonisatoren mit Waffengewalt hierher kamen und Shanghai besetzten, litt das Land unter der vermeintlichen kulturellen Rückständigkeit; zu dieser Zeit war China ein Land mit einer langen, Jahrhunderte zurückreichenden Geschichte, und da gab es natürlich den Willen, unsere kulturellen Eigenheiten zu zeigen",

    so Ruan Yisan, Architektur-Professor an der renommierten Tonji-Universität.

    "Als die Europäer die chinesischen Gebäude sahen, verstanden sie sie nicht. Sie sahen nur die relative Rückständigkeit von Technik und Wissenschaft hierzulande und blickten deshalb beinahe verächtlich auf das chinesische Volk herab und glaubten, die chinesische Architektur sei wertlos. Chinesische Architektur, dachten sie, dass seien nur die Dächer, das seien Säulen und Stufen – mehr nicht. Für sie nur simpel, nur banal."

    Und von diesem Missverständnis hat sich chinesisches Selbstverständnis bis heute, so scheint es, nicht erholt. Die Geringschätzung der Kolonialmächte provozierte mangelndes Selbstbewusstsein gegenüber den eigenen kulturellen Leistungen und Traditionen, und die westliche Überlegenheit im Bereich der Technik schien den ausländischen Machthabern recht zu geben. Erst allmählich entwickelt sich ein neues, chinesisches Selbstbewusstsein im Bereich der Architektur.

    Dabei zeigt eine jüngere Architektengeneration, dass sie durchaus zur weltweiten Spitzenklasse zählt, etwa der 47-jährige Baukünstler Wang Shu, der in Hangzhou sein Büro hat, rund 200 Kilometer südwestlich von Shanghai. Dort, in der Sieben-Millionen-Metropole, hat er für die renommierte China Academy of Art, die beste Kunsthochschule des Landes, ein Ensemble geplant und realisiert, das europäische Bauen a la Le Corbusier mit chinesischen Traditionen auf eine so sensationelle Weise verknüpft, dass die Jurorinnen und Juroren des Pritzker-Preises in den nächsten Jahren nicht umhin kommen werden, ihn zumindest für eine Auszeichnung mit dem renommiertesten Architekturpreis der Welt in Erwägung zu ziehen.

    Shanghai, eine Groß-, eine Dauerbaustelle, nicht nur auf dem Expo-Areal, nicht nur für den Wohnungsbau. Für die Weltausstellung wurde auch das öffentliche Nah- und Fernverkehrsnetz in den letzten Jahren mit Riesensummen ausgebaut, damit die erwarteten 70 Millionen Besucher weitestgehend problemlos in und durch die Stadt transportieren zu können. Wer etwa auf dem Flughafen in Pudong landet, kann sich mit Tempo 420 per Maglev, also dem Transrapid, binnen weniger Minuten ins Stadtzentrum chauffieren lassen – für umgerechnet fünf Euro.

    Den Transrapid baute hier die deutsche Siemens AG, auch andere Unternehmen aus der Mitte Europas haben hier große Niederlassungen wie BASF und die Bayer AG. Fast sämtliche Taxis der Stadt etwa stammen von VW und wurden hier gebaut. Und das Taxi ist, zumindest für Europäer und Nordamerikaner, immer noch das billigste, schnellste und komfortabelste Fortbewegungsmittel in der Stadt der großen Distanzen: 120 Kilometer fährt man vom Norden bis zum Süden, immerhin noch 100 in Ost-West-Richtung. Und wer ein Taxi benutzt, sollte sich nicht auf sein Englisch verlassen – die meisten Taxifahrer beherrschen es ebenso wenig wie die lateinische Schrift. An der Hotelrezeption etwa sollte man sich das Ziel in chinesischen Schriftzeichen notieren lassen und die dem Fahrer zeigen.

    Die Hotels bieten einen Standard, der jeden europäischen Touristen zufrieden stellt. Neben den komfortablen Neubauten etwa von Hilton und Hyatt, Radisson und Westin bieten sich zahlreiche Häuser mit weit zurückreichender Geschichte an, darunter das traditionsreiche, frühere Sassoon Hotel, das als erstes Hochhaus der Stadt gilt.

