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Haiti nach dem Hurrikan "Matthew"
Ein Land der permanenten Katastrophe

Die Haitianer hatten wenig – jetzt haben viele nichts mehr: Durch den Wirbelsturm "Matthew" sind Hunderte Menschen ums Leben gekommen. Einwohner, die vorher in Hütten lebten, wohnen nun in Zelten. Dazu kommt eine Regierung, die sich nur durch Tricks an der Macht hält.

Von Anne-Katrin Mellmann |
    Ein Mann steht nach den Hurrikan "Matthew" in den Trümmern seines Hauses in Jeremie, im Westen Haitis.
    Haitis Behörden können noch nicht bilanzieren, wie viele Menschen gestorben, wie viele verletzt oder verschollen sind. (afp/Retamal)
    In kaum einem Land könnten Hurrikanschäden größer sein als in Haiti: Die wackeligen Hüttenkonstruktionen der ärmsten Bevölkerung der westlichen Hemisphäre sind schlicht weggeflogen. Wassermassen machen die Reste unbrauchbar. In der Provinzhauptstadt Jérémie im Westen des Karibikstaates waten die Menschen durch eine Mischung aus Schlamm, Geröll und Müll. Häuser mit Dächern gibt es kaum noch, nicht einmal Krankenhaus und Kirche haben eines. Ein Vater campiert mit seinen Kindern im Freien:
    "Wir haben nichts mehr, der Hurrikan hat uns sogar die Hemden vom Rücken gerissen, die Windstöße warfen uns durch die Gegend. Aus unserer Hütte mussten wir fliehen. Das Meer hat alles weggerissen."
    Leben von der Hand in den Mund
    Haitis Behörden können noch nicht bilanzieren, wie viele Menschen gestorben, wie viele verletzt oder verschollen sind. Auch die Zerstörungen lassen sich nicht beziffern. Hilfsorganisationen, die seit dem verheerenden Erdbeben von 2010 zahlreich in Haiti vertreten sind, steuern Informationen bei. Eine berichtet von neuen Cholera-Fällen, eine andere von komplett vernichteter Ernte. Das ist für die Landbevölkerung besonders dramatisch, weil sie von der Hand in den Mund lebt. Die Hilfsorganisationen haben oft Mitarbeiter vor Ort, so wie "Care", die im Westen des Landes arbeitet. In der Stadt Jérémie seien durch den Sturm 80 Prozent der Häuser zerstört oder beschädigt worden, sagte Care-Mitarbeiterin Holly Frew.
    "Die Frage ist, wie Haiti angesichts der extremen Armut den Wiederaufbau schaffen soll. Wir werden den Leuten in den Dörfern dabei helfen und zwar so, dass die Behausungen sicherer werden."
    Das wäre im ganzen Land nötig. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind direkt an der Küste 90 Prozent der Häuser zerstört. Wieder werden Zelte gebraucht, wie auch nach dem verheerenden Erdbeben von 2010, das Millionen Menschen obdachlos machte. Das bittere: Noch immer leben etwa 60.000 in den Notunterkünften von damals. Haiti ist ein Land der permanenten Katastrophe, dazu: politisch chaotisch. Die internationalen Geldgeber arbeiten mit einer Regierung, die nicht gewählt wurde, sondern sich seit Februar mithilfe diverser Winkelzüge an eine Macht klammert, die ihr nur provisorisch verliehen worden war. Sofort nach dem Hurrikan sagte sie die bereits mehrfach verschobene Wahl am Sonntag ab.
    Zögernde Regierung
    Erst an Tag drei nach Matthew gab Übergangspräsident Jocelerme Privert eine Pressekonferenz:
    "Alle sind sehr solidarisch. Unsere Regierung erfasst noch, was gebraucht wird. Die Europäische Union, der US-Botschafter, die Präsidenten von Panama und der Dominikanischen Republik: fast alle Länder alle helfen uns, durch diese schwierige Situation zu kommen. Wir brauchen dringend Hubschrauber, und Partner haben uns bereits welche zur Verfügung gestellt. Hilfe wurde uns versprochen und die Unterstützung, die wir dringend brauchen, ist angelaufen."
    Die Haitianer hatten wenig – jetzt haben viele Nichts mehr. Wie nach der letzten Katastrophe. Und wahrscheinlich auch nach der nächsten - trotz aller internationaler Hilfe. Einen nachhaltigen Aufbau, der Naturkatastrophen standhalten könnte, der das Land voran bringt, hat es in Haiti nie gegeben.