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Haiti: Sehr viele Köche machen den Brei nicht unbedingt besser

Die mangelnde Koordinierung von Aktionen ist nach Ansicht von Frank Dörner, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Deutschland, der Grund, warum ein Jahr nach dem Erdbeben auf Haiti die Situation noch immer katastrophal ist. Es zeige sich, dass die Arbeit der Vereinten Nationen vor Ort ineffektiv sei.

Frank Dörner im Gespräch mit Gerwald Herter |
    Gerwald Herter: Selbst in der Hauptstadt Haitis, in Port-au-Prince, liegen immer noch überall Trümmer herum. Ein Jahr nach dem Erdbeben sind im Armenhaus Lateinamerikas noch mindestens 1,2 Millionen Menschen obdachlos. Eine Cholera-Epidemie wurde zur Katastrophe nach der Katastrophe. 3.600 Menschen sind an der Infektionskrankheit in Haiti gestorben, bisher, muss man leider sagen.

    Am Telefon ist nun Dr. Frank Dörner. Er ist Geschäftsführer der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in Deutschland. Dr. Dörner hat unter anderem im Sudan, in Myanmar und in Guatemala gearbeitet. Er kennt die Situation in Haiti genau. Guten Morgen, Herr Dr. Dörner.

    Frank Dörner: Guten Morgen, Herr Herter.

    Herter: 104 Millionen Euro hat Ärzte ohne Grenzen im vergangenen Jahr in Haiti ausgegeben. Dieses Jahr sollen es gut 40 Millionen Euro sein. Sehr, sehr viel Geld und trotzdem ein Elend, das kaum in Worte zu fassen ist. Ist das System internationaler Hilfe, Herr Dörner, da nicht längst an seine Grenzen geraten?

    Dörner: Ich denke, das System an sich ist zumindest sehr schwierig im Moment umzusetzen, denn ein System in diesem Sinne existiert ja eigentlich gar nicht. Was man gesehen hat, oder was neu an dieser Art von Katastrophe war: Es hat einen Ballungsraum, es hat eine Hauptstadt getroffen. Die Zerstörung war sicher enorm. Man muss sich vorstellen und ich versuche, mir das selber einmal wirklich bildlich vorzustellen: Was würde passieren, wenn solch ein Erdbeben überhaupt eine Stadt wie zum Beispiel Berlin treffen würde, wo die Infrastruktur innerhalb von Sekunden zerstört wäre, wo Hunderttausende von Menschen tot sind, aber dann auch viele, viele Verletzte sofort da sind, und selbst mit unseren Mitteln wäre es sehr schwierig, natürlich sehr schnell auch reaktiv zu sein, und selbst wenn die Hilfe kommen würde, wäre das Maß der Zerstörung und das Maß der Not, glaube ich, kaum vorzustellen. Insofern, glaube ich, ist tatsächlich auch, anders zum Beispiel als während der Tsunami-Katastrophe, eine Situation entstanden, die auch im medizinischen Bereich die Organisation vor eine kaum lösbare Aufgabe gestellt hat.

    Herter: Das gilt im ersten Moment?

    Dörner: Das gilt im ersten Moment.

    Herter: Da ist alles chaotisch, das ist klar. Aber inzwischen ist ein Jahr vergangen. Mangelt es an Koordinierung? Wir haben es gerade im Beitrag gehört.

    Dörner: Es mangelt sicher an Koordinierung. Es mangelt an Koordinierung vor allen Dingen von Aktionen. Was viel passiert ist – und das ist auch in unserem Jahresbericht, den wir ja herausgegeben haben, auch ziemlich deutlich geäußert -, wir sehen halt, dass koordiniert wird, Pläne werden koordiniert, aber Aktion wird wenig direkt koordiniert, und das ist natürlich auch sehr schwierig, wenn man sich auf der anderen Seite vorstellt, dass natürlich viele, viele Akteure dort sind, die zum Teil auch durchaus nicht die Erfahrung haben, in solch einer Situation wirklich aktiv und effektiv arbeiten zu können. Wir haben das jetzt gerade gesehen zum Beispiel noch mal in der Cholera-Situation, die natürlich auch, wo man gehofft hatte eigentlich, gerade vom Medizinischen her ist die Cholera relativ einfach zu behandeln, dass natürlich die Epidemie nicht so massiv ausbrechen würde, wie es jetzt gekommen ist, und wir haben eine Situation, die sicher auch durch die mangelnde Reaktivität, durch das sehr langsame Anlaufen der Hilfe und durch die noch mal wieder schlechte Koordination letztendlich der verschiedenen Akteure vor Ort zu einer Situation geführt hat, wie wir sie auch noch nicht erlebt haben. Über 150.000 Menschen, über 170.000 Menschen mittlerweile sind infiziert, 3600 nach offiziellen Statistiken schon gestorben und die Situation ist noch nicht unter Kontrolle.

    Herter: Die Cholera ist im letzten Herbst ausgebrochen. Da waren schon Hunderte, wenn nicht Tausende von Hilfsorganisationen vor Ort. Und trotzdem sind so viele Menschen gestorben, mehr als 3600. Das zeigt doch, hier besteht dringender Bedarf. Wie koordinieren Sie Ihre Hilfsarbeit? Wie stimmen Sie die ab mit anderen Hilfsorganisationen?

