Christiane Kaess: Ein Traumergebnis für die Sozialdemokraten hat ihnen die Hamburger Wahl beschert. Gute 46 Prozent der Stimmen konnte Spitzenkandidat Olaf Scholz einfahren. Allerdings verliert die SPD ihre absolute Mehrheit in der Bürgerschaft und braucht künftig einen Koalitionspartner. Favorit sind dabei die Grünen, die sich auf gut zwölf Prozent verbessern konnten. Ebenfalls in die Bürgerschaft geschafft hat es die FDP mit gut sieben Prozent und auch die AfD mit gut sechs Prozent. Die Alternative für Deutschland ist damit erstmals in einem westdeutschen Landesparlament vertreten. Heute Vormittag werden die Ergebnisse in den Parteizentralen in Berlin aufgearbeitet.
Von dort berichtet Frank Capellan.
Und am Telefon ist jetzt der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann, er ist Direktor des Zentrums für Sozialforschung an der Universität Halle-Wittenberg. Guten Tag, Herr Holtmann!
Everhard Holtmann: Guten Tag, Frau Kaess!
Kaess: Hat in Hamburg die SPD gesiegt oder Bürgermeister Olaf Scholz?
Holtmann: Ich denke, beides, denn es gab ja auch in der Wahrnehmung des überwiegenden Teils der Wählerschaft eine sehr starke Klammer zwischen der SPD als Hamburg-Partei, der auch die Kompetenz zugewiesen wurde, die Wirtschaft vor allen Dingen in Hamburg voranzubringen, aber gleichzeitig auch in anderen Kompetenzfeldern die führende Position erringen auf der einen Seite, und mit einem sehr starken persönlichen Akzeptanzprofil von Olaf Scholz auf der anderen Seite.
Kaess: Was hat denn Olaf Scholz, was Sigmar Gabriel nicht hat?
Holtmann: Man sollte jetzt vielleicht nicht unbedingt die beiden miteinander vergleichen im Sinne eines Abgleichs künftiger Kanzlerkandidaturen. Die SPD wird alles daran tun, genau diese aus ihrer Sicht verfrühte Diskussion zu vermeiden. Ich denke, aus der Sicht des regionalen, in vielem ja auch kommunalen Mikrokosmos Hamburgs gesehen, hat Olaf Scholz eben in der vergangenen Legislaturperiode überzeugend seine Fähigkeit nachgewiesen, die Probleme der Hansestadt, aber auch die Potenziale der Hansestadt in einer ruhigen, unaufgeregten und auch verlässlichen Art aufzunehmen und Lösungen zuzuführen. Und so gesehen, denke ich, sollte man auch die Erfolge dieses Wahlsystems in Hamburg suchen, und das schließt eben die Person des Regierenden Bürgermeisters mit ein.
"Eine Sondersituation, was Hamburg betrifft"
Kaess: Ja, aber das heißt, Herr Holtmann, also ein Ausnahmeergebnis für die SPD, das über Hamburg hinaus nicht greift?
Holtmann: Wenn man sich die Umfragen bundesweit anschaut, so stellt man ja die Diskrepanz fest. Das gilt übrigens auch für die FDP, über die wir ja vielleicht auch noch etwas reden wollen. Denn die SPD verharrt ja seit Monaten, im Grunde genommen in diesem, wie man sagt, diesem Turm der 25, manchmal 26 Prozent, und so gesehen ist es in der Tat zunächst einmal ein nicht nur demoskopisch messbarer, sondern auch im realen Wahlergebnis erkennbarer Ausreißer, Sondersituation, was Hamburg betrifft.
Kaess: Aber was ist denn die Erklärung dafür, dass die SPD offenbar in den Großstädten und in den Ländern punktet, aber eben nicht im Bund?
Holtmann: Das hat jetzt auch etwas zu tun mit der Frage der nach den Ebenen von Bund und Ländern nach wie vor unterschiedlichen Kompetenzzuweisung. Wir wissen, es ist eine fast eherne Regel der Erklärung des Wahlverhaltens, dass zwar der Kandidatenfaktor auch immer eine Rolle spielt, dass aber doch erheblich mehr die einer Partei zugewiesenen Lösungskompetenzen in wichtigen Politikfeldern wahlentscheidend sind. Und wenn man sich das anschaut, so sieht man die Diskrepanz. In Hamburg beispielsweise wird die SPD als wirtschaftliche kompetent von 48 Prozent der Bürgerinnen und Bürger eingeschätzt. Sie ist kompetent, die Arbeitsplätze zu sichern, ebenfalls 48 Prozent. Neben ihrer Kernkompetenz übrigens der sozialen Gerechtigkeit, wo sie zwar verloren hat, aber immer noch klar der Meinungsführer ist. Wenn man das jetzt mal auf die Bundesebene projiziert, so stellt man fest, dass die Bundes-SPD, was jetzt diese Kernkompetenzen Arbeitsplätze sichern und schaffen, die Wirtschaft in Deutschland voranbringen, angeht, da liegt sie um Längen hinter der Union zurück. Und ich denke, diese Diskrepanz in der Kompetenzzuweisung, teils in den Ländern, teils im Bund, das ist ein wesentlicher Schlüssel dafür, dass die SPD im Bund nicht aus den Puschen kommt.
Kaess: Mit dieser Mischung aus wirtschaftlicher Kompetenz und sozialer Kompetenz, damit haben Sie ja den Regierungsstil von Olaf Scholz beschrieben. Gibt es denn eigentlich einen Unterschied zwischen seinem Regierungsstil und dem von Angela Merkel? Da ist ja offenbar das Markenzeichen von beiden die Verlässlichkeit bis hin zu politischer Langeweile, so beurteilen es zumindest manche politische Kommentatoren.