    1926 ließ es der aus Großbritannien gebürtige Unternehmer Victor Sassoon erbauen, als Nobelherberge für die zahlreichen europäischen Touristen. Als es 1929 am Bund fertiggestellt war, bildete das Sassoon nicht nur den luxuriösen Art-Deco-Tempel der Stadt, es war und blieb mit seinen 77 Metern Höhe für Jahrzehnte das höchste Gebäude Shanghais. Heute firmiert es als Peace Hotel, Hotelmanager Ma Yongzhang:

    "Nach vielen Jahren des Betriebs waren manche Teile des Hotels überaltert, und im neuen China wurde das Haus kontinuierlich renoviert, aber die ursprünglichen Teile wurden originalgetreu überholt. Wer also besonders an der Design-Geschichte der 20er- und 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts interessiert ist, kann hier in Erinnerungen geradezu schwelgen."

    Das Haus dokumentiert nicht nur Kultur-, sondern auch Zeitgeschichte: Hier fanden wichtige Konferenzen statt, hier nächtigten prominente Politiker wie US-Präsident Bill Clinton. Doch auch andere Häuser wie das Astor House, ein Grandhotel, das bereits 1846 seine Pforten öffnete, können auf prominente Besucher wie Albert Einstein, Bertrand Russell und Charlie Chaplin verweisen.

    Ob Politiker, Wirtschaftskapitän, Schauspieler oder Wissenschaftler – sie alle besuchten die rastlose Stadt mit festem Programm. Wer als Tourist die Stadt besucht, wird die ungeheure Energie verspüren, die in dieser Stadt gebündelt ist – übrigens nicht nur am Tag.

    In der Nacht entfaltet Shanghai, auch als "Perle des Orients" charakterisiert, einen eigenen Charme, der weniger an Perlen erinnert denn an Diamanten, in denen sich das Licht bricht. Wer dann in einem der Restaurants hoch über der Stadt diniert, staunt über das blaue Band, das sich durch die Stadt zieht – die Hochstraße, eine mehrspurige Autobahn, wird nämlich von nahezu unsichtbar montierten Neonröhren kilometerlang illuminiert, und wer abends die Nanjing Road entlang flaniert, die touristische Einkaufsmeile der Stadt, ist ebenfalls fasziniert von der Strahlkraft der Lichter-Stadt.

    Und doch finden sich hier immer wieder auch kontemplative Bereiche. Wer den Tagesausflug nach Suzhou scheut, der 750.000-Einwohnerstadt rund 100 Kilometer westlich von Shanghai, wo die durch die UNESCO geschützten Gartenanlagen offen stehen, der kann in der Altstadt von Shanghai etwa den Yu Yuan besuchen, den "Garten der Zufriedenheit", dessen Dramaturgie, dessen Inszenierung sich gänzlich von europäischer Landschaftsarchitektur unterscheidet. Und kontemplative Erfahrungen ermöglicht auch der Besuch des Jade Buddah Tempels, der nicht nur Einblicke in die Kulturgeschichte Chinas ermöglicht, sondern auch Zugang zu den religiösen Fundamenten.

    "Auf der Suche nach Moral, Idealismus und Sinn in einer Gesellschaft, die vom krassen Materialismus geprägt ist, haben sich viele Chinesen wieder den Religionen zugewandt",

    resümiert Petra Kolonko in ihrer überaus lesenswerten Studie "Maos Enkel", und wer die politischen und sozialen Verhältnisse im Reich der Mitte besser verstehen möchte, sollte für den elfstündigen Flug von Frankfurt nach Shanghai auch die ebenso kluge Analyse "Was denkt China?" mitnehmen, die Mark Leonard vorgelegt hat, Direktor für internationale Politik am Center for European Reform in London.

    Aber: Shanghai ist nicht China, und China ist nicht Shanghai, denn in der 20-Millionen-Metropole, die als Sonderwirtschaftszone direkt der Regierung untersteht, gelten eigene, liberalere Grundsätze. Dieses Shanghai aber wird vom 1. Mai bis zum 31. Oktober China repräsentieren, auf der Expo 2010, und die Expo, die Weltausstellung, wird auf Shanghai rückwirken und damit auf China - das hoffen nicht nur die Gäste, das erwartet auch die Regierung in Peking.