    Dörner: Ja. Hier wird natürlich sicher auch ein Teil des Problems sichtbar. Wir sind eine sehr große Hilfsorganisation, die natürlich sehr darauf orientiert ist, Aktivität zu koordinieren. Das heißt, auch unter den verschiedenen Sektionen, den verschiedenen Ländern und auch in unserem eigenen Netzwerk besteht der Bedarf, uns selber zu koordinieren in erster Linie, um sicherzustellen, dass wir auch wirklich effektiv dort arbeiten können, wo es am nötigsten ist. Wir sind natürlich auch daran interessiert, jetzt nicht eine Duplikation von Aktivitäten mit den anderen Akteuren vor Ort zu machen, sondern möglichst effektiv auch dort helfen zu können.

    Nur sehen wir wie gesagt, dass häufig sehr viele Köche nicht unbedingt den Brei besser machen. Soll heißen letztlich, dass die Vereinten Nationen, die die Verantwortung übernommen haben, vor Ort solche Katastrophen zu koordinieren – in sogenannten UN-Clustern werden die verschiedenen Akteure dann in ihre jeweiligen Wirkungsbereiche eingeteilt und dort wird dann versucht, die Informationen zusammenzubringen und wirklich zu sagen, wer wo was zu tun hat. Was wir aber sehen ist letztendlich, dass viel, sagen wir, heiße Luft produziert wird, viele Pläne gemacht werden, die dann aber faktisch nicht umgesetzt werden.

    Herter: Also das funktioniert nicht. Sind die Vereinten Nationen die falsche Organisation?

    Dörner: Sagen wir, es ist ineffektiv, kann man ganz deutlich sagen. Im Bereich der Cholera-Intervention hat es sich noch einmal gezeigt: zu viele Akteure, zu wenig effektive Umsetzung von Plänen. Vor allen Dingen im Bereich von Sanitation ist nicht viel erreicht worden, das muss man so deutlich leider sagen, und das hat sicher dazu geführt, dass diese Cholera-Epidemie so massiv auch werden konnte, wie sie jetzt geworden ist.

    Herter: Also im Bereich Hygiene, Toiletten und so weiter?

    Dörner: Im Bereich Wasserversorgung ganz als allererstes, denn man braucht sauberes Wasser, um die Cholera zu unterbinden, um die weitere Infektion von neuen Menschen in so einer Situation letztendlich zu verhindern. Und Sanitation im Sinne von Wasserentsorgung dann natürlich auch, Brauchwasser, Fäkalien müssen entsorgt werden etc. Ein Jahr nach dieser Katastrophe, nach dem Erdbeben, muss man sagen, dass da sehr viele Defizite auch noch sind.

    Herter: 6:56 Uhr, Sie hören den Deutschlandfunk, die "Informationen am Morgen". Heute vor einem Jahr bebte in Haiti die Erde. Dazu bei uns im Interview Dr. Frank Dörner von Ärzte ohne Grenzen Deutschland. – Herr Dörner, welchen Teil Ihres Budgets stecken Sie in Koordinierung, also in Bürokratie?

    Dörner: Erst mal ist es so, dass wir in unserem Budget zum Beispiel als Ärzte ohne Grenzen in Deutschland etwa vier Prozent als administrative Kosten haben. Das heißt, das sind die Kosten, die wir haben, um letztendlich unsere Aktivitäten von hier aus, von Deutschland aus zu organisieren. Natürlich müssen wir auch sagen, dass Koordinationskosten vor Ort anfallen. Das ist völlig klar. Ein genaues Detail kann ich Ihnen jetzt für Haiti im Moment noch gar nicht sagen, denn natürlich ist es so, dass wir noch dabei sind, sämtliche Kosten zu evaluieren. Das Jahr ist ja jetzt gerade erst zu Ende gegangen. Wir versuchen, das allerdings so gering wie möglich zu halten. Das muss man ganz klar sagen. Ich bin sicher, dass das den anderen Organisationen natürlich auch so geht. Allerdings muss man auch da sagen, dass es natürlich viel mit den Erfahrungen der verschiedenen Organisationen zusammenhängt, wie viel letztendlich in diese Koordinationskosten auch intern geht.

    Herter: Herr Dr. Dörner, letzte Frage mit der Bitte um eine ganz kurze Antwort. Wie viele Jahre werden wir warten müssen, bis Haiti wenigstens wieder auf dem Stand vor dem Erdbeben ist?

    Dörner: Das wäre schön, wenn Ihnen das jemand sagen könnte. Ich hoffe, dass es vor allen Dingen ein Stand wird, der wesentlich besser wird als vor dem Erdbeben, denn das viele Geld sollte eigentlich in der Lage sein, auch zum Beispiel im medizinischen Bereich ein System aufzubauen, was besser ist als es vorher war, was mehr Zugang für die Bevölkerung zu qualitativ hochwertiger medizinischer Versorgung ermöglicht. Das hängt sicher von den politischen Rahmenbedingungen auch ab. Wir sind da sehr skeptisch, dass das in kurzer Zeit umsetzbar ist.

    Herter: Das war Dr. Frank Dörner, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Deutschland, über die Lage in Haiti. Herr Dörner, danke für dieses Gespräch.

    Dörner: Ich danke Ihnen.
    Eine an Cholera erkrankte Frau in Port-au-Prince
    Eine an Cholera erkrankte Frau in Port-au-Prince (AP)
    Blick auf eine zerstörte Kathedrale in Port-au-Prince, Haiti.
    Blick auf eine zerstörte Kathedrale in Port-au-Prince, Haiti. (AP)