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Haiti nach Hurrikan Irma
"Mit einem blauen Auge davongekommen"

Haiti habe großes Glück gehabt, dass der Hurrikan Irma das Land kaum erwischt habe, sagte Sonja Schilling vom Hilfswerk Österreich im Dlf. Viele Teile der Insel seien noch vom letzten Sturm 2016 zerstört. Und obwohl Haiti aus den Erfahrungen gelernt habe, gebe es noch immer nicht genügend Notunterkünfte.

Sonja Schilling im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Eine Frau steht in Malfeti im Nordosten haitis knietief im Wasser vor ihrer überschwemmten Hütte.
    Viele Menschen leben seit dem letzten großen Hurrikan Matthew 2016 nur in behelfsmäßigen Hütten und waren in Vorbereitung auf den Hurrikan Irma auf Notunterkünfte angewiesen (AFP / HECTOR RETAMAL)
    Martin Zagatta: Der Hurrikan Irma sorgt für Tote und Verwüstungen in der Karibik und rast jetzt mit nahezu unveränderter Stärke auf Florida zu. Nachdem einige kleinere Inseln fast vollständig zerstört worden sind, sind zumindest Haiti und Kuba jetzt offenbar noch einigermaßen glimpflich davongekommen und wurden nur gestreift. Auf Haiti sind wir jetzt mit Sonja Schilling verbunden, die für das Hilfswerk Österreich dort arbeitet. Guten Tag, Frau Schilling!
    Sonja Schilling: Schönen guten Tag, guten Morgen!
    Zagatta: Wie groß ist denn da jetzt die Erleichterung auf Haiti, und was haben Sie überhaupt mitbekommen von dem Wirbelsturm?
    Schilling: Die Erleichterung ist natürlich riesig. Wir haben uns sehr, sehr große Sorgen gemacht, vor allem, nachdem der Hurrikan, der letztes Jahr, im Oktober 2016, den Süden der Insel erwischt hat und sehr, sehr große Zerstörungen angerichtet hat - es waren 1,4 Millionen Menschen damals betroffen, 90 Prozent der Häuser zerstört -, das heißt, die Lage war jetzt sehr, sehr angespannt.
    Der Hurrikan hatte noch vor zwei Tagen direkten Kurs auf die Nordküste von Haiti, das heißt, es hat vor Ort wirklich jeder versucht, sich so gut wie möglich vorzubereiten, und wir sind sehr aktiv auch im Norden tätig und haben wirklich auch versucht, alles zu evakuieren, Notunterkünfte zu schaffen, die Leute zu informieren, zu sensibilisieren, ihre Häuser zu verlassen und in diese Notunterkünfte zu gehen, und dann eben auch diese Notunterkünfte selbst zu informieren, was vor Ort da sein muss für die Bevölkerung, wenn sie kommt, dass genügend Trinkwasser vorhanden ist, dass genügend Essen vorhanden ist und dass auch eine bestimmte Gesundheitsversorgung da ist, vor allem in Bezug auf Cholera, vor allem in Bezug auf Hygiene. Das heißt, natürlich hatten wir jetzt sehr großes Glück, dass der Hurrikan weiter in den Norden abgezogen ist und die Insel kaum erwischt wurde.
    Große Zerstörung nach Hurrikan Matthew
    Zagatta: Sie haben es angesprochen, erst im vergangenen Jahr hat es ja diesen schweren Hurrikan über Haiti gegeben, mehr als 500 Menschen sind damals ums Leben gekommen, es hat 2010 dieses schwere Erdbeben gegeben auf Haiti. Wie weit ist denn der Wiederaufbau, die Insel war ja ziemlich zerstört, wie weit ist denn der Wiederaufbau da überhaupt gediehen?
    Schilling: Der Wiederaufbau seit dem Erdbeben ist … Ich kenne die Insel schon seit vor 2010, das heißt, ich war vor dem Erdbeben schon hier, und der Wiederaufbau nach dem Erdbeben ist quasi abgeschlossen. Es ist von der Entwicklung her sehr viel weiter als vorher. Allerdings muss man dazusagen, dass der Hurrikan letzten Jahres, Matthew, meiner Meinung nach sehr viel größere Zerstörungen angerichtet hat, jetzt nichts, was Menschenleben angeht, da sind natürlich beim Erdbeben sehr viel mehr ums Leben gekommen, aber was die ganze Produktion des Landes angeht. Der Süden hat Lebensmittel geliefert für das ganze Land, und das war so die Speisekammer Haitis, und das wurde komplett von dem Hurrikan zerstört.
