Das politische Denken der jüdischen Theoretikerin Hannah Arendt prägte nicht nur maßgeblich das 20. Jahrhundert. Man kann sogar sagen, es hat bis heute nichts von seiner Relevanz und Anziehungskraft eingebüßt. Die Vielzahl der Publikationen zu Hannah Arendt wie auch die auf 17 Bände angelegte Kritische Gesamtausgabe bei Wallstein belegen dies. Nun ist seit kurzem im Deutschen Historischen Museum in Berlin eine Ausstellung zu sehen, die sich unter dem Titel "Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert" an ein breites Publikum wendet. Zur Ausstellung ist eine eigenständige Publikation mit insgesamt 19 Essays und interessantem Bildmaterial erschienen. Das Buch gibt unter anderem Einblick in Arendts jüdisches Selbstverständnis, in ihr Denken über Totalitarismus und Imperialismus, es thematisiert den Eichmann-Prozess in Jerusalem und ihre Schriften dazu wie auch ihr Verhältnis zu ihrem Exil-Land USA und zur BRD in der Nachkriegszeit.
Arendt und Heidegger
Am Schluss des Buches gibt ein Kapitel Einblick in Arendts politisches Denken. Hier nimmt der Philosoph Wolfram Eilenberger die lebensbestimmende Beziehung von Hannah Arendt und Martin Heidegger in den Blick. "Ein philosophisches Ereignis des 20. Jahrhunderts" lautet die Unterzeile dieses Aufsatzes. Zu Beginn des Gesprächs mit Eilenberger fragte Angela Gutzeit nach dem Geheimnis der Anziehungskraft dieser beiden nach Herkunft, Alter und Denken doch so unterschiedlichen Menschen. Die Energie zwischen Arendt und Heidegger sei eine erotische wie auch philosophische gewesen, antworte Eilenberger, um dann über deren verbindendes Weltverständnis zu ergänzen: "Ich denke, zunächst einmal ist es wichtig zu sehen, dass die Bedeutung Heideggers für das jüdische Denken (…) extrem wichtig war. (…) Die wichtigsten Schüler Heideggers in den 20er-Jahren waren Juden. Ich glaube, eine wichtige Sensibilisierung oder ein wichtiger Impuls von Heideggers Denken für diese Menschen war eine gewisse Skepsis gegenüber Aufklärung, ein Verständnis dafür, dass man in die Welt 'geworfen' wird, dass man ausgesetzt ist – das Prekäre des Daseins."
Denken ins Offene
Während Heideggers philosophisches Denken allerdings nur Dasein als Einzelnes kannte, so Eilenberger, verstand es Arendt im Plural, als Zugewandtheit zu andern Menschen. "Ich würde es als einen zentralen Gedanken von Hannah Arendt im 20. Jahrhundert sehen, dass wir andere Menschen brauchen, um uns selbst zu verstehen. Und genau das ist etwas, was Heidegger nie geglaubt hat." Insofern erscheine das Denken dieses Existenzphilosophen gegenüber Arendts kreative, verbindende, verschiedenste Denkströmungen integrierende politische Philosophie eher arm.
Mbembe und Arendts Aktualität
Auf die Frage, was Arendts Schriften für uns heute so wertvoll mache, antworte Wolfram Eilenberger: "Zunächst ist Hannah Arendt für uns heute eine Ikone, weil sie Philosophie nicht nur verkündet, sondern verkörpert." Vor allen Dingen aber zeige ihr jüdischer Aktivismus ab den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine besondere Sensibilität für Minderheiten und Machtverhältnisse. Dies sei nach wie vor wichtig, "wenn wir an die aktuelle Debatte um Achille Mbembe denken und die Frage, wie Kolonialismus und Antisemitismus beziehungesweise Zionismus miteinander zusammenhängen. Denn man kann sagen, dass die Schriften Hannah Arendts in den 40er-Jahren in geradezu prophetischer Weise eine Konstellation ausgelegt haben, in der wir heute noch stehen."
"Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert"
Hrsg. Von Dorlis Blume, Monika Boll und Raphael Gross
Piper Verlag, München. 288 Seiten, 22 Euro.
Hrsg. Von Dorlis Blume, Monika Boll und Raphael Gross
Piper Verlag, München. 288 Seiten, 22 Euro.