Musik- und Kunststunden fallen an deutschen Schulen häufiger aus als Unterricht anderer Fächer - so lautet ein aktueller Befund des Rates für Kulturelle Bildung, einer Initiative verschiedener Stiftungen. "Das Unterrichtsangebot in den künstlerischen Fächern wird oft nicht durchgängig gewährleistet", sagt dessen Vorsitzender Eckart Liebau. Sein Verband hat am Dienstag (15. September) die bildungspolitische Handreichung "Kulturort Schule" veröffentlicht.
Liebau fordert "erhebliche finanzielle Mittel" für die kulturelle Bildung, damit die Schule ihren Aufgaben gerecht werden kann. Lydia Grün ist Mitglied des Rates und Studiengangsleiterin für Musikvermittlung an der Uni Detmold. Sie sieht nach der Befragung von Schulleitern und Schulleiterinnen zwar viele punktuelle Angebote - aber auch viel Potenzial, das Thema systematischer anzugehen.
Das Interview im Wortlaut:
Josephine Schulz: Frau Grün, was genau ist denn mit kultureller Bildung an Schulen gemeint, geht es da in erster Linie um Kunst- und Musikunterricht oder was fällt da noch alles drunter?
Lydia Grün: Kulturelle Bildung an Schulen, und zwar an den unterschiedlichsten Schulformen, geht natürlich über den normalen Kunst- und Musikunterricht weit hinaus. Wir zählen da zum Beispiel natürlich die Beschäftigung mit Tanz, mit Theater mit dazu, wir zählen dazu auch die Auseinandersetzung mit digitalen Welten, Arbeiten am Text mit literarischen Texten, natürlich auch Besuche in Kultureinrichtungen, die zur kommunalen Bildungslandschaft einfach auch dazugehören.
Schulz: Und das wird Ihrer Ansicht nach an den Schulen vernachlässigt - woran machen Sie das fest?
Grün: Wir sehen vor allen Dingen, dass es natürlich ganz viele punktuelle Angebote gibt. Wir können schon sagen, dass da ein positiver Trend in den letzten Jahren war. 90 Prozent aller Ganztagsschulen haben ein, mindestens ein außerunterrichtliches kulturelles Angebot. Aber: Das sind punktuelle Aktionen. Und wir wünschen uns oder sehen viel Potenzial darin, das systematischer anzugehen, hier wirklich die Schulen auch in die Lage zu versetzen, erstens über ein Budget, eine große Eigenständigkeit zu verfügen, sich systematisch mit den Kultureinrichtungen einer Stadt oder einer Region zu vernetzen und auch qualifiziertes Personal einzukaufen. Denn Sie müssen auch bedenken, dass das Personal, was gerade in diesen Angeboten des Ganztags im kulturellen Bereich arbeitet, nach unserer Studie, der Schulleiterbefragung, nur maximal 50 Prozent wirklich qualifiziert ausgebildet für diesen Bereich ist.
"Lernen über das Thema Zusammenleben"
Schulz: Ein Tenor der Publikation ist, dass kulturelle Bildung ganz besonders wichtig ist, um Chancengerechtigkeit herzustellen, also um unterschiedliche Bildungshintergründe auszugleichen. Warum glauben Sie, dass da gerade Kultur eine so große Rolle spielt – im Vergleich vielleicht zu naturwissenschaftlicher Förderung?
Grün: Zum einen ist natürlich, wenn Sie sich überlegen … Ich mache mal ein Beispiel, wir haben ein Tanzprojekt oder wir haben eine Auseinandersetzung mit musikalischem Material, beispielsweise eine gemeinschaftliche Komposition, stellen Sie sich vor, was in der Gruppe passiert. Schülerinnen und Schüler können sich hier anders einbringen als im Unterricht, denn kulturelle Bildung geht ja über die ästhetischen Erfahrungsräume im Unterricht hinaus und bringt das große Geschenk mit sich, dass hier Schülerinnen und Schüler einfach auch viel über das Thema Zusammenleben lernen können. Und da sehen wir keinen Ausgleich von sozialen Ungerechtigkeiten, sondern maximal eine Minderung. Aber auch die müssen wir gerade jetzt, in Zeiten, wo die sozialen Unterschiede durch Corona extrem geschärft hervortreten und auch verschärft werden, das müssen wir nutzen.
