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Halbzeit beim Filmfestival von Locarno
Familiengeschichten statt politisches Profil

Das Filmfestival von Locarno ist ein Karriere-Sprungbrett. Das gilt auch für den künstlerischen Direktor Carlo Chatrian, der im Frühjahr 2019 die Nachfolge von Dieter Kosslick als Leiter der Berlinale antritt. Sein letztes Locarno-Programm wird als Vorgeschmack auf Berlin gesehen.

Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Karin Fischer |
    Festivalpräsident Marco Solari bei der offiziellen Eröffnung des 71. Internationalen Filmfestivals von Locarno
    Festivalpräsident Marco Solari bei der offiziellen Eröffnung des 71. Internationalen Filmfestivals von Locarno (dpa /picture alliance / Peter Klaunzer)
    Das Filmfestival in Locarno ist diesmal von vielen Geschichten über Jugendliche geprägt. Es geht dabei ums Erwachsenwerden wie im besonders gelungenen franko-kanadischen Film "Genesis" oder um eine disfunktionale Familie wie im argentinischen "Familia Sumergida".
    Viele Filme erzählen persönliche Geschichten - das klingt wie ein Gegenentwurf zum auf politisches Profil immer sehr bedachten Berlin. Es scheint also, als würde Chatrian in seinem letzten Jahr in Locarno sehr bewusst alle Vergleiche geschickt unterlaufen.
    Kritisiert wurde im Vorfeld, dass von den 15 Wettbewerbsfilmen nur drei von einer Frau stammen. Und auch im populäreren Rahmenprogramm der Piazza Grande finden sich unter den 18 Filmen nur vier von Filmemacherinnen. Allerdings muss ein Festival aus den Angeboten wählen, die eingereicht werden. Mit reiner Statistik wird man jedenfalls so einem Programm nicht gerecht. Zudem müsste man dann auch nach Produzentinnen und Drehbuchautorinnen fragen oder nach Hauptfiguren. Sehr viele Filme in Locarno haben etwa weibliche Hauptfiguren. Frauenfeindlich ist das Festival jedenfalls nicht.
    Kino darf Phantasien nicht zensieren
    Ein wichtiger Film des Festivals ist in diesem Zusammenhang Jane Campions "In the Cut" von 2003, in dem Meg Ryan die Rolle ihres Lebens spielt. In diesem Film über eine Frau und über Verhältnisse, die sich nicht in Opfer und Täter unterteilen lassen, ist die Regisseurin allen Me-Too-Vereinfachungen weit voraus und zeigt sich als wahre Feministin. Denn Kino darf Phantasien nicht zensieren, soll Männerphantasien zeigen, sollte allerdings, wie in diesem Fall, auch Frauenphantasien allen Platz der Welt bieten.
    Auffällig ist, dass in diesem Jahr in Locarno bisher viele Filme mit schwarzen Hauptfiguren gezeigt wurden - auch vor großem Publikum auf der Piazza. Diversität ist nicht nur eine Frage der Geschlechter, sondern auch der Kulturen und der Hautfarben, also ein Hinterfragen und Relativieren der "Whiteness".
    Digitale Bilder wirken kälter
    Locarno zeigt auch außerhalb der Retrospektiven viele alte Filme. Man macht das, weil diese alten Stoffe - wie Shakespeare für das Theater - universal sind. Sie haben jeder Generation etwas zu sagen. Zum Beispiel ist Jane Campions Film extrem aktuell.
    Das Material erinnert uns daran, was wir mit dem analogen Film verloren haben, und worum Filmemacher wie Quentin Tarantino oder Christopher Nolan kämpfen: Digitale Bilder sind nicht besser, sondern anders, und alles andere als perfekt. Sie wirken klinischer und kälter. Analoger Film dagegen lebt.