Archiv

Hamburger Stolpersteine
Die vergessenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen

Für die Nazis waren sie Menschenmaterial: Verschleppte Frauen aus Polen und der Sowjetunion, die in deutschen Firmen und Fabriken arbeiten mussten. Schwangerschaft und Geburt waren unerwünscht, der Tod der Kinder wurde billigend in Kauf genommen. Die "Initiative Stolpersteine" erinnert an die Opfer in Hamburg.

Von Ursula Storost |
Verwitterter Grabstein mit der Inschrift "Unbekanntes Kind - + 30.4.1945" auf dem Ohlsdorfer Friedhof, Hamburg
Grabstein eines "unbekannten Kindes" auf dem Ohlsdorfer Friedhof, Hamburg (Margot Löhr)
Die Psychologin Margot Löhr steht auf einer weiten Rasenfläche auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. In langen Reihen dunkelgraue Grabplatten. Manche sind verwittert, vermoost oder zugewachsen, die Inschriften kaum zu erkennen. Das sind Gräber von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, sagt Margot Löhr. Dazwischen eines der wenigen erhaltenen Kindergräber.
"Die meisten Kindergräber wurden ja eingeebnet, es war 1959 und wurden nicht erhalten. Und hier, da können wir mal hingehen, da ist das Grab von dem kleinen Alexander Letwinenko. Der wurde nur fünf Monate und zwei Tage alt. Im Lager Lederstraße hat seine Mutter gearbeitet, und dort ist er an Unterernährung verstorben."
Die toten Kinder waren ein Zufallsfund
Das Lager Lederstraße war zwischen 1940 und 1945 eines der größten Zwangsarbeiterlager im Hamburger Raum. Die Menschen wurden morgens von hier aus in Fischfabriken, zu Speditionen und Baufirmen gekarrt. Hier starben 13 Kinder. Auf diese und in anderen Lagern verstorbene Kinder stieß Margot Löhr vor knapp zehn Jahren. Die Mitarbeiterin der "Initiative Stolpersteine" recherchierte Schicksale von Opfern des Nationalsozialismus.
"Da bin ich zufällig auf Namen gestoßen von kleinen Kindern, und da wurde als Wohnort 'Lager' angegeben. Lager Tannenkoppel zum Beispiel hier in Langenhorn, und das stieß mich natürlich darauf, das hier in den Zwangsarbeitslagern auch Kinder und Säuglinge waren, was ich vorher also überhaupt nicht irgendwo in Erwägung gezogen hatte."
Margot Löhr geht an einer weiteren Reihe grauer Grabplatten entlang.
"Hier ist Nikolai Zando. Hier finden wir den kleinen Johannes Puck, Valerin Golubew."
Grabstein von Valerin Golubew auf dem Ohlsdorfer Friedhof, Hamburg. Der untere Teil des Grabsteins ist mit Moos zugewachsen.
Grabstein von Valerin Golubew auf dem Ohlsdorfer Friedhof, Hamburg (Margot Löhr)
Viele dieser Kinder, so Margot Löhr, starben direkt in den Lagern, andere wurden in Krankenhäuser gebracht. Wie Valerin Golubew, dessen Mutter aus Russland verschleppt wurde. Sie musste für eine Gartenbaufirma auf dem Ohlsdorfer Friedhof Zwangsarbeit leisten. Im März 1944 kamen Mutter und Kind in das Hamburger Krankenhaus Langehorn.
"Sie wurde an einer Brustentzündung behandelt. Das bedeutet auch, sie konnten nicht immer stillen. Als Todesursache, er wurde nur zwei Monate und zwei Wochen alt, wurde später Pädatrophie angegeben. Das ist Auszehrung, der schwerste Grad der Ernährungsstörungen."
Auf den Krankenhausstationen wussten alle Bescheid
Ernährungsstörungen, Auszehrung, Lungenentzündung sind die häufigsten eingetragenen Todesursachen der Kinder. Auf den Todesbescheinigungen des Krankenhaus Langenhorn fand Margot Löhr immer wieder die gleichen Unterschriften: Dr. Blumenthal, Lehmann, Steinbömer. Alle, die auf der jeweiligen Station arbeiteten, mussten gewusst haben, wie schlecht es den Kindern in den Lagern ging. Aber niemand bemühte sich, das Leben der todkranken Kinder zu retten.
"Die wurden einfach liegen gelassen. So sehe ich das, also durch Wegsehen kann man Säuglinge töten, wenn man nicht hinschaut und sich um sie kümmert."
Dank Margot Löhrs akribischer Recherche wissen wir wieder mehr über die deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus, sagt die Historikerin Dr. Beate Meyer. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden ist eine der Herausgeberinnen der gerade erschienenen zweibändigen Publikation "Die vergessenen Kinder der Hamburger Zwangsarbeiterinnen":