Holtmann: Es gibt sicherlich bestimmte Parallelen, was eben die unaufgeregte Verlässlichkeit und die dabei und die dadurch für viele Wählerinnen und Wähler vermittelte ruhige Hand betrifft. Und gerade in Krisensituationen, das trifft allerdings dann wohl eher für den Bund zu, gerade in Krisensituationen neigen Menschen instinktiv dazu, einer ruhigen Hand stärker zu vertrauen als, sagen wir mal, jemandem, der den Eindruck eines Zappelphilipps erweckt. Also, da mag es gewisse Parallelen geben, aber auf der anderen Seite, man sollte das trotz aller Verflechtungen im Föderalismus nicht zu weit treiben. Die Politikfelder Außenpolitik, Sicherheitspolitik, wir wissen das alle, Europapolitik, die sind im Bund grundständig anders, und so gesehen sind auch die Anforderungen und die Herausforderungen für eine Kanzlerin ein etwas anderer Sachverhalt als für einen Regierungschef in den Ländern.
Ergebnis der FDP: "ein regionaler Achtungserfolg"
Kaess: Warum punktet die CDU in den Ländern nicht mehr? Sind diese Modernisierungsbemühungen von Angela Merkel, sind die dort irrelevant? Fruchten die nicht?
Holtmann: Es ist sicherlich wie immer in solchen Dingen mehr als ein Faktor. In der Tat scheint die Union daran zu leiden, dass die von ihr selbst ja und nicht zuletzt auch von Frau Merkel wenn nicht eingeleitete, aber so doch auch Modernisierungspolitik einen Teil ihrer traditionellen Anhänger verunsichert. Teilweise, aber nur teilweise gehen diese Menschen dann auch zu anderen Parteien, da mag auch etwas des Zustroms der AfD verursacht sein, teilweise aber auch gehen sie in die Schmollwinkel der Nichtwähler zurück. Also, da hat sich die Union in ein Modernisierungsdilemma begeben, was sie aber gar nicht anders hätte machen können. Denn für eine Partei, eine Volkspartei zumal, wäre es sehr fatal, wenn sie den Anschluss an gesellschaftlichen Wandel verlieren würde. Das ist sicherlich ein Punkt. Hinzu kommt, dass der Union in den letzten Jahren doch profilierte Führungspersönlichkeiten in den Ländern abhandengekommen sind, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Und da wächst offenbar nicht in einem Maße nach, was notwendig wäre, um auch entsprechend attraktiv in den Ländern zu erscheinen.
Kaess: Dann schauen wir auf die FDP. Ist das ein Comeback oder ist das ein Hamburger Phänomen?
Holtmann: Es ist zunächst einmal, denke ich, ein Hamburger Phänomen. Wenn man sich die Einschätzung, das Profil der FDP anschaut, so sagen in Hamburg ungefähr 50 Prozent jeweils, ja, die FDP hat eine neue Chance verdient, und die anderen 50 Prozent sagen, sie wird in der deutschen Politik nicht mehr gebraucht. Ich denke, das ist jetzt zunächst mal nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein regionaler Achtungserfolg. Die Strahlkraft vor dem Hintergrund der bisherigen Dauerschwäche, des Dauertiefs der FDP, ist natürlich entsprechend hoch, aber auch hier warne ich davor, vorschnell daraus gleich eine bundesweite Renaissance zu konstruieren, denn, noch mal zurück zur Kompetenzzuweisung: Der FDP werden, vor dem Hintergrund der regionalen Einschätzungen in Hamburg, keine nennenswerten Kompetenzen in ihren traditionellen Kernfeldern, also beispielsweise der Wirtschaft zugewiesen. Da sind diese Prozentzahlen bei zwei bis vier Prozent, und das liegt noch deutlich hinter ihrem Wahlergebnis zurück. Und, wie gesagt, im Bund, bundesweit verharrt die FDP derzeit bei drei Prozent. Sie hat also fast eine ähnliche Stagnation, wenn auch auf entsprechend niedrigerem Zustimmungsniveau, als das die SPD derzeit bundesweit erfährt.
Kaess: Dann, Herr Holtmann, zum Schluss noch ein Wort zur AfD. Sie ist im Westen angekommen und eine feste, etablierte politische Größe - müssen wir das so sehen?
Holtmann: Das ist bei einem Prozentanteil von sechs Prozent etwas verfrüht vielleicht zu sagen, von einer etablierten, auch im Westen und bundesweit etablierten Partei zu sprechen. Wobei dieses Wahlergebnis auch in etwa ihre derzeitige bundespolitische Akzeptanz widerspiegelt. Aber das kann sich ja durchaus auch ändern. Wenn man sich die Motive der AfD-Wähler gestern in Hamburg anschaut, so ist ein Motiv herausragend, und das heißt, 71 Prozent sagen, sie haben die AfD aus Enttäuschung gewählt. Also nicht etwa aus Gründen der von mir jetzt schon mehrfach erwähnten Kompetenzzuweisung oder aufgrund eines sachpolitischen Profils. Und das ist eine vergängliche Münze. Das kann sich auch entsprechend ändern. Wir wissen, nicht nur in Hamburg, aber gerade auch dort haben Protestparteien auch in der Vergangenheit zum Teil sehr kurzlebige Existenzen gehabt.
Kaess: Und wir hatten ohnehin eine sehr schlechte Wahlbeteiligung, das sei noch hinzuzufügen. Danke schön für dieses Gespräch! Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann war das, er ist Direktor des Zentrums für Sozialforschung an der Universität Halle-Wittenberg. Danke schön für das Gespräch!
Holtmann: Bitte schön!
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