Jürgen Liminski: Der Bestseller-Autor Wolfgang Bergmann gehört zu den bekanntesten Pädagogen und Psychologen Deutschlands. Einen Namen gemacht hat er sich zunächst als Fachmann für ADS-Kinder. Zu seinen zahlreichen Büchern gehören Titel wie "Gute Autorität – Grundsätze einer zeitgemäßen Erziehung" oder "Disziplin ohne Angst", ferner "Das Drama des modernen Kindes" über Hyperaktivität, Magersucht, Selbstverletzung, oder auch "Warum unsere Kinder ein Glück sind". Wolfgang Bergmann hat sich auch im Deutschlandfunk gerne und oft zu Wort gemeldet, er kam dafür immer ins Studio. Seit einiger Zeit ist er schwer krank, ins Studio kann er nicht mehr kommen, er liegt jetzt in einem Hospiz, hat sich aber bereit erklärt, für diesen Sender in der Osterwoche noch ein Telefoninterview zu führen über sein Lebenswerk. Wir sind jetzt mit ihm verbunden. Guten Morgen, Herr Bergmann.
Wolfgang Bergmann: Guten Morgen.
Liminski: Herr Bergmann, zunächst eine persönliche Frage, die Sie mir im Vorgespräch auch erlaubt hatten. Wie hoch schätzen die Ärzte Ihre Lebenserwartung noch ein?
Bergmann: Nun, das ist schwer einzuschätzen. Letztlich weiß man das angesichts dieser Krebsdiagnostik nicht. Wir wollen mal hoffen, dass es noch ein Jährchen wird. Es kann aber auch durchaus sein, dass in einem halben Jahr bereits alles zu Ende ist.
Liminski: Haben Sie Angst vor dem Tod?
Bergmann: Nein.
Liminski: Sie wollen Spuren hinterlassen. Wenn Sie zurückblicken, was war oder was halten Sie für Ihr wichtigstes Buch?
Bergmann: Ich habe versucht, mich gegenüber bestimmten Mainstreams, gegenüber bestimmten Breitenströmungen der Pädagogik immer zu sperren, mich dagegenzustellen, und es sind vor allem zwei Entwicklungen, denen ich versucht habe, mich entgegenzustellen. Das eine ist die deutsche Disziplin, die Kinder brauchen doch Anstand und Disziplin, und was darunter gemeint ist, ist nicht Anstand und Disziplin, sondern ist in aller Regel Unterwürfigkeit und der Versuch, die Kinder klein zu machen. Und das Zweite ist eine Geschichte, den kleinen Menschen ihre Lebensgeschichte zu rauben, ihnen wegzunehmen, was ihre Eigenart, ihre Besonderheit, ihre Persönlichkeit ausmacht. Das wird ihnen genommen mit der Begründung, dass das zu Ungehorsam führe oder zur Abweisung von vernünftigen Lebenskonzepten. Was hier dann vernünftig genannt wird, das ist in aller Regel nichts anderes als eine Art von Überangepasstheit.
Liminski: Wo läuft denn die familienpolitische oder auch erziehungswissenschaftliche Debatte in Deutschland sonst noch schief?
Bergmann: In genau derselben Richtung. Es ist eine Art Überangepasstheit, an die sich dann auch die Eltern, auch die Lehrer anpassen. Sie wissen es auch nicht besser. Woher sollen sie es auch wissen? Es sagt ihnen ja keiner. Also wir haben eine Diskussion, eine pädagogische Diskussion, die wieder und wieder sagt, so und so muss es sein, und dieses so und so ist eigentlich in jedem Fall eine Art von Anpassung, von du musst dich so verhalten, wie sich alle verhalten, du musst dich so unterordnen, wie sich alle unterordnen. Das ist eigentlich ein uralter Geist, der noch aus der Vorzeit von Fröbel herrührt, dieses Gefühl von "Wir müssen uns doch dem Geist der Gemeinschaft fügen". Das ist aber so nicht richtig, denn der Geist der Gemeinschaft muss immer auch unterlaufen sein vom Geist des sperrigen Individuums.