"Für diese Kinder oder ihre Mütter bedeutete das Leben im Lager, dann also die Arbeitsbedingungen, die meistens bis direkt an die Geburt rangingen; die Versorgungssituation - nämlich keine. Keine medizinische Betreuung. Aber auch, was die deutsche Bevölkerung dazu geleistet hat: Die Ärzte, die Krankenschwestern, die Lagerleiter, diejenigen, die die Zwangsarbeiterinnen also beschäftigten in ihrem privaten Haushalten und so weiter."
Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen
Keiner der Ärzte wurde nach 1945 zur Rechenschaft gezogen, sagt Margot Löhr. Auch die Firmen, die die Zwangsarbeiterinnen ausbeuteten und die um die unmenschlichen Zustände in den Lagern wussten, wurden niemals angeklagt.
"Und ich kann auch zum Beispiel sagen, dass es im Lager Hohenzollernring, das ist in Altona, die gingen also aus diesem Lager in die Fischindustrie. Da kann man also Namen finden, die man heute noch kennt: Firma Appel, Firma Friedrichs, Firma Hennings, Firma Janssen, Krohn, Krüger, Lysell. Da arbeiteten die Frauen, gingen also von dort zum Arbeiten. Und da sind also aus diesem Lager neun Kinder, die ich gefunden habe, die verstorben waren."
Zwangsabtreibung im fünften Monat
Wurde eine Zwangsarbeiterin schwanger, minderte das ihre Arbeitsfähigkeit. Deshalb wurden viele der Frauen zur Abtreibung gezwungen. Zum Beispiel gab es in der Hamburger Frauenklinik Finkenau zwischen 1943 und 1945 bei osteuropäischen Frauen etwa 550 Geburten und gleich viele Abtreibungen.
"Das ist also Reihe vier, Nummer 27. Alexandra Kalaschnikowa können wir erst mal sehen, wo die ist. Vier und hier …."
Margot Löhr sucht in den Reihen nach der Grabplatte von Alexandra Kalaschnikowa. Sie starb im Februar 1944 nach einer Abtreibung.
"Das finde ich einen besonders schlimmen Fall. Also sie war im fünften Schwangerschaftsmonat, was eigentlich nicht mehr durchgeführt wurde. Der Eingriff wurde von Assistenzärztin Meta Thorlichen durchgeführt. Die Todesursache heißt Uterusruptur, das heißen Gebärmutterriss, da der Fötus schon zu groß war. Und sie ist daran verstorben. Sie war 37 Jahre alt."
Die Kinder wurden sofort weggenommen
Dass Frauen zur Abtreibung gezwungen wurden, war kein Einzelfall, sagt Dr. Friederike Littmann. Die Historikerin hat viele Jahre zum Thema Zwangsarbeit in Hamburg geforscht:
"Zu Anfang 1941 noch war es so, dass die Frauen, die schwanger wurden, wieder zurück transportiert wurden in ihre Länder, weil sie für die Industrie und für die Betriebe einfach dann wertlos waren als schwangere Arbeitskräfte. Aber das ist schon bald rückgängig gemacht worden, weil den entsprechenden Behörden und der Gestapo damals deutlich wurde, dass die Frauen das extra machen. Und da haben sie dann gesagt, die bleiben hier."
Ab Sommer 1943 mussten die Schwangeren in den Hamburger Lagern bleiben. Diejenigen, die sich der Abtreibung widersetzten, gebaren in Krankenhäusern oder so genannten Entbindungsbaracken, so Friederike Littmann:
"Und die Kinder wurden ihnen sofort abgenommen nach der Geburt, weil die Frauen schon nach wenigen Tagen manchmal wieder an die Arbeit mussten."
Eine Frau legt eine Rose nieder bei der Einweihung der "Stolpersteine" für die toten Kinder von Zwangarbeiterinnen in Hamburg 
Die Stolpersteine für die Kinder der Zwangsarbeiterinnen erinnern an die Opfer (Gesche Cordes)
Die Würde kommt mit dem Namen zurück
Keine Deutsche und kein Deutscher konnte vor dem Elend der Zwangsarbeiter die Augen verschließen, sagt Friederike Littmann. Sie hat eine Karte der Lager im Hamburger Stadtgebiet erarbeitet. Dicht bei dicht sind die Lager verzeichnet. Zwangsarbeiter waren überall in der Nachbarschaft. Die Stolperstein-Forscherin Margot Löhr kämpft darum, dass zumindest die Kinder der Zwangsarbeiterinnen, die durch Nazi-Willkür ihr Leben verloren, nicht vergessen bleiben. Zwar gibt es noch keinen offiziellen Gedenkstein, aber immerhin schon Stolpersteine für 49 der 418 Opfer.
"Die Würde kommt mit dem Namen des Menschen zurück. Ich finde, wir haben also die Verantwortung, dass wir die Namen den Menschen zurückgeben. Diese Kinder, die wirklich gelitten haben, bis sie zu Tode kamen, dass sie ihren Namen zurückbekommen und ihre Würde damit."