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Hanau nach dem Attentat
Das Verbrechen gleich um die Ecke

Seit der rassistisch motivierten Amokfahrt eines Mannes in Hanau kommen viele Bewohner von Hanau nicht mehr zur Ruhe - vor allem jene, die auch zur Zielscheibe des Täters hätten werden können. Religionsvertreter arbeiten eng zusammen, bieten Hilfe an und versuchen Wunden zu heilen.

Von Ludger Fittkau |
Eine Frau steht auf dem Marktplatz in Hanau vor dem Denkmal der Brüder Grimm. Vor dem Denkmal stehen Blumen, Kerzen und ein Plakat mit der Aufschrift «Getötet, weil sie Muslime waren».
Eine Frau steht auf dem Marktplatz in Hanau, auf dem den Opfern des Anschlags vom 19. Februar 2020 gedacht wird. (picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst)
Das Denkmal für Jakob und Wilhelm Grimm auf dem Markplatz von Hanau. Der Marmorsockel, auf dem die Statuen des hier geborenen berühmten Brüderpaares stehen, ist seit der rassistisch motivierten Amokfahrt vom 19. Februar so etwas wie eine zentrale Trauerstätte der Stadt geworden: Kerzen, Blumen und kleine Zettel mit Statements gegen Rassismus sind rund um das Denkmal platziert.
Den ganzen Tag über kommen Menschen, bleiben eine Weile schweigend stehen, dann gehen sie wieder. Klaus Busch und sein Schützling, der Flüchtling Mulu Deswamweb aus Eritrea, sind heute extra rund 30 Kilometer angereist:
"Ich bin alter Hanauer aber schon 35 Jahre weg aus Hanau und habe mich durch diesen Terroranschlag plötzlich wieder sehr mit meiner Stadt verbunden gefühlt."
Mulu Deswamweb steht neben Klaus Busch und spricht von der Angst, die das Attentat ihm macht. Zumal erst vor wenigen Monaten im nahegelegenen Wächtersbach ebenfalls ein Flüchtling aus Eritrea beinahe von einem Rassisten erschossen worden wäre.
"Das habe ich nicht erwartet. Ja. Damals habe ich gedacht, dass ich hier mein Leben verbessern kann und die Möglichkeit bekomme, dann lebe ich hier gut. Aber es ist nicht so, wie ich es erwartet habe."
Gewalt gegen Migranten - Ataman: "Wir wollen Schutz"
Migranten in Deutschland fühlten sich massiv unsicher – allerdings nicht erst seit dieser Woche, sagte die Journalistin Ferda Ataman im Dlf. Die Gesellschaft habe schon lange ein Rassismusproblem, dem die Politik entgegenwirken müsse.
Trauer und Fassungslosigkeit
Ein alter Mann tritt hinzu. Er nennt seinen Namen nicht, aber seine Augen sind voller Tränen. Er deutet in Richtung eines der Tat-Orte, der nur wenige hundert Meter entfernt liegt. Auch dort zieren Blumen den Eingang zur Schischa-Bar, in der in der Tatnacht die ersten Morde stattfanden:
"Einen Tag vorher lag ich noch im Krankenhaus hier mit einem türkischen jungen Mann zusammen. Und als das hier passierte, da hab ich gedacht: Da lag der im Krankenhaus. wird entlassen, geht vielleicht dahin, und dann ereilt ihn das Schicksal dort. Das war so mein Gedanke."
Vom Hanauer Marktplatz kann man durch eine Häuserzeile auf die Ruine der sogenannten "Wallonisch-Niederländischen Doppel-Kirche" blicken. Das Gotteshaus der calvinistischen Glaubensflüchtlinge des ausgehenden 16. Jahrhunderts wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Die niederländische Kirchenhälfte wurde wieder aufgebaut, der größere wallonische Teil blieb Ruine – als Mahnmal gegen Faschismus und Krieg.
Pfarrer Torben W. Telder ist seit dem Terroranschlag von Hanau am 19. Februar ständig in der Stadt unterwegs. Seit Jahren arbeitet seine Gemeinde mit Moscheevereinen, der Synagoge sowie den anderen christlichen Kirchen in Hanau in einem gut funktionierenden "Runden Tisch" der Religionen zusammen.
