"Wenn man 7:1 gewinnt, hat man alles richtig gemacht", sagte der ehemalige Fußball-Nationalspieler und Weltmeister von 1990, Olaf Thon. Bundestrainer Joachim Löw hätte im Laufe des Turniers sehr viel richtig gemacht und werde jetzt dafür belohnt, sagte Thon im Deutschlandfunk. Die brasilianische Abwehr dagegen sei zu offen gewesen, kritisierte er. Für das WM-Finale hoffe er auf ein Nachbarschaftsduell mit der holländischen Mannschaft.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Deutschland gegen Brasilien, das gilt als Klassiker in der Fußballwelt, und dann auch noch im Gastland Brasilien, und es war mehr als ein Klassiker gestern Abend. Der sensationelle 7:1-Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen die brasilianische wird in die Fußballgeschichte eingehen, vielleicht sogar als Jahrhundertsieg, wie manche Beobachter heute Morgen meinen.
Am Telefon ist Olaf Thon, ehemals Fußballspieler und Trainer. 1990, als Deutschland Weltmeister wurde, spielte er in der deutschen Nationalmannschaft. Guten Morgen, Herr Thon!
Olaf Thon: Guten Morgen!
Kaess: Herr Thon, kann man überhaupt besser spielen als die deutsche Nationalmannschaft gestern Abend?
Thon: Ja, das ist eine Frage. Drei Minuten habe ich gedacht, die Brasilianer könnten ein gleichwertiger Gegner sein, und dann haben wir sie richtig zerlegt. Und ich muss wirklich sagen, das ist höchst wahrscheinlich ein Jahrhunderterlebnis, was wir alle erlebt haben, was wir erleben durften. Ich bin auch überrascht im positiven Sinn und kann nur sagen, ich muss das alles erst mal Revue passieren lassen. Ich kann es noch gar nicht glauben, 7:0 geführt zu haben. Dann haben wir sozusagen den Brasilianern noch ein Tor geschenkt. Es hätte durchaus noch höher ausfallen können und Jogi Löw hat ja später gesagt, wir wollten sie kommen lassen, dann mit Kontern schnell sie verwirren, weil sie in der Abwehr nicht so geordnet waren. Also es war ein phänomenales Spiel.
Kaess: Es war perfekt, die deutschen Spieler haben alles richtig gemacht?
Thon: Ja. Wenn man 7:1 gewinnt, hat man alles richtig gemacht. Wenn man das Spiel aber auch gesehen hat, die Körpersprache jedes einzelnen Spielers, angefangen von Manuel Neuer bis zu Thomas Müller, das war phänomenal, auch das Trainerteam alles ringsherum. Es greift ein Rädchen ins andere und ich bin überzeugt davon: Aufgrund dieser Leistung sind wir haushoher Favorit. In meinen Augen höchst wahrscheinlich wird heute die Niederlande weiterkommen, und dann haben wir richtig ein Nachbarschaftsduell. Das würde mich sehr freuen.
Kaess: Herr Thon, Sie haben diese Situationen ja erlebt. Wie fühlt man sich als Spieler?
Thon: Ja. 1990 war es was anderes. Da waren wir zwar auch leichter Favorit gegen die Argentinier im Endspiel. Im Halbfinale, wo ich auch spielen durfte, gegen England auch einen Elfmeter geschossen. Das waren alles ganz, ganz knappe Spiele. Aber dieses 7:1, das stellt alles in den Schatten und alles ist Makulatur. wir wissen gar nicht genau, wie man damit umgehen soll. Ich jetzt, der drei Stunden geschlafen hat, bin auch noch ein bisschen nicht sprachlos, aber immer noch im Freudentaumel und muss sagen, ob es jetzt Klose, Schweinsteiger, Khedira ist, man kann sie alle aufzählen: die funktionieren einfach. Von der Viererkette Philipp Lahm zurückgenommen. Der Bundestrainer hat auch sehr viel richtig gemacht im Laufe des Turniers, wo er seine Mannschaft auch verändert hat. Lahm, sozusagen ein Opfer-Lahm, hat sich geopfert für das Team und ist hinten reingegangen und hat Platz frei gemacht für Schweinsteiger im Mittelfeld. Auch Klose wieder vorne im Sturm zu bringen, an Özil festzuhalten, das waren alles so Dinge, wo der Bundestrainer Joachim Löw Kante gezeigt hat, und er wird jetzt damit belohnt.
Kaess: Wie entscheidend ist die Stimmung im Stadion? Die war ja am Anfang ganz und gar gegen die Deutschen.
Thon: Ich würde mal sagen, nach diesem tollen Ergebnis eher förderlich. Sie hatten einen Plan und ich glaube, das kann ich auch sagen aus meiner Zeit, man blendet unten auf dem Spielfeld, wenn der Schiedsrichter anfängt, alles aus. Die Akustik ist sowieso eher gebaut für die Zuschauer als für die Spieler. Da herrscht eigentlich Konzentration. Man ist in einem Tunnel und hat seine Aufgabe zu bewältigen. Von daher, glaube ich mal, ist das dann, wenn das Spiel angeht, nicht so entscheidend. Das Problem ist mehr, wenn man reinfährt und mitbekommt, dass viele Fans für den Gegner sind.
"Ein Trainer ist immer nur so gut wie seine Mannschaft"
Kaess: Es heißt ja auch immer wieder, die WM wird von dem Trainer entschieden, der am besten beobachten und reagieren kann. Die Rolle von Herrn Löw haben Sie gerade schon angesprochen. Früher hieß es ja, er greift öfter mal daneben. Bei dieser WM hat er bisher anscheinend zumindest alles richtig gemacht. Sie haben volles Vertrauen in ihn für das Finale?