Liminski: Herr Bergmann, sind das nicht Debatten von immer? Schon Jean Jacques Rousseau hat in seinem pädagogischen Roman "Emil" geschrieben, wir sollten doch endlich aufhören, einen Menschen machen zu wollen, fabrizieren zu wollen, und sollten die Kinder lieber das sein lassen, was sie sind, nämlich kleine Menschen. Gehen die Deutschen, wenn man es mal so verallgemeinern will, zu akademisch und mit Rezepten bewaffnet in die Erziehung?
Bergmann: Ja, das ist so. Die Deutschen erklären die Kinder sozusagen zu Gegenständen, die man so und so behandeln muss, und dann wird schon was Ordentliches daraus werden. Das ist natürlich ein Irrtum. Man kann Kinder überhaupt nicht behandeln, so und so nicht und anders herum auch nicht. Man kann überhaupt nicht einwirken in dieser Form auf die kleinen Menschen, sondern man kann sie nur sozusagen zu sich selber kommen lassen, und dieses zu sich selber kommen, das ist ein schwieriger Vorgang für Eltern und für die Kinder selber auch, schwierig auch in dem Sinne, dass die Kinder ja eine Erfahrung ihrer selbst machen müssen, die über das hinausgreift, was sie jetzt gerade sind. Sie sind immer mehr, als sie in diesem Moment sind, und dies zu erfahren und zu erfüllen, das ist schwierig genug und reicht aus für ein Erziehungskonzept. Leider tun wir, die Eltern, wir Lehrer, wir Pädagogen insgesamt, da immer noch irgendwelche gute Ratschläge oder irgendwelche optimalen Bezugspunkte hinzu, und das schadet.
Liminski: Wo würden Sie denn gerne noch einmal eingreifen, konkret mit Wort und Feder, wenn Sie könnten?
Bergmann: Ich würde gerne noch einmal dorthin weiterschreiben, wo ich angefangen habe, nämlich die Frage, was ist eigentlich Disziplin, was ist Gehorsam. Das scheint mir ein ganz wichtiger Punkt. Gehorsam und Disziplin sind nämlich keineswegs ohne Weiteres abzulehnen. Sie sind wichtige Punkte in der Entwicklung eines Menschen. Sich hineinzubegeben in das Gefüge der menschlichen Ordnung, das ist schwer zu beherrschen und schwer zu entwickeln, und dabei den einen oder anderen jungen Menschen noch zu begleiten, das wäre mir eine Freude, aber es wird wohl nichts.
Liminski: Was wäre denn die Botschaft, sozusagen das Vermächtnis, das Sie sich für Ihr Lebenswerk wünschen?
Bergmann: Meine Botschaft, wenn man das so pathetisch sagen will, meine Botschaft ist an die jungen Menschen, haltet euch an euch selber fest. Ihr habt nichts mehr und nichts Klügeres und nichts Kompetenteres als euch selber, haltet euch daran fest und gebt euch nicht auf. Und wenn ihr dies tut, dann gebt ihr euch die beste Botschaft, die man sich selber geben kann, und die verlässlichste, und von da aus ist dies die beste Idee von dem was bin ich eigentlich, die man sich selber geben kann.
Liminski: Und da Sie von der Disziplin gesprochen haben, was ist denn das Gegenmittel zur Disziplin?
Bergmann: Das Gegenmittel zur Disziplin ist paradoxerweise Disziplin, also eine falsche Disziplin, das heißt eine Disziplin, die stramm steht, eine, die in Reih und Glied sich aufstellen lässt, eine Disziplin, die sozusagen sich mit allen anderen einordnet und zurecht findet und gemeinsam einen Weg beschreitet. Das ist nicht die Disziplin, von der ich spreche, sondern die Disziplin, die ich meine, das ist die, in der das Einzelne, das Individuelle, das freimütig Individuelle tief verwoben ist. Wo das gelingt, das Individuelle und das Freie, gewinnt ein junger Mensch auch die Fähigkeit zu sich selber.
Liminski: Gehört dazu nicht auch ein liebevoller Umgang?