Der Schock in der Stadt sei besonders groß, weil die Verbrechen gleich um die Ecke stattfanden, sagt der Geistliche mit deutsch-niederländischen Wurzeln:
"Weil es nicht am Rand passiert, es ist an den Achsen passiert, wo wir tagtäglich vorbeilaufen. Es ist an Orten passiert, wo wir alle, glaube ich, in Hanau schon mal waren. Und wenn da so was passiert, dann ist auch die Seele aufgescheucht. Und da sind auch die muslimischen Geistlichen, die jüdischen Geistlichen und eben auch die christlichen Geistlichen gefragt und sind viel unterwegs und kommen mit den Menschen ins Gespräch."
Ein Projektil liegt auf dem Straßenpflaster. 
Kurdische Gemeinde Deutschland - "Solche Täter glauben, sie werden von der Gesellschaft getragen"
Auch wenn der Täter von Hanau vielleicht psychisch krank gewesen sei, habe er gemordet, weil er geglaubt habe, dass viele Menschen in Deutschland so denken wie er, sagte der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschland, Ali Ertan Toprak, im Dlf. Schuld daran sei auch der gesellschaftliche Diskurs.
Selma Yilmaz-Ilkhan und Ferdi Ilkhan sind für den Türkisch-Islamischen Verein Mitglied des Ausländerbeirates der Stadt Hanau. Ajdin Talic vertritt im Gremium die Bosnisch-Herzegowische Liste. Alle drei arbeiten nun fieberhaft an der Vorbereitung der heutigen Trauerfeier mit. Der Anschlag wird ihre zukünftige politische Arbeit entscheidend verändern, sagt Selma Yilmaz-Ilkhan, die Vorsitzende des Hanauer Ausländerbeirates:
"Zur Ruhe werden wir nicht mehr kommen. Und ich findet es auch richtig, wenn wir nicht zur Ruhe kommen."
Die Hanauer Ausländervertreter betreuen seit dem Attentat die Opfer und helfen ihnen beim Kontakt zu den deutschen Behörden. Selma Yilmaz-Ilkhan betont, wie wichtig die heutige offizielle Trauerfeier für die ganze Stadt ist. Sie soll den Seelenschmerz lindern helfen, den die große Mehrheit der Hanauerinnen und Hanauer seit dem 19. Februar empfindet:
"Ich finde, es ist sehr wichtig, um auch noch mal Zeichen zu setzen, ein Signal an die Familienangehörigen zu senden und zu sagen: Ihr seid nicht alleine. Euer Opfer und euer Verlust ist auch unser Verlust und deshalb finde ich schon wichtig, dass diese Trauerfeier auch so groß stattfindet, mit der Bundeskanzlerin, Bundespräsident und auch die Ministerpräsidentin von Hessen. Aber auch mit unserem OB Claus Kaminsky."
Viel Lob für den SPD-Bürgermeister
Claus Kaminsky, der SPD-Oberbürgermeister der Stadt bekommt in diesem Tagen viel Lob aus der Zivilgesellschaft der Stadt. Denn er zeigt ein unermüdliches Engagement für die Angehörigen der Opfer. Das betont auch Aydin Talic vom Ausländerbeirat:
"Der ist wirklich für diese Stadt sehr gut. Er hat jetzt jede Familie besucht. Bei jeder Beerdigung war er dabei. Der war teilweise von sechs, sieben Uhr morgens hier bis abends nachts bis zwei, drei Uhr. Das muss man sagen."
In Hanau will man nun Konsequenzen aus dem Anschlag ziehen. So denke man darüber nach, demnächst einen eigenen Rassismus-Beauftragten der Stadt zu installieren, so Selma Yilmaz-Ilkhan.
Denn der Alltagsrassismus sei in den letzten Jahren auch in ihrer Stadt, in der bald jeder und jede zweite einen Migrationshintergrund hat, viel spürbarer geworden. Das bringt Frust und Wut gerade bei jungen Muslimen. Die Arbeitsgemeinschaft der Imame der Stadt bemüht sich zurzeit stark darum, ihre aufgewühlten Gemeindemitglieder zu beruhigen, so die Vorsitzende des Ausländerbeirates:
"Ja, er hat da auch die Jugendlichen, die auch nicht nur ängstlich waren, traurig waren, sondern auch wütend und zornig waren – deren Gefühle hatte er so auch gemildert und zur Besonnenheit gerufen. Und das finde ich halt schon wichtig, dass das von einem Imam aus kommt. Ja, und der dann noch einmal sagt: Das ist unser Verlust. Ja! Aber mit Gewalt werden wir nichts lösen können deshalb beruhigen, beruhigen, beruhigen. Und das ist bei den Jugendlichen gut angekommen."
Die erste Wut verraucht langsam – doch die Verletzung wird noch lange bleiben. Damit wird Hanau künftig leben müssen.