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Halle an der Saale
Weltrekord bei den Händelfestspielen

Alljährlich richtet die Geburtsstadt von Georg Friedrich Händel dem Komponisten zu Ehren Festspiele aus. Mit 100 Veranstaltungen an 17 Spielorten ist es das größte Klassikfestival in Sachsen-Anhalt. In diesem Jahr wurde die 42. Oper gespielt - damit konnten seit Beginn der Festspiele 1922 alle Opern Händels in Halle gehört werden.

Von Claus Fischer |
    Die Statue des Komponisten Georg Friedrich Händel in Halle an der Saale.
    Die Statue des Komponisten Georg Friedrich Händel in Halle an der Saale. (imago/Steffen Stellhorn)
    "Als Georg Friedrich Händel aus Halle aufbrach, um zunächst in Hamburg, dann in Italien und Hannover und schließlich in England zu leben, da war er ein Fremder", sagt der Intendant der Händelfestspiele halle Clemens Birnbaum. Händel hat sich also mehrmals in seinem Musikerleben fremde Welten zu Eigen gemacht - und damit seine ganz individuelle Tonsprache ausgebildet.
    "Die französische Ouvertüre, die italienische Oper, die protestantisch-mitteldeutsche Musiktradition oder die Anthems in England. All das findet man in Händels Musik wieder."
    Darüber kann man sich während der Händelfestspiele im Geburtshaus des Komponisten informieren, in der Sonderausstellung mit dem Titel "So fremd, so nah". Blickfang ist ein breites, ausgedehntes Wandbild: Vor den Besuchern tut das historische Panorama der Stadt London auf. Vorne, prägend im Bild, zeigt Kuratorin Konstanze Musketa die London Bridge.
    "Wenn man von außerhalb nach London kam, auf dem Wasserweg, dann landeten die fremden Schiffe erstmal an dieser Brücke, das ist also das Bild, das auch Händel kennengelernt hat."
    Originale Partituren einiger Opern
    In London schrieb Händel die meisten seiner ernsten Opern. Fast jedes dieser Musikdramen spielt in einer fernen, für damalige Verhältnisse exotischen Region. Auf einer riesigen Weltkarte kann man diese Regionen sehen, die Spannweite reicht von Schottland über die arabische Halbinsel bis nach Indien.
    In der abgedunkelten und klimatisierten Schatzkammer zeigt Kuratorin Konstanze Musketa Preziosen aus der Sammlung des Händelhauses, originale Partituren einiger Opern, alle zu Händels Lebzeiten gedruckt.
    "Erstausgaben von Poros, Tamerlano, der ja aus Mittelasien stammt, Samarkand war ja die Hauptstadt seines Reiches, Berenice, der ägyptischen Königin - exotische Themen, die Händel also verarbeitet hat."
    Händels Oper "Berenice, Regina d´Egitto"
    Mit Händels Oper "Berenice, Regina d´Egitto" in einer Produktion des Opernhauses Halle wurde das Festival eröffnet. Regisseur Jochen Biganzoli verlegt die Handlung vom antiken ägyptischen Hof unter römischer Verwaltung in die Jetset-Welt der Schönen und Reichen von heute, die allerdings Kostüme der Händelzeit tragen. Da das Libretto selbst für Händels Verhältnisse extrem verworren ist, erzählt Biganzoli nicht die Geschichte, sondern zeigt die Intrigen und Machtspiele der Protagonisten als Ausdruck ihrer Selbstdarstellung. "Posing" ist angesagt, vor einer Webcam und im digitalen Netz. "Ich twittere und facebooke also bin ich".
    Über der Szenerie flimmern die Bilder und Tweets permanent von links nach rechts - als Ausdruck einer genervten Gesellschaft. Das Ganze verfehlte seine beabsichtigte Wirkung nicht, denn einige Zuschauer artikulierten in der Pause deutlich, dass sie davon genervt waren. Dennoch fanden die meisten das Regiekonzept nachvollziehbar und stimmig, das zeigte der Schlussapplaus für den Regisseur deutlich.
    Auch musikalisch war die Berenice ein Erlebnis. Das Sängerensemble der Oper Halle überzeugte geschlossen, allen voran die "hallesche Händelprimadonna" Romelia Lichtenstein in der Titelpartie, die ihr umfangreiches Pensum an Koloraturarien mit großem Stimmvolumen und dennoch angenehmer Leichtigkeit absolvierte.