Bergmann: Dazu gehört zutiefst ein liebevoller Umgang. Ohne Liebe ist Pädagogik ohnehin nicht machbar. Und so beende ich meine Vorträge und viele meiner Bücher immer mit dem einen Satz von Paulus, und der lautet: "Die Liebe höret nimmer auf". Dieser Satz hat einen ganz tiefen Klang, nicht nur eine technische Bedeutung, sondern einen tiefen Klang, ein tiefes Wissen. Wer das verstanden hat, der hat auch Pädagogik verstanden.
Liminski: Die Liebe währt ewig. Das war Wolfgang Bergmann, Bestseller-Autor und Pädagoge. Herr Bergmann, wir denken an Sie. Danke für das Gespräch.
Bergmann: Gerne.
Wolfgang Bergmann: Guten Morgen.
Liminski: Herr Bergmann, zunächst eine persönliche Frage, die Sie mir im Vorgespräch auch erlaubt hatten. Wie hoch schätzen die Ärzte Ihre Lebenserwartung noch ein?
Bergmann: Nun, das ist schwer einzuschätzen. Letztlich weiß man das angesichts dieser Krebsdiagnostik nicht. Wir wollen mal hoffen, dass es noch ein Jährchen wird. Es kann aber auch durchaus sein, dass in einem halben Jahr bereits alles zu Ende ist.
Liminski: Haben Sie Angst vor dem Tod?
Bergmann: Nein.
Liminski: Sie wollen Spuren hinterlassen. Wenn Sie zurückblicken, was war oder was halten Sie für Ihr wichtigstes Buch?
Bergmann: Ich habe versucht, mich gegenüber bestimmten Mainstreams, gegenüber bestimmten Breitenströmungen der Pädagogik immer zu sperren, mich dagegenzustellen, und es sind vor allem zwei Entwicklungen, denen ich versucht habe, mich entgegenzustellen. Das eine ist die deutsche Disziplin, die Kinder brauchen doch Anstand und Disziplin, und was darunter gemeint ist, ist nicht Anstand und Disziplin, sondern ist in aller Regel Unterwürfigkeit und der Versuch, die Kinder klein zu machen. Und das Zweite ist eine Geschichte, den kleinen Menschen ihre Lebensgeschichte zu rauben, ihnen wegzunehmen, was ihre Eigenart, ihre Besonderheit, ihre Persönlichkeit ausmacht. Das wird ihnen genommen mit der Begründung, dass das zu Ungehorsam führe oder zur Abweisung von vernünftigen Lebenskonzepten. Was hier dann vernünftig genannt wird, das ist in aller Regel nichts anderes als eine Art von Überangepasstheit.
Liminski: Wo läuft denn die familienpolitische oder auch erziehungswissenschaftliche Debatte in Deutschland sonst noch schief?
Bergmann: In genau derselben Richtung. Es ist eine Art Überangepasstheit, an die sich dann auch die Eltern, auch die Lehrer anpassen. Sie wissen es auch nicht besser. Woher sollen sie es auch wissen? Es sagt ihnen ja keiner. Also wir haben eine Diskussion, eine pädagogische Diskussion, die wieder und wieder sagt, so und so muss es sein, und dieses so und so ist eigentlich in jedem Fall eine Art von Anpassung, von du musst dich so verhalten, wie sich alle verhalten, du musst dich so unterordnen, wie sich alle unterordnen. Das ist eigentlich ein uralter Geist, der noch aus der Vorzeit von Fröbel herrührt, dieses Gefühl von "Wir müssen uns doch dem Geist der Gemeinschaft fügen". Das ist aber so nicht richtig, denn der Geist der Gemeinschaft muss immer auch unterlaufen sein vom Geist des sperrigen Individuums.
Liminski: Herr Bergmann, sind das nicht Debatten von immer? Schon Jean Jacques Rousseau hat in seinem pädagogischen Roman "Emil" geschrieben, wir sollten doch endlich aufhören, einen Menschen machen zu wollen, fabrizieren zu wollen, und sollten die Kinder lieber das sein lassen, was sie sind, nämlich kleine Menschen. Gehen die Deutschen, wenn man es mal so verallgemeinern will, zu akademisch und mit Rezepten bewaffnet in die Erziehung?
