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Handbuch
Den Blick für muslimisches Leben schärfen

Gerade in Zeiten des islamistischen Terrors werden Muslime und der Islam generell von vielen als Bedrohung empfunden. Das bekommen auch Muslime in Deutschland zu spüren. Das "Handbuch Christentum und Islam in Deutschland" wirbt für Verständigung.

Von Sandra Stalinski |
    Ein Muslim betet in Hamburg in der Centrums Moschee.
    Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster, sieht Muslime in Deutschland derzeit fast permanent unter Rechtfertigungsdruck. (picture alliance/dpa/Axel Heimken)
    Das Zusammenleben von Christen und Muslimen in Deutschland soll nicht nur ein Miteinander oder Nebeneinander sein, sondern eine gegenseitige Bereicherung. Das betonen die Herausgeber des neuen "Handbuchs Christentum und Islam in Deutschland". Es handelt sich um eine Art Arbeitsbuch, das auf mehr als 1.200 Seiten den Diskussionsstand politischer, soziologischer und theologischer Entwicklungen des christlich-islamischen Dialogs abbildet. Daten und Fakten über die Lebenssituation von Christen und Muslimen finden sich darin genauso wie ein Überblick über den Stand der Integrationsdebatte oder die Ergebnisse der Deutschen Islamkonferenz. Dabei kommen christlich und muslimisch geprägte Autoren gleichermaßen zu Wort. Sie schreiben nicht übereinander, sondern aus ihrer je eigenen Perspektive, sagt der federführende Herausgeber Mathias Rohe von der Universität Erlangen-Nürnberg.
    "Wir haben hier vielleicht einen Beitrag geleistet zur Emanzipation aus der Pubertät unserer interreligiösen Begegnungen. Ich sehe drei Phasen, die dritte steht uns gerade bevor: Wir hatten die frühen Jahre, wo die christlichen Kirchen in so einer karitativen Grundhaltung an Musliminnen und Muslime herangegangen sind, das waren Migranten, denen man aufhelfen wollte, denen man Räume öffnen wollte. Und im Moment stecken wir eigentlich noch in der pubertären Phase. Man merkt auf einmal, jetzt geht es um Positionsbestimmungen. Und die da neu gekommen sind, von denen stellt man auf einmal fest und die stellen auch selbst fest: Wir gehören dazu – und zwar auf gleicher Augenhöhe. Das gefällt nicht allen, dass da auf einmal solche Debatten geführt werden. Umso wichtiger sind sie."
    Debatten, durch die es möglich werden soll, in die dritte Phase des christlich-muslimischen Dialogs einzutreten. Für den Rechts- und Islamwissenschaftler Rohe heißt das, die anderen nicht mehr als andere wahrzunehmen, sondern als die, die ebenso dazu gehören. Dieses Anliegen wird auch in der Form des Handbuchs deutlich: Zahlreiche Beiträge muslimischer und christlicher Autoren stehen sich direkt gegenüber. So werden beispielsweise Menschenbilder in Christentum und Islam oder die theologischen Grundlagen des Dialogs jeweils aus christlicher und muslimischer Perspektive behandelt. Das Besondere dieses Handbuchs sei, dass es den Fokus auf Deutschland lege, sagt Mathias Rohe. Gerade in Bezug auf den Islam sei das wichtig:
    "Weil doch sehr viele, glaube ich, wenn sie über Islam reden oder an Muslime denken, so eine Art Weltsicht anlegen; und dann wird das Schreckliche, was wir gerade in Syrien oder im Irak erleben oder menschenrechtswidrige Zustände in Saudi-Arabien oder im Iran, umstandslos auf Musliminnen und Muslime in diesem Land übertragen. Dafür können die aber nichts. Sippenhaft ist etwas, wovon wir uns aus guten Gründen auch gelöst haben. Also, wir wollen den Blick für muslimisches Leben und für christlich-muslimisches Zusammenleben in diesem Land schärfen – in all seinen Besonderheiten."
    Rohe ist es ein Anliegen, dass das Christentum nicht immer als ideal und der Islam als problematisch betrachtet wird. Denn beide Religionen hätten helle wie dunkle Seiten; und beide bürgen auch ein Konfliktpotenzial.
    Muslime stehen häufig unter Rechtfertigungsdruck
    Doch bis ein Dialog auf Augenhöhe gesellschaftliche Realität wird, muss noch viel getan werden. Mouhanad Khorchide, Mitherausgeber und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster, sieht Muslime in Deutschland derzeit fast permanent unter Rechtfertigungsdruck:
    "Die Muslime befanden sich, befinden sich noch immer in einem apologetischen Diskurs, sie müssen sich rechtfertigen: warum Moscheebauten, warum Minarette, warum Kopftuch, warum Religionsunterricht? Und sie kommen nicht heraus aus diesem Diskurs, um die Frage zu stellen, wie kann der Islam heute, wie können die Muslime Europa bereichern, welchen Beitrag kann der Islam auch heute – wie er einst im 9./10./11./12. Jahrhundert geleistet hat, um Europa zu bereichern, wie kann der Islam heute Europa bereichern. Da brauchen wir die entsprechenden Räume weg von dieser Apologetik. Und ich glaube das Handbuch leistet einen Beitrag für einen stärker differenzierten Blick."
    Khorchide macht bei der Ausbildung seiner Studenten zu islamischen Religionslehrern und Imamen immer wieder die Erfahrung, dass Muslime in Deutschland und in der Welt unter Generalverdacht stehen. Er freut sich deshalb, dass in dem neuen Handbuch Menschen zuallererst als Subjekte betrachtet werden, nicht als Objekte. Als Beispiel, wie Muslime Deutschland und Europa bereichern können, nennt er die islamische Spiritualität. Ein Wert, der in beiden Religionen, Christentum wie Islam, in den Hintergrund geraten sei.
    "Spiritualität im islamischen Kontext bedeutet nichts anderes, als das Göttliche im Menschen hervorzuheben. Dieses Göttliche im Menschen begründet sich dadurch, dass Gott dem Menschen von seinem Geiste eingehaucht hat. Das Göttliche ist die absolute Verwirklichung von Liebe, Barmherzigkeit, Gnade Verantwortlichkeit, Fürsorge und so weiter. Das Hervorheben den Göttlichen im Menschen bedeutet somit das Hervorheben dieser Eigenschaften im Menschen selbst. Spiritualität ist keineswegs vom gelebten Leben zu trennen, denn sie kann sich nur in der Konfrontation im Alltagsleben entfalten."
    In seinem eigenen Beitrag im Handbuch über Wertebildung im Islam beschreibt Khorchide die islamische Spiritualität als einen Weg der Selbsterkenntnis mit dem Ziel, ein besserer Mensch zu werden.
    Doch auch problematische Aspekte des Islams spart das Handbuch nicht aus. Ein Beitrag erklärt das Phänomen des Islamismus, andere behandeln islamisches Recht und Scharia. Scharia, sagt der Rechts- und Islamwissenschaftler Mathias Rohe, werde fälschlicherweise oft nur mit dem Strafrecht in Verbindung gebracht. Viele Zeitgenossen würden dabei an Todesstrafe, Steinigung oder religiös motivierte Gewalt denken, die im Namen der Scharia in manchen Ländern begangen werde. Doch Scharia, so Rohe, sei ein komplexes Normensystem, das auch Ritual- und Speisegebote bis hin zum Vertrags- und Wirtschaftsrecht umfasse.
    "Nun ist es ohne Weiteres möglich, auf der Basis des deutschen Rechts, Vorstellungen zu leben, die von der Scharia inspiriert sind. Denken Sie an Dinge wie islamisches Investment. Da gibt es inzwischen Angebote, da wird eben nicht in Alkoholproduktion investiert oder in Schweinefleisch oder in Pornografie. Das geht. Der Bundesgerichtshof hat schon akzeptiert, zum Beispiel islamisch inspirierte Eheverträge, in denen vereinbart wird, dass die künftige Ehefrau eine Summe Geldes bekommen soll, sei es angesichts der Eheschließung oder vielleicht auch für den Fall der Ehescheidung. Dagegen ist gar nichts zu sagen."
    Das neue Handbuch Christentum und Islam in Deutschland gibt einen hervorragenden Überblick über diese und andere Grundlagen, die zum Verständnis der beiden Religionen wichtig sind. Für den universitären Bereich, für Medien, Politik und zivilgesellschaftliche Akteure kann es ein hilfreiches Nachschlagewerk sein, um die aktuelle Lebenswirklichkeit von Christen und Muslimen in Deutschland zu verstehen. Doch nicht zuletzt wegen seiner Aktualität, mit der der Stand der gegenwärtigen Debatten abgebildet wird, könnte es in wenigen Jahren schon wieder überholt sein.