    Das Händelfestspielorchester wurde von Jörg Halubek vom Cembalo aus geleitet. Er sorgte für enorme Klarheit und Farbigkeit des Klanges. Insgesamt also eine rundum gelungene Aufführung. Und eine denkwürdige dazu, betont Intendant Clemens Birnbaum.
    "Mit dieser 42. Oper, die wir hier aufführen, sind wir die ersten Händelfestspiele, bei denen man alle Händelopern tatsächlich erleben konnte."
    Weltrekord mit der 42. Händel-Oper
    Und zwar seit der ersten Ausgabe des Festivals im Jahr 1922. Dieser weltweit einmalige Rekord wurde auch auf der diesjährigen wissenschaftlichen Konferenz während der Händelfestspiele gewürdigt. Thematisch befassten sich die Händelforscher aus aller Welt mit dem "Arbeitsmigranten" Händel und seiner Situation am Anfang seiner Londoner Zeit. Dabei, so Tagungsleiter Wolfgang Hirschmann von der Universität Halle, wurde auch mit Klischees aufgeräumt.
    "Es gibt eine große Heldenerzählung von John Mainwaring, der alles so darstellt, dass sofort und umstandslos alle ihm zu Füßen gelegen sind, weil er war ja das große Musikgenie. Das kann man jetzt aus heutiger Sicht mit gutem Recht anzweifeln."
    Händel und sein Produkt, die italienische Oper seria, galten jedoch zunächst als fremd und "unbritisch".
    "Es gab damals starke Strömungen, die sich eben gegen italienische Sprache ausgesprochen haben, die sich auch gegen den Kastratengesang ausgesprochen haben, die das als Unnatürlich verurteilt haben, die auch das lange rezitativische Singen als unpassend empfunden haben."
    Doch Händel setzte sich schließlich durch. Als Deutscher machte er die englische Hauptstadt zu einem Zentrum der italienischen Oper. Dieses Beispiel, so Wolfgang Hirschmann, zeigt:
    "Dass die ganze Größe der europäischen Musik sich ohne Migrationsbewegungen überhaupt nicht erklären lässt! Dieser Austausch zwischen den Kulturen, auch außereuropäischer Kulturen, das ist die Grundlage überhaupt fürs Erblühen."
    Händels "Oreste"
    Dieses Fazit der wissenschaftlichen Konferenz ließ sich in einer weiteren spannenden Musiktheaterproduktion bei den Händelfestspielen quasi auf poetische Weise nachvollziehen, In Händels Pasticcio "Oreste", in dem der Komponist einige seiner schönsten Arien selbst zu einer neuen Oper zusammengefügt hat. Die Produktion des Theaters an der Wien war erstmals in Deutschland zu sehen. Unter Leitung von Rubén Dubrovsky konnte man im historischen Carl-Maria-von-Weber-Theater in Bernburg ein exzellentes Sängerensemble und ein wunderbar musizierendes Bach-Consort Wien erleben.
    Der Protagonist Oreste kommt aus der griechischen Demokratie in das Inselreich des Despoten Toante, wird von ihm gefangen genommen und soll hingerichtet werden. Die Priesterin, die die Exekution vollstrecken soll, ist aber – o grausames Schicksal – Iphigenia, die Schwester von Oreste. Regisseur Kay Link verlegt die Handlung in eine moderne Diktatur, die wie Nordkorea anmutet, in eine Szenerie aus Bunkern, Bomberflugzeugen und Kasernen. Seine eindrückliche Botschaft: Abschottung nach außen führt zu Staatsterror, sprich Krieg im Inland.
    Mit Krieg und Frieden befasste sich auch die amerikanische Mezzosopranistin Joyce DiDonato in ihrem Galakonzert bei den Händelfestspielen. Für ihre Kunst, aber auch für ihr finanzielles Engagement in zahlreichen sozialen Projekten wurde sie mit dem diesjährigen Händelpreis der Stadt Halle geehrt. Musik überhaupt, und vor allem die affektgeladene Musik des Barock beschreibt sie als probates Mittel gegen Abschottung, Intoleranz und Hass auf das Fremde.
    "Im Moment beobachten wir in den USA, in Großbritannien und überall auf der Welt, dass sich Angst breit macht. Viele Leute sagen aber: Davon müssen wir uns nicht anstecken lassen, wir müssen auf uns achtgeben. Und das ist Lösung. Die Gebrauchsanweisungen gegen die Angst sind also längst geschrieben."