Bergmann: Ja, das ist so. Die Deutschen erklären die Kinder sozusagen zu Gegenständen, die man so und so behandeln muss, und dann wird schon was Ordentliches daraus werden. Das ist natürlich ein Irrtum. Man kann Kinder überhaupt nicht behandeln, so und so nicht und anders herum auch nicht. Man kann überhaupt nicht einwirken in dieser Form auf die kleinen Menschen, sondern man kann sie nur sozusagen zu sich selber kommen lassen, und dieses zu sich selber kommen, das ist ein schwieriger Vorgang für Eltern und für die Kinder selber auch, schwierig auch in dem Sinne, dass die Kinder ja eine Erfahrung ihrer selbst machen müssen, die über das hinausgreift, was sie jetzt gerade sind. Sie sind immer mehr, als sie in diesem Moment sind, und dies zu erfahren und zu erfüllen, das ist schwierig genug und reicht aus für ein Erziehungskonzept. Leider tun wir, die Eltern, wir Lehrer, wir Pädagogen insgesamt, da immer noch irgendwelche gute Ratschläge oder irgendwelche optimalen Bezugspunkte hinzu, und das schadet.
Liminski: Wo würden Sie denn gerne noch einmal eingreifen, konkret mit Wort und Feder, wenn Sie könnten?
Bergmann: Ich würde gerne noch einmal dorthin weiterschreiben, wo ich angefangen habe, nämlich die Frage, was ist eigentlich Disziplin, was ist Gehorsam. Das scheint mir ein ganz wichtiger Punkt. Gehorsam und Disziplin sind nämlich keineswegs ohne Weiteres abzulehnen. Sie sind wichtige Punkte in der Entwicklung eines Menschen. Sich hineinzubegeben in das Gefüge der menschlichen Ordnung, das ist schwer zu beherrschen und schwer zu entwickeln, und dabei den einen oder anderen jungen Menschen noch zu begleiten, das wäre mir eine Freude, aber es wird wohl nichts.
Liminski: Was wäre denn die Botschaft, sozusagen das Vermächtnis, das Sie sich für Ihr Lebenswerk wünschen?
Bergmann: Meine Botschaft, wenn man das so pathetisch sagen will, meine Botschaft ist an die jungen Menschen, haltet euch an euch selber fest. Ihr habt nichts mehr und nichts Klügeres und nichts Kompetenteres als euch selber, haltet euch daran fest und gebt euch nicht auf. Und wenn ihr dies tut, dann gebt ihr euch die beste Botschaft, die man sich selber geben kann, und die verlässlichste, und von da aus ist dies die beste Idee von dem was bin ich eigentlich, die man sich selber geben kann.
Liminski: Und da Sie von der Disziplin gesprochen haben, was ist denn das Gegenmittel zur Disziplin?
Bergmann: Das Gegenmittel zur Disziplin ist paradoxerweise Disziplin, also eine falsche Disziplin, das heißt eine Disziplin, die stramm steht, eine, die in Reih und Glied sich aufstellen lässt, eine Disziplin, die sozusagen sich mit allen anderen einordnet und zurecht findet und gemeinsam einen Weg beschreitet. Das ist nicht die Disziplin, von der ich spreche, sondern die Disziplin, die ich meine, das ist die, in der das Einzelne, das Individuelle, das freimütig Individuelle tief verwoben ist. Wo das gelingt, das Individuelle und das Freie, gewinnt ein junger Mensch auch die Fähigkeit zu sich selber.
Liminski: Gehört dazu nicht auch ein liebevoller Umgang?
Bergmann: Dazu gehört zutiefst ein liebevoller Umgang. Ohne Liebe ist Pädagogik ohnehin nicht machbar. Und so beende ich meine Vorträge und viele meiner Bücher immer mit dem einen Satz von Paulus, und der lautet: "Die Liebe höret nimmer auf". Dieser Satz hat einen ganz tiefen Klang, nicht nur eine technische Bedeutung, sondern einen tiefen Klang, ein tiefes Wissen. Wer das verstanden hat, der hat auch Pädagogik verstanden.
Liminski: Die Liebe währt ewig. Das war Wolfgang Bergmann, Bestseller-Autor und Pädagoge. Herr Bergmann, wir denken an Sie. Danke für das Gespräch.
Bergmann: Gerne.