Wie sehnt sich doch alles nach dem "großen Wurf", speziell zu Beginn der neuen Theatersaison - und wie oft wird nichts draus. Karin Beiers inzwischen dritte Spielzeit in Hamburg startet aber mit einem echten Highlight; auch wenn's zunächst gar nicht danach aussieht: mit "Effi Briest", Theodor Fontanes alter Fabel von Frauen-Leid und Männer-Lust sowie der tödlich-schwarzen Magie von Macht, Moral und guten Sitten. Im kleinen Malersaal brennen der Musiker Clemens Sienknecht (einer von Christoph Marthalers klügsten Schülern!) und die Regisseurin Barbara Bürk ein Feuerwerk ab, wie es mit dieser ollen Kamelle kaum vorstellbar war – bis gestern Abend.
Radio-Briest
"Aber während die Mutter kein Auge von der Arbeit ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen ‚Effi' führte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob sich, um - unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen - den ganzen Kursus der Heil- und Zimmer-Gymnastik durchzumachen."
Vom Uralt-Plattenspieler und mit kratzender Nadel lässt Sienknecht noch einmal und immer mal wieder Gert Westphal Fontane lesen (der NDR-Klassiker stammt von 1988); und der Plattenspieler steht in einem Hörspiel-Studio. Das Ensemble mimt eine Livesendung von "Radio Briest", mit allem Schnick und Schnack heutiger Radio-Marotten: Nachrichten, Wetter und Verkehr, Jingles, Rätseln und Werbung. Fontanes Fabel ist strukturiert wie eine im Fernsehen längst übliche "In aller Freundschaft"-Novela; und für die wesentlichen Kern- und Angelpunkte der Handlung um Effi, Familie Briest, den Major Crampas und den zutiefst bornierten Ehren- und Ehemann Geert von Instetten setzt Sienknecht Pop-Songs und Schlager ein, von der Country-Schnulze über Randy Newman und Prince bis zu Stevie Wonder.
Jeder und jede im Ensemble singt fabelhaft, auch und gerade und besonders fein in Chören wie bei Marthaler, einige spielen obendrein neben Geige und Klavier auch so herrlich abgelegene Instrumente wie Kornett und Bass-Klarinette – und die Waage neigt sich mal zur Parodie und mal zur klug-musikalischen Interpretation des Romans. Ein Muss ist diese in jeder Hinsicht virtuose Fontanerei für jeden Radio-Fan, ein extrem komisches Abenteuer für alle anderen.
Hera-Müller-Adaption im Video-Format
"Reisende, dachte Irene, Reisende auf einem Bein - und auf dem anderen Bein Verlorene."
Von ganz anderer, aber ähnlich staunenswerter Virtuosität ist die neue Hamburger Produktion der eigenwilligen Engländerin Katie Mitchell. "Reisende auf einem Bein", Herta Müllers Text von 1989, erschienen zwei Jahre nach der Flucht der Autorin aus Ceaucescus Rumänien, erzählt Mitchell nicht etwa als Stück fürs Theater, sondern einmal mehr als eine Art "Video-Work in Progress"; sie lässt das Ensemble aber diesmal im Grunde nicht für uns, das Publikum, sondern fast ausschließlich für die Kamera spielen.
Das birgt Risiken und Nebenwirkungen. Die Bühne steht voller kleiner Einzel-Szenarien; im Auf und Ab der Kulissen-Wände verändern die Spielräume sich ständig. Insgesamt bald drei Dutzend Helferlein aus allen Abteilungen der Technik flitzen ständig hin und her, um der Kamera, dem Ton und dem Licht des fliegenden Video-Teams immer neue Arrangements zu bauen, in denen Darstellerinnen und Darsteller agieren - auf der Video-Leinwand oberhalb dieses Gewimmels bekommen wir dann das live gefertigte Bild zu sehen. Dabei bleibt der technische Aufwand immer erkenn- und durchschaubar; wir sind durchaus eingeladen, die Herstellung von Bildern, Räumen und Perspektiven mit zu entschlüsseln. Mitchells Video-Filmset ist zudem ein Meisterstück der Requisite - detailverliebt ist das alte Berlin von 1987 nachgebaut für die Kamera.
Die Faszination vor derlei filigraner Planung technischer Abläufe mag enorm sein - wer diese grandiose Handwerkstechnik von Katie Mitchell allerdings zum wiederholten Male sieht, ist vielleicht nicht mehr gar so leicht überraschen. Der Zauber nutzt sich ab, auch in 90 kurzen Minuten. Und die Fremdheit wächst: zwischen der Bühne selbst und denen, für die der ganze Aufwand betrieben wird. Mitchells Künste bleiben sehr oft sehr kalt. Eben weil nur für die Kamera gespielt wird - so fremd wie Irene, die Geflüchtete, die Gerettete, im neuen Leben bleibt, so fremd wird das Theater sich selber, wenn Katie Mitchell die Fäden zieht. Film ab, Herz aus.