Thon: Ja, ich habe Vertrauen schon vor dem Beginn des Turniers gehabt. Ein Trainer ist immer nur so gut wie seine Mannschaft um ihn herum. Da zählen nicht nur die Spieler dazu, sondern ringsherum das ganze Team, und das geht bis zum Busfahrer und Zeugwart. Dass ein Trainer wie im letzten Jahr, als es gegen die Italiener mal wieder ging, mal daneben liegen kann, liegt aber nur zu 10, 15 Prozent am Trainer. Entscheidend ist die Qualität der Spieler, und das hat man im Verlaufe des Turniers gesehen, dass unsere Mannschaft, obwohl sie am Anfang nach dem Portugal-Spiel nicht mehr so gut gespielt hat, aber sich dann ins Turnier gesteigert hat, immer noch mit einer schlechten Leistung besser aussah als die anderen Mannschaften, Argentinien oder jetzt auch Brasilien. Von daher eine Konsequenz der Sache und verdient.
Kaess: Dann schauen wir mal noch auf die brasilianische Seite. Diese schlechte Voraussetzung, weil der Superstar Neymar nicht dabei war, war das der Knackpunkt, oder wo lagen die Hauptfehler?
Thon: Nein. Ich glaube, mit Neymar hätte man genauso verloren. Bernard ist eingesprungen. Das war zwar kein gleichwertiger Ersatz, aber das ist auch ein Nationalspieler. Auch hinten hat Dante gespielt für den Kapitän, der leider nicht gespielt hat. Aber das war keine Schwächung, daran hat es nicht gelegen. Die Brasilianer hatten von Anfang an Druck zu machen, um 1:0 in Führung zu gehen. Das ist dann in die Hose gegangen, weil sie zu offen waren in ihrer Abwehr, und das hat man die ganzen Spiele im Verlaufe des Turniers gesehen. Unterm Strich muss man sagen, natürlich ein sehr hoher Sieg, aber die sind noch gut dabei weggekommen, dass es nicht zweistellig wurde.
Kaess: Ist man denn als Spieler nach so schnellen Toren, wie die gestern von der deutschen Seite kamen, der anderen Seite so demoralisiert, dass man dann eigentlich innerlich schon aufgibt?
Thon: Ja, absolut. Das schnelle Gegentor – ich habe gestern auch die Interview gesehen der Brasilianer, die gesagt haben, das schnelle Gegentor hat uns demoralisiert, und das hat dazu geführt, dass sie noch weiter versuchen wollten, noch schneller das Ausgleichstor zu erzielen, und sind dann einem Tor nach dem anderen hinterhergelaufen, und dann ist man down, dann kriegt man den Kopf nicht mehr hoch und das ist wie eine Kettenreaktion.
"Gute Individualisten auf den einzelnen Positionen"
Kaess: Wie, würden Sie sagen, hat sich der Fußball in den letzten Jahren entwickelt? Ist der Druck auf die Spieler gestiegen? Kann man das sagen?
Thon: Für die, die gewinnen, ist der Druck dann nicht mehr so groß. Ich denke mal, der Fußball hat sich dahingehend verändert, dass er athletischer geworden ist, schneller geworden ist, auch geprägt von einem großen Team. Früher hatte man 11, 12, 13 Spieler, die das ganze Turnier bestritten haben. Heute hat man wirklich 20, die man braucht, oder 23. Standardsituationen sind wichtiger geworden. Dann muss ich sagen, die deutsche Mannschaft hat sich dahingehend verändert, dass man gute Individualisten auf den einzelnen Positionen hat. Wenn ich hinten nehme den besten Torhüter der Welt, wir haben in der Innenverteidigung sehr große Leute, im Mittelfeld sehr ballsichere Leute und vorne natürlich einen Thomas Müller, der alles richtig macht. Von daher: Das Spiel bleibt gleich, das Gerät, der Fußball hat sich auch verändert, er nimmt ganz andere Kurven manchmal bei Schüssen, aber er ist nicht schlechter geworden.
Kaess: Ist das im Moment der beste WM-Kader aller Zeiten, wie ja jetzt auch oft behauptet wird, auch im Hinblick auf die Geschlossenheit der Mannschaft, über die viel diskutiert worden ist?
Thon: Ich glaube, die 54er-Elf um Fritz Walter, mit Sepp Herberger, dann Franz Beckenbauer die 74er, Lothar Matthäus 90, alle hatten was Besonderes. Aber ein 7:1 gegen Brasilien, gegen den Gastgeber in dieser Art gab es noch nicht, und wenn sie den Titel holen, ist das, glaube ich, ein Markenzeichen, was über lange Jahre bestehen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Deutschland in Kürze noch mal 7:1 gegen Brasilien gewinnt. Aber es hängt am Ende davon ab, ob man auch den Titel holt.
Kaess: Herr Thon, zum Schluss noch die Frage: Die Ausschreitungen in den verschiedenen Städten in Brasilien nach dem Spiel, ist das das hässliche Gesicht der WM?
Thon: Ich habe nicht viel davon mitbekommen. Dass es Ausschreitungen vorher gab, während der WM und auch nach der WM geben wird durch die Probleme im Land, das wissen wir alle. Das konnte man nicht verhindern, hat man relativ gut in den Griff bekommen. Mehr kann ich Ihnen leider dazu auch nicht sagen, weil ich das leider jetzt gestern nicht gesehen habe. Ich habe mich mehr auf den Fußball konzentriert.
Kaess: Olaf Thon, ehemals Fußballspieler und Trainer, und er war 1990, als Deutschland Weltmeister wurde, in der deutschen Nationalmannschaft. Danke für dieses Gespräch heute Morgen.
Thon: Danke auch. Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.