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Hans Blumenberg
Geheimstes Gedankenspiel

Im Nachlass des Philosophen Hans Blumenberg, eingeordnet in eine Mappe mit der Aufschrift "Unerlaubte Fragmente" fand man Gedanken zu großen Themen wie Moral oder Hannah Arendts These von der Banalität des Bösen. Unter dem Titel "Rigorismus der Wahrheit" sind sie nun als Buch erschienen.

Von Leander Scholz |
    Karteikarten aus den Zettelkästen des Philosophen Hans Blumenberg sind am 28.02.2013 in Marbach am Neckar (Baden-Württemberg) in der Ausstellung «Zettelkästen. Maschinen der Phantasie» des Literaturmuseum der Moderne zu sehen. Die Ausstellung ist von 4. März bis 15. September 2013 geöffnet. Foto: Franziska Kraufmann/dpa
    Karteikarten aus den Zettelkästen des Philsophen Hans Blumenberg in einer Ausstellung in Marbach am Neckar. (picture alliance / dpa / Franziska Kraufmann)
    Für Moralisten hat die Wahrheit uneingeschränkten Vorrang. Sie zu verkünden ist eine Pflicht, die ohne Rücksicht auf die Folgen ausgeübt werden muss. Unabhängig davon, ob der Moment der Aussprache günstig ist oder ob der Angesprochene sie vertragen kann. Die Wahrheit muss immer gesagt werden, selbst wenn sie niemand hören will.
    Der Moralist spricht im Namen einer höheren Instanz, von der er glaubt, dass sie ihm die Erlaubnis erteilt hat, über die Nöte und die Niederungen des Lebens hinwegzusehen. Er fühlt sich berufen, allein das zu sagen, was seiner Meinung nach gesagt werden muss und sonst von niemandem gesagt wird. Seine Rede ist weder den rhetorischen Regeln der Klugheit, noch den ethischen Kriterien der Verantwortung verpflichtet. Der Moralist gehorcht allein dem eifersüchtigen Regime der Wahrheit oder dem, was er für die Wahrheit hält. Ihre Verkündung ist für ihn ein unbestreitbar heroischer Akt der Aufrichtigkeit. Dass es etwas Höheres geben kann als die Wahrheit, kommt dem Moralisten nicht in den Sinn.
    Auch der Philosoph ist der Wahrheit verpflichtet, aber nicht so, dass er sie jedem und jederzeit mitteilen muss. Er weiß, dass es einen Unterschied macht, was wann und zu wem gesagt wird. Er weiß, dass die Wahrheit nicht für sich spricht, dass derjenige, der sie ausspricht, auch die Verantwortung dafür übernehmen muss, dass er sie ausgesprochen hat. Zur Wahrheit gehört auch der Umgang mit ihr, dass die Welt eine andere ist, nachdem sie gesagt und gehört worden ist. Das rückhaltlos auszusprechen, was für wahr gehalten wird, kann Folgen haben, die weder jetzt noch zu einer späteren Zeit gut sind. Die Wahrheit kann vernichten, sie kann einem die Kraft nehmen und den Mut ersticken, der nötig ist, um sein Leben weiterleben zu können. Wer allein der Wahrheit verpflichtet ist, hat keinen Sinn dafür, dass es in bestimmten Fällen etwas Höheres als die Wahrheit geben kann, existenzielle Probleme, das Leben oder den Tod betreffend, die es erfordern können, eine Wahrheit nicht auszusprechen.
    Der kurze und konzentrierte Text, in dem sich Hans Blumenberg mit dieser Fragestellung beschäftigt hat, befand sich im Nachlass des Philosophen, eingeordnet in eine Mappe mit der Aufschrift 'Unerlaubte Fragmente'. Auch wenn diese Titelgebung vermutlich ironisch gemeint war, stellt sich beim Lesen das Gefühl ein, hier einem Problem zu begegnen, dessen Bearbeitung viel Behutsamkeit erfordert und das öffentlich vielleicht gar nicht abschließend behandelt werden kann. Die Brisanz der Abhandlung, die von dem Politikwissenschaftler Ahlrich Meyer sorgfältig herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen wurde, wird noch durch die Auswahl der beiden Beispiele gesteigert, an denen Blumenberg seine Fragestellung erläutert. Der so entstandene Band, der noch weitere Texte aus dem Arbeitskontext versammelt, trägt den Titel 'Rigorismus der Wahrheit'.
    Weiträumige Zugänge zu Problemlagen
    Das erste Beispiel stellt das Buch 'Der Mann Moses und die monotheistische Religion' von Sigmund Freud dar. In dieser brisanten Studie hatte der Begründer der Psychoanalyse die These aufgestellt, dass Moses kein Jude, sondern ein ägyptischer Priester war, der den hebräischen Stämmen die erste monotheistische Religion nahegebracht hat und anschließend mit ihnen aus Ägypten geflohen war. Freud selbst war sich bewusst, was es für das jüdische Volk bedeuten musste, auf diese Weise seinen wohl wichtigsten Propheten zu verlieren. Denn es handelte sich nicht nur um eine historische Problematik.
    Dass Moses in Wirklichkeit ein Ägypter war, der darüber hinaus auch noch im Streit mit den Hebräern ermordet wurde, begründet für Freud die lange Geschichte des jüdischen Schuldgefühls. Entscheidend für Blumenberg ist jedoch nicht, ob diese Vermutung richtig oder falsch ist, sondern dass Freud sein Buch im Jahr 1939 veröffentlich hat, als vor allem die europäischen Juden unter schwerster Verfolgung litten und Hoffnung gebraucht hätten, um weiterleben zu können. Freud selbst war zu dieser Zeit bereits in seinem Londoner Exil. Für Blumenberg stellt sich die Frage, ob es nicht einen verantwortungsvolleren Umgang mit dieser möglichen Wahrheit gegeben hätte, dem die Eitelkeit des Forschers entgegenstand.
    Das zweite Beispiel betrifft Hannah Arendt und ihre berühmte These von der Banalität des Bösen. Als Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem der Prozess gemacht wurde, der mit einem Todesurteil endete, war auch die deutsch-amerikanische Philosophin anwesend. Für Arendt zeichnete sich Eichmann nicht durch eine teuflische-dämonische Tiefe aus, was viele bei einem derartigen Verbrecher erwartet hätten. Aus ihrer Perspektive erschien der Organisator des Genozids eher wie ein gedankenloser Funktionsträger und in diesem Sinne banal. Was Blumenberg an dieser Beschreibung irritiert, ist auch hier wieder nicht die Frage, ob sie zutrifft. Dