Gedenken
Wie hat sich Hanau fünf Jahre nach dem Anschlag verändert?

Am 19. Februar 2020 tötete ein 43-Jähriger in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven. Danach erschoss er seine Mutter und sich selbst. Wie blickt die hessische Stadt fünf Jahre später auf die Tat?

Von Ludger Fittkau |
    Menschen mit Porträts der Opfer und Spruchbändern gegen Rassismus nehmen am 17. Februar 2024 in Hanau an einem Protestmarsch zum Gedenken an die tödlichen Hanauer Schüsse von 2020 teil, vier Jahre nach dem Anschlag.
    Auch mehrere Jahre nach dem Anschlag von Hanau wird das Gedenken in der Stadt hochgehalten. Hier ein Protestmarsch aus dem Jahr 2024. (AFP / Andre Pain)

    Was ist passiert?

    Am 19. Februar 2020 ermordet der 43-jährige Attentäter Tobias R. in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven.
    Die Opfer:

    Ferhat Unvar
    Hamza Kurtović
    Said Nesar Hashemi
    Vili Viorel Păun
    Mercedes Kierpacz
    Kaloyan Velkov
    Fatih Saraçoğlu
    Sedat Gürbüz
    Gökhan Gültekin

    Anschließend tötet Tobias R. in seinem Elternhaus seine Mutter, bevor er sich selbst das Leben nimmt. Weitere sechs Menschen, darunter fünf mit Migrationsgeschichte, überleben verletzt. Claus Kaminsky, damals wie heute SPD-Oberbürgermeister von Hanau, hätte bis zur Tatnacht selbst ein solches Verbrechen in seiner Stadt nie für möglich gehalten.
    Weil es in der Hugenottenstadt Hanau „über Jahrhunderte ein eingeübtes Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Kulturen“ gegeben habe, wo man trotz aller Unterschiedlichkeit „respektvoll und fair“ miteinander umgegangen sei, so Kaminsky: „Und dann dieses Ereignis! Das hat mich in der Wahrnehmung meiner Heimatstadt nachhaltig erschüttert“.

    Wie lief die bisherige Aufarbeitung?

    Die Überlebenden und die Angehörigen der Ermordeten erheben nach der Tatnacht Vorwürfe gegen die Behörden. Es stellt sich etwa heraus, dass der Notruf der Hanauer Polizei seit Jahren nicht richtig funktionierte. Vili Viorel Păun, eines der Opfer, hatte in der Tatnacht mehrfach vergeblich versucht, die Polizei über Telefon zu erreichen, bevor er erschossen wurde. Am zweiten Tatort, in der Gaststätte "Arena Bar & Café" in Hanau-Kesselstadt, gab es Probleme mit dem Notausgang, die möglicherweise seit Jahren auch den lokalen Behörden bekannt waren.
    Armin Kurtovic, Vater des dort getöteten Hamza Kurtović, hat deshalb vor wenigen Tagen noch einmal eine Strafanzeige gegen die Hanauer Stadtverwaltung und die Polizei gestellt. Es ist wahrscheinlich der letzte Versuch, mögliches Behördenversagen strafrechtlich aufarbeiten zu lassen. Denn nach fünf Jahren greifen für etwaige Straftaten zu diesem Thema Verjährungsfristen. Bisher hatte die zuständige Staatsanwaltschaft etwa beim unzureichenden Notruf kein „strafbares Fehlverhalten“ feststellen können. Das empört Angehörige bis heute.
    Da der Täter sich das Leben nahm, gab es keinen Gerichtsprozess zu den Morden des 19. Februar 2020 in Hanau. Umso wichtiger war ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag. Mehr als zwei Jahre lang versuchten die Abgeordneten, viele offene Fragen zur Tatnacht und den Tagen danach zu beantworten. Ein mehr als 600 Seiten starker Abschlussbericht wurde 2023 vorgelegt.
    Obwohl sich Regierung und Opposition im Hessischen Landtag nicht bei allen Punkten einigen konnten, kam das Parlament bei einigen zentralen Fragen zu einer gemeinsamen Einschätzung. So sei der Täter zu leicht an eine Waffenbesitzkarte gekommen. Der Notausgang in der Arena-Bar in Hanau-Kesselstadt sei ganz offensichtlich verschlossen gewesen. Und nach der Tat sei die Kommunikation der Polizei mit den Angehörigen zum Teil respektlos gewesen. So wussten viele Familien über Stunden hinweg nicht, ob von der Tat betroffene Verwandte noch leben oder nicht.
    Das hessische Innenministerium veröffentlichte nun vor einigen Monaten eine Liste von Maßnahmen, die aufgrund der Behördenfehler in Hanau umgesetzt werden sollen. Etwa:
    • Eine Verbesserung der Amokprävention durch ein neues „Amokpräventionszentrum“ beim Landesamt für Verfassungsschutz, das in engem Austausch mit anderen Sicherheitsbehörden stehen soll.
    • Die Bearbeitungszeiten der eingehenden Meldungen bei der Online-Meldestelle „#HessengegenHetze“ sollen reduziert werden.
    • Zentrale Maßnahme zur Verbesserung der Opferbetreuung soll die konzeptionelle Weiterentwicklung der polizeilichen Opfer- und Angehörigenbetreuung sein. Unter anderem bei einem Anschlag soll zukünftig regelhaft eine Einheit für die Opferbetreuung als „Single Point of Contact“ für Opfer und Angehörige aufgebaut werden.
    • Der hessische Innenminister setzt sich „für eine Anpassung des Landesrechts ein, um zu gewährleisten, dass Waffenbehörden informiert sind, wenn psychisch erkrankte Personen sich als ungeeignet zum Waffentragen erweisen“. Außerdem will sich Hessen für eine Verschärfung des Waffenrechts auf Bundesebene einsetzen.
    • Die hessische Polizei hat überdies ein Notrufkonzept für sogenannte „Anschlags- und Großschadenslagen“ entwickelt, den sogenannten „Anschlagsbutton“. Wird er betätigt, verkürzt sich die Warteschleife, die bei einer besonderen Vielzahl von Anrufen über die 110 eintreten kann, indem alle sieben hessischen Leitstellen die Notrufe annehmen können.

