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Hannah Arendt
Die Denkerin als Dichterin

Hannah Arendt ist als wegweisende Philosophin und keinesfalls als Lyrikerin bekannt. Nun sind aber Gedichte von ihr erschienen. Gerade weil die Texte vermutlich nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, wirkt der lyrische Gedankenaustausch mit sich selbst so reizvoll.

Von Astrid Nettling |
    Die Politologin und Philosophin Hannah Arendt
    Hannah Arendt (picture alliance / dpa)
    Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass Hannah Arendt, die politische Denkerin, Gedichte geschrieben hat. Doch nur dann, wenn man Denken und Dichten als etwas einander streng Entgegengesetztes betrachtet und dabei übersieht, wie sehr Dichtung mit Verdichtung, mit konzentriertem Denken, zu tun hat. Trotzdem verstand Arendt sich nie als Dichterin, und die Gedichte, die sie hinterlassen hat, waren wohl nie zur Veröffentlichung bestimmt. 71 sind es insgesamt, deren erste Gruppe von 21 Gedichten in den Jahren 1923-26 entstanden ist, die 50 anderen stammen aus der Zeit von 1942-61.
    Erfahrung von Liebe, Nähe und Unbeschwertheit
    Doch gerade dies, dass sie nicht mit Blick auf eine öffentliche Leserschaft geschrieben wurden, vielmehr Ausdruck eines "sinnenden Denkens" darstellen, das gleichsam im Gedankenaustausch mit sich selbst ins dichterisch konzentrierte Wort findet, macht deren Reiz aus. Unbelastet vom Ringen um genuine dichterische Ausdrucksformen, haben die Gedichte, die sich zumeist des Reims und der Strophe bedienen und in deren Tonfall sich Klassisches, Romantisches, auch Hofmannsthal und Rilke unschwer erkennen lassen, dennoch etwas ganz Eigenes. Das "Ich will verstehen", das ihren philosophisch-politischen Schriften vorangestellt ist, bildet auch hier das Movens ihrer poetischen Selbstbesinnung. Wenn sich etwa in den Gedichten der 18- bis 20-Jährigen Unerwartetes wie die Erfahrung von Liebe, Nähe, existentieller Unbeschwertheit immer wieder mit der von Fremdheit, Weltverlorenheit und Schwere bricht. "Ich selbst, auch ich tanze", lautet eine Zeile aus ihrem Gedicht "Traum", das eine solche Spannung durchspielt. Darin heißt es:
    "Ich selbst,
    Auch ich tanze.
    Ironisch vermessen,
    Ich hab nichts vergessen,
    Ich kenne die Leere,
    Ich kenne die Schwere,
    Ich tanze, ich tanze
    In ironischem Glanze."
    Sechzehn Jahren später, ab 1942, ist es ebenso die Erfahrung von Schmerz, Verlust und Trauer, der Arendt eine dichterische Form zu geben sucht. So ist das erste Gedicht, das die 36-Jährige nach ihrer Ankunft in New York schreibt, dem Freund Walter Benjamin gewidmet, der sich im September 1940 auf seiner Flucht vor den Nationalsozialisten das Leben genommen hatte.
    "Einmal dämmert Abend wieder,
    Nacht fällt nieder von den Sternen,
    Liegen wir gestreckte Glieder
    In den Nähen, in den Fernen.
    Aus den Dunkelheiten tönen
    Sanfte kleine Melodeien.
    Lauschen wir uns zu entwöhnen,
    Lockern endlich wir die Reihen."

    Wie wichtig für Arendt, wie wichtig für ihr philosophisches Selbstverständnis das Gespräch, das Miteinander, das Du des anderen waren, ist bekannt. Nicht wenige ihrer Gedichte sind an ein solches Du adressiert. Einige davon sind Freunden gewidmet, die meisten lassen es offen, welches Du gemeint ist. "Sanftmut ist in Deiner Hand und meiner, wenn die Nähe jäh uns gefangen nimmt, Schwermut ist in Deinem Blick und meinem, wenn die Schwere uns ineinanderstimmt." Das Gedicht steht in ihrem "Denktagebuch", das sie 1950 beginnt, und folgt auf den Eintrag über "Intimität: Liebe und Freundschaft". Die meisten ihrer späteren Gedichte haben in diesem persönlichen Arbeitsjournal ihre erste Niederschrift gefunden. Gedichtet aber hat sie auch auf Reisen, die sie ab 1950 regelmäßig nach Europa und nach Deutschland führen. Eindrücke "vom Hausdichter", wie sie selbstironisch an ihren Ehemann Heinrich Blücher schreibt. Im Mai 1952 schickt sie ihm ihr Gedicht "Fahrt durch Frankreich" nach New York.
    "Erde dichtet Feld an Feld,
    flicht die Bäume ein daneben,
    lässt uns unsere Wege weben
    um die Äcker in die Welt.
    Blüten jubeln in dem Winde,
    Gras schiesst auf, sich weich zu betten,
    Himmel blaut und grüsst mit Linde,
    Sonne spinnt die sanften Ketten."
    Die Gedichte wahren die Distanz
    Wie das "Denktagebuch" sind auch die Gedichte in deutscher Sprache verfasst. Ein Versuch, als geistige Heimat zu bewahren, was im Leben unwiederbringlich verloren. Denn "leben können wir hier nicht mehr", heißt es am Schluss des Briefs. Bis auf wenige helle Tupfer wie "Fahrt durch Frankreich" herrschen dunkle Töne vor – Ernst und Schwermut, das Bewusstsein der Fragilität menschlichen Seins und der Brüchigkeit von Welt. "Unaufhörlich schlagen Türen ins Schloss und Brücken versinken in den strömenden Strom, hat sie Dein Fuss kaum berührt."
    Als eigenes Schicksal durchlitten, ist es zugleich gepaart mit dem Wissen um diese unüberschreitbare Verfasstheit von Dasein und Welt ohne 'metaphysische Hinterwelten'. Auch deshalb ist es immer wieder das Du, das sie anspricht, die Verbundenheit mit dem anderen, die als einziges trägt. "Ganz vertraut dem Unvertrauten, nah dem Fremden, da dem Fernen, leg' ich meine Hände in die Deinen." Dennoch wahren die Gedichte Distanz, gleiten nicht ab ins Private, Geständnishafte, sind gedanklich Verdichtetes und eben darin ganz und gar Eigenes. Man mag sich trotzdem fragen, ob ihre Veröffentlichung in einer gesonderten Publikation eine so glückliche Entscheidung war. Schließlich ist Arendt keine Dichterin, und ohne eine gewisse Vertrautheit mit ihrem Denken, aber auch mit ihrer Biographie teilt sich der Reiz ihrer Gedichte nicht wirklich mit. Vielleicht aber bildet gerade dies den Anstoß, sich auf ein Vertrautwerden mit der Denkerin einzulassen. Eine Einladung dazu stellen die 71 Gedichte auf jeden Fall dar.
    "Ich lieb die Erde
    so wie auf der Reise
    den fremden Ort,
    und anders nicht.
    So spinnt das Leben mich
    an seinem Faden leise
    ins nie gekannte Muster fort.
    Bis plötzlich,
    wie der Abschied auf der Reise,
    die grosse Stille in den Rahmen bricht."
    Hannah Arendt, Ich selbst, auch ich tanze, Die Gedichte, Piper München Berlin Zürich, 2015, 157 S., 20 Euro