Seit dem Sommer steht die chinesische Sonderverwaltungszone Hongkong unter dem Eindruck teils gewaltsamer Proteste. Heribert Dieter, Ökonom und Politikwissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie Gastprofessor an Universität Hongkong sagte im Deutschlandfunk, die Proteste hätten den Alltag verändert, seien aber nicht so bedrohlich, wie oftmals wahrgenommen.
"Was sich wirklich verändert hat, ist, dass die Stadt sehr intensiv über diese Fragen diskutiert. Es gibt keinen Tag, wo nicht über die Proteste gesprochen wird. Die Stadt ist elektrisiert, die Menschen suchen eine Lösung, aber es gibt keine. Und das spornt sie an, die Proteste aufrecht zu erhalten. Die Regierung schaut passiv zu, also so schnell wird Hongkong nicht zur Ruhe kommen."
Demonstrierende wollen Einfluss Pekings zurückdrängen
Das umstrittene Auslieferungsgesetz sei gestoppt worden und damit ein überraschender Erfolg gewesen - vor allem in der Auseinandersetzung mit der Volksrepublik China. Es gebe zudem die Forderungen nach freien Wahlen, allerdings keine Anzeichen, dass das kommen werde. Außerdem gebe es Forderungen, dass sich in den Wirtschafts- und Sozialpolitik Hongkong etwas ändere.
"Es ist ziemlich schwer auszumachen, was die Bewegung will, weil die Bewegung keinen Kopf hat." Das sei 2014 noch anders gewesen, damals seien die Köpfe der Bewegung ins Gefängnis gekommen. Als Ergebnis dieser Proteste habe die heutige Bewegung keine identifizierbaren Sprecher.
"Die Protestierenden wollen in jedem Falle den Einfluss Chinas zurückdrängen und keine weitere chinesische Stadt mit kommunistischer Führung werden, die alles überwacht und kontrolliert." Es bleibe relativ unklar, was genau die Protestierenden als Nächstes erreichen wollen.
Hongkong ist wichtiger Wirtschaftsstandort
"Hongkong ist für Festlandchina heute so wichtig wie noch nie", sagte der China-Experte - auch weil sich europäische und amerikanische Firmen aus Festlandchina nach Hongkong zurückziehen, weil sie die zunehmende Überwachung durch die Kommunistische Partei ablehnen. Das gelte besonders für den Finanzsektor. Denn mit den dort eingeworbenen Mitteln gingen die chinesischen Firmen in OECD-Ländern einkaufen.
"Hongkong kennt keine Beschränkung des Kapitalverkehrs, Festlandchina sehr wohl", erklärte Ökonom Dieter. "Es wird schwer, diesen Sonderstatus auf eine andere Stadt zu übertragen. Dann müsste man den Kapitalverkehr für ganz China liberalisieren."
"Wir werden uns als Europäer positionieren müssen"
Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping habe jedoch gegenwärtig nicht nur Hongkong und den Handelskrieg als Problem, sondern noch zwei weitere Baustellen: den Immobilienboom, der jederzeit aus dem Ruder laufen kann, was wiederum mit Wohlstandsverlusten verbunden wäre - und die hohe Verschuldung, die bei über 300 Prozent des Bruttoinlandsproduktes liege, erklärte China-Experte Dieter. Wenn man das stabilisiere, gehe das zulasten des Wachstums.
"Das chinesische Volk hat bisher akzeptiert, dass die Kommunistische Partei Dissens unterdrückt, weil die Chinesen sehr wohlhabend geworden sind. Falls das bröckeln sollte, hat der Präsident ein gravierendes innenpolitisches Problem."
China sei in den letzten Jahren insgesamt sehr viel nationalistischer geworden und trete sehr viel aggressiver auf, auch militärisch. "Wir werden uns als Europäer positionieren müssen", sagte Dieter. "Das ist vielleicht die größte Herausforderung der nächsten zehn, 20 Jahre in internationalen Beziehungen: Wie geht die Welt mit diesem zunehmend aggressiven China um?"