    Das heißt, was jetzt an Lebensunterhalt und auch an Zukunftsperspektiven für die Menschen verloren gegangen ist, ist sehr viel größer bei dem Hurrikan, und da fehlt es natürlich immer noch sehr, sehr stark. Die Häuser sind immer noch zerstört, die Pflanzen sind noch nicht so weit nachgewachsen, dass wirklich angebaut werden kann. Das Land selbst ist sehr, sehr stark abhängig von Importen, von Reisimporten, von Lebensmittelimporten, und das hat sich natürlich alles sehr, sehr verstärkt.
    "Zivilgesellschaft sehr viel besser informiert"
    Zagatta: Wenn die Menschen da in so ärmlichen Verhältnissen leben, wie Sie uns das gerade schildern, hätten da die Notunterkünfte, die Sie da mit eingerichtet haben und wahrscheinlich staatliche Stellen auch, hätten die denn irgendwie tatsächlich Schutz geboten, oder wären die meisten diesem Hurrikan, hätte er Haiti voll getroffen, da ziemlich hilflos ausgeliefert gewesen?
    Schilling: Wir haben das letztes Jahr gemerkt, die Notunterkünfte waren leider nicht so ausgestattet, wie sie hätten ausgestattet sein sollen. Das Problem war auch, dass viele Leute natürlich ihre Häuser nicht verlassen wollten. Das heißt, sie haben ohnehin nicht viel, und sie möchten ihr Hab und Gut nicht zurücklassen und sind dann wirklich bis zum letzten Schluss in ihren Häusern geblieben und sind dann nachts in Starkregen und Überflutungen aufgebrochen zu den Hilfsunterkünften, die zu dem Zeitpunkt, als die Menschen ankamen, verschlossen waren. Das heißt, wir hatten wirklich das Problem im letzten Jahr, dass wir sehr, sehr, sehr schlecht vorbereitet waren auf die Leute, die gekommen sind.
    Das war dieses Jahr ein wenig besser. Es gab vorher schon eine Liste an Notunterkünften, wir haben einige von diesen besucht. Einige waren nicht wirklich geeignet und auch zu nah am Wasser, auch nicht wirklich solchen Winden standhaft, aber es war zumindest schon so, dass die Zivilgesellschaft sehr viel besser informiert war, die Koordination zwischen der internationalen Gemeinschaft und auch den Behörden war sehr viel besser. Das heißt, diesmal haben wir es wirklich auch gesehen, dass Leute vor Ort - die Polizei, der Bürgermeister - zu den Menschen direkt am Meer gegangen sind, weil es ging gar nicht so sehr um die Winde, es ging auch sehr viel um Flutwellen und Überschwemmungen. Das heißt, dass sich wirklich der Meereslevel hebt und die Dörfer direkt am Meer überschwemmt werden. Und da haben wir schon gesehen, dass es sehr viel besser gehandhabt wurde dieses Jahr.
    Das heißt, um Ihre Frage zu beantworten: Nein, es gab nicht genügend Unterkünfte, nein, sie waren nicht perfekt ausgestattet, nein, sie hätten auch nicht der ganzen Bevölkerung, die es gebraucht hätte, dienen können, aber wir haben sehr viel gelernt von den letzten Jahren.
    "Mit einem blauen Auge davongekommen"
    Zagatta: Jetzt ist ja dieser Hurrikan zum Glück vorbeigezogen an Haiti, mittlerweile baut sich aber der nächste in der Karibik auf namens Jose. Weiß man denn, ob der auch Haiti jetzt wieder bedroht, oder haben Sie das Schlimmste überstanden?
    Schilling: Ich glaube, wir haben das Schlimmste überstanden. Wir sind wirklich mit einem blauen Auge davongekommen, und Jose, es schaut so aus, als würde er wirklich nordöstlich vorbeiziehen. Wir gehen auch nicht davon aus, dass der die Richtung ändert. Das heißt, ich glaube, zumindest von den Hurrikans, die wir jetzt gerade im Blickfeld haben, ist Haiti verschont geblieben, und ich hoffe, dass das auch dieses Jahr und auch in den nächsten Jahren der Fall sein wird.
    Zagatta: Sonja Schilling arbeitet für das Hilfswerk Österreich, und wir haben sie auf Haiti erreicht. Frau Schilling, danke für dieses Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.