    Wie hat das Attentat von Hanau die Stadt verändert?

    In Hanau ist das rassistisch motivierte Verbrechen vom 19. Februar 2020 auf Schritt und Tritt präsent. An den beiden Tatorten in der Innenstadt und im Vorort Kesselstadt sind Gedenktafeln angebracht, Menschen legen auch nach fünf Jahren regelmäßig Blumen nieder oder stellen Kerzen auf. An unzähligen Laternenpfählen werden immer wieder Aufkleber mit den Namen der Opfer angebracht.
    Das Ladenlokal, das die „Initiative 19. Februar“ bereits kurz nach der Tat in der Nähe des Innenstadt-Tatorts anmietete, um einen Treffpunkt für Angehörige und Freundinnen zu bieten, dient weiterhin als Erinnerungsort.
    Andererseits: Etliche Hanauerinnen und Hanauer sehnen sich fünf Jahre nach der Tat nach etwas mehr emotionaler Distanz im Umgang mit den Verbrechen. Die „Mehrheit der Stadtgesellschaft“, so der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky, lehne überdies die Errichtung eines großen Mahnmals zum 19.Februar 2020 auf dem zentralen Marktplatz der Stadt ab. Denn dort steht seit Ende des 19. Jahrhunderts das Nationaldenkmal für die Brüder Grimm, die aus Hanau stammen. Das Denkmal hat zwei Weltkriege überstanden.
    Das Hanauer Stadtparlament und die Mehrheit der Opfer-Angehörigen begrüßen jedoch, dass ein anderer zentraler Verkehrsknoten der Stadt zum „Platz des 19. Februar 2020“ umbenannt wird und das Mahnmal dort errichtet werden wird.

    Wie geht es mit dem Erinnern an die Tat in Hanau weiter?

    Auf vielen Ebenen. Opferangehörige haben inzwischen Bücher über ihre Familien geschrieben, Theaterstücke zum Attentat von Hanau sind entstanden, die auf vielen Bühnen gespielt werden, auch über Hanau hinaus.
    Am künftigen „Platz des 19. Februar 2020“ baut die Stadt ein leerstehendes Gebäude zu einem „Demokratiezentrum“ um, in dem Bürgervereine tagen und durch eine kleine Dauerausstellung zur Tatnacht und den Folgen einen weiteren permanenten Ort des Gedenkens bekommen.
    Ob es doch noch zu Gerichtsverhandlungen wegen Behördenversagen kommen wird, ist offen. Klar ist jedoch: Die Mordtaten vom 19.2.2020 werden somit wohl nie wieder aus dem kollektiven Gedächtnis Hanaus gelöscht werden können.  Dafür hat sie die 100.000 Einwohner-Stadt zu sehr erschüttert.
    „Say there names“ – diese Aufforderung, die Namen der Opfer von Hanau nicht zu vergessen, wird wohl auch in den nächsten Jahren vor allem am Jahrestag des Attentats überall im Stadtgebiet präsent sein - und auch weit über Hanau hinaus: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin.