Marie starrt geradeaus wie jemand, der nichts mehr sehen will. Sie sitzt auf dem zentralen Markt in Port-au-Prince in einem kleinen Verkaufszelt auf einem schrägen Holzstuhl. Hinter ihr hängen üppige rote, braune und pinkfarbene Haarteile, Haarbänder und Perlen.
"Vor vier Jahren, vor dem Erdbeben, ging es uns besser als heute. Ich kann nichts mehr verkaufen, weil alles so teuer geworden ist. Jeden Tag komme ich hier her, weil ich nichts anderes habe, was ich tun könnte."
Kaum einer auf diesem zentralen Markt hier verkauft noch genug, um davon gut leben zu können. Trotzdem sitzen sie alle hier in ihren kleinen Ständen und warten. Touristen kommen seit dem Erdbeben nur noch selten hier vorbei. Die Wirtschaftliche Lage hat sich kaum verbessert, noch immer muss die Hälfte der Bevölkerung mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen. Hinter den Verkaufsständen stehen weiße, wiederaufgebaute Häuser, direkt daneben Häuser, deren Balkone oder Treppen heruntergerissen wurden von der Wucht des Bebens, durch manch eine Wand ziehen sich riesige Risse. Ruinen sieht man nur noch selten im Stadtzentrum, das vor vier Jahren fast komplett zerstört wurde durch das Erdbeben. Auch die großen Obdachlosen-Lager in Port-au-Prince sind verschwunden. Doch überall sieht man kleinere inoffizielle Zeltstädte.
Einige Kilometer entfernt vom zentralen Markt, liegt das Obdachlosenlager Carradeux. Camps wie dieses sollte es gar nicht mehr geben. Deshalb werden sie einfach nicht mehr mitgezählt. Offiziell leben laut der UN noch geschätzte 170 000 Menschen in Camps. Direkt nach dem Erdbeben waren es eineinhalb Millionen. In Carradeux treffen sich heute die Bewohner zu einer Dorfversammlung. Das Lied passt perfekt. "Wie wollen wir uns selbst organisieren?", fragen sich die gut 300 Menschen, die heute zur Versammlung gekommen sind. Auf der überdachten Holzbühne wuseln Offizielle in hellblauen Uniformen herum. Sie verteilen Frauenkondome an die Bewohner des Camps. So sollen sich die Frauen bei Vergewaltigungen immerhin irgendwie schützen können. Die Dorfoffiziellen wollen die Menschen sensibilisieren, ihnen erklären, was sexuelle und psychische Gewalt anrichtet. Seitdem es Aufklärungsveranstaltungen wie diese hier gibt, ist das Camp sicherer geworden, berichtet der Bürgermeister Leroy Wood Joseph.
Häuser ohne Strom und Wasser
Nach der Veranstaltung läuft den Geröllweg bergab durchs Camp, wohin man guckt, Zelte. Keiner weiß genau wie viele Menschen hier leben, 10.000 Familien schätzt Joseph. Für ein Camp ist es hier erstaunlich ordentlich. Es gibt Latrinen und Kinder tragen Müll zu zentralen Sammelpunkten, in der Luft liegt ein Hauch frischer Seife gemischt mit Kohlen. Joseph zeigt auf die Holzhäuser auf der linken Seite des Geröllwegs.
"Nach dem Erdbeben 2010 hat uns die haitianische Regierung Zelte gegeben. Gut ein Jahr später hat dann die amerikanische Caritas "Catholic Relief Services" hier diese Holzhäuser gebaut für mehr als 800 Familien."
Diese Häuser haben weder Strom noch Wasser, aber sie sind stabiler als Zelte. Seit vier Jahren leben sie hier in diesem Obdachlosen-Camp, das immer nur vorläufig sein sollte. Statt Camp nennen die Erdbebenopfer es nur noch ihr "Dorf". Wieso beides zutrifft, versteht man am besten, wenn man in der Mitte steht - auf dem steinigen Weg, der bergab vom Hang mitten durchs Dorf geht. Guckt man nach links: neue stabile Holzhütten, die signalisieren: Wir bleiben. Rechts: Wellblech und graue US-AID-Planen auf Zelten. Die signalisieren: Das hier sollte eigentlich schon längst weg sein.
Die meisten Hilfsorganisationen, die nach dem Erdbeben gekommen sind, sind vor zwei Jahren abgezogen. Die internationale Gemeinschaft hatte den Haitianern Spendengelder von umgerechnet mehr als vier Milliarden Euro versprochen, um beim Wiederaufbau zu helfen: Doch nur weniger als die Hälfte davon wurden tatsächlich ausgezahlt. Vor allem die USA haben einen Großteil der versprochenen Gelder nie überwiesen. Das Zeltdorf Carradeux hat früher von den Spendengeldern profitiert. Heute verwalten sie sich weitgehend selbst, sagt der Bürgermeister.
Unterricht im Schulbus
"Weder der haitianische Staat noch die Hilfsorganisationen unterstützen uns zurzeit. Die UN hat uns zwei Projekte zugesagt. Wir wollten Elektrizität und eine Schule für unsere Kinder, die nicht zur Schule gehen. Eine eigene Schule ist nicht möglich, haben sie uns gesagt."
Eine Schule haben sie trotzdem. Genauer gesagt Schulbusse - im wahrsten Sinne des Wortes. Drei dunkelgrüne Busse haben sie von der ehemaligen First Lady geschenkt bekommen. Viel zu viele Kinder sitzen darin zusammengepfercht auf dem Boden. Die Schulleiterin Mabell Williams unterrichtet sie.
"Unser großes Problem ist, dass die Lehrer hier nicht bezahlt werden, das ist sehr hart für uns. Die Regierung und die NGOs wollen uns für diese Schule einfach kein Geld geben, aber wir wollen nicht, dass die Kinder nicht zur Schule gehen."
Deshalb unterrichten neun Lehrer die Schüler ehrenamtlich. Geld für Materialien oder Tische haben sie nicht. Warum sie keine Unterstützung bekommen, weiß sie nicht. Ein Grund könnte sein, dass es das Dorf schon lange nicht mehr geben sollte. Den Erdbebenopfern, die inzwischen an anderen Orten angesiedelt wurden, gehe es kaum besser, auch deshalb wollten sie hierbleiben, erklärt Mabell Williams. Doch die Lehrerin will - wie die meisten hier - nicht mehr weg:
"Wir lieben dieses Dorf. Wir haben hier einiges verändert und viele Opfer dafür gebracht, dass es jetzt immer schöner hier wird. Deshalb wollen wir bleiben."
In großen Behältern mischen junge Haitianer den Schutt zu neuem Beton an. Damit bauen sie dann neue Häuser und Straßen. Venise Charles- Deleuze trägt eine frische Betonplatte zum Trocknen in die Sonne. Als eine von 400 jungen Menschen wird sie im Wiederaufbauprojekt der Internationalen Arbeitsorganisation zu Kleinunternehmern ausgebildet. Venise zeigt auf eine Häusersiedlung auf einem Hang, die sie mitaufgebaut hat.
"Die Straßen hier waren nicht geteert und gefährlich, dort konnte man nicht langgehen. Aber nachdem wir das aufgebaut haben, konnten Leute dort Verkaufsstände eröffnen und wieder in Häusern leben. Projekte wie dieses verbessern unser Leben hier sehr."
Venise schleppt einen weiteren Betonklotz über den Platz. Sie weiß: Es geht voran. Aber viel langsamer, als alle gehofft haben.