"Kulturelle Bildung muss Teil der Lehrerausbildung sein"
Schulz: Der Rat gibt ja in der Publikation eine Reihe von Empfehlungen, einen Aspekt haben Sie schon angerissen, die Qualifikation von Lehrkräften. Wie soll das konkret aussehen, dass man die da stärkt? Heißt das dann am Ende, dass jede Sportlehrerin auch Ahnung von Theater und Malerei haben muss?
Grün: Das ist jetzt schön zugespitzt, aber es geht schon in die Richtung. Wir sagen zum einen, kulturelle Bildung, auch mit den ganzen performativen Anteilen, die da drin sind, den darstellerischen Anteilen, muss schon Teil der Ausbildung jedes Lehrers oder jeder Lehrerin sein. Das heißt nicht, dass die Sportlehrerin, die Sie gerade ansprachen, über Musik Ahnung haben muss und kann im Detail, das übernimmt ja der Fachlehrer oder die Fachlehrerin, die wir übrigens nicht ersetzt haben wollen durch diese Forderung, sondern sie muss über die Potenziale kultureller Bildung Bescheid wissen, das zum Beispiel selbst einmal erfahren haben. Und hinzu kommt, dass das Personal, was zum Beispiel im Ganztag eingesetzt wird, damit meinen wir auch die Künstlerinnen und Künstler und die Kulturakteure, die Kulturvermittlerinnen und -vermittler, auch die brauchen eine stärkere und systematische Ausbildung – und vor allen Dingen Fort- und Weiterbildung. Im Letzteren sehen wir einfach hohen Handlungsbedarf. Das wird meist ins Private verlagert in einer Berufsgruppe, wo wir uns immer klarmachen müssen, dass die eh schon prekär bezahlt sind.
"Potenzial digitaler Begleitung ausloten"
Schulz: Sie haben es gerade auch schon angesprochen: In Corona-Zeiten, da ist das soziale Miteinander schwieriger geworden in der Schule, da ist auch die soziale Kluft noch mal ein Stück auseinandergegangen. Und Sie schreiben in der Publikation, dass gerade jetzt sozusagen die Schule als Kulturort sehr wichtig ist. Wie soll das funktionieren, wenn gerade diese Aktivitäten, also gemeinsames Singen, gemeinsames Tanzen, Theaterbesuche, ja zurzeit besonders schwierig sind?
Grün: Da sind sehr die Kulturvermittlerinnen und Kulturvermittler an den angesprochenen Kultureinrichtungen gefordert, und die sind, das weiß ich aus meiner eigenen Praxis, auch dran, Alternativkonzepte zu entwickeln. Beispielsweise Konzerte für Kinder, wenn Sie das meinen, dass dann eine Schulklasse beispielsweise in ein Konzert für Kinder eines Orchesters, eines Ensembles geht. Und vor allen Dingen das Potenzial digitaler Begleitung muss da ausgelotet werden. Da sehe ich übrigens auch noch Handlungsbedarf oder, sagen wir mal, Luft nach oben auch bei den Kulturpädagoginnen und Kulturvermittlerinnen an den entsprechenden Stellen, diese Potenziale einfach auszuloten und da Begleitangebote zu schaffen. Was wirklich schwierig ist, ist das Thema Partizipation, also eigentlich der große Pluspunkt der kulturellen Bildung, in kleinen Gruppen partizipativ in schulischen Kontexten zu arbeiten. Da sind wir mit Sicherheit noch ganz am Anfang des Weges, das möglich zu machen. Aber das steht auf allen unseren Hausaufgabenzetteln, sich darum entsprechend zu kümmern und Vermittlungsangebote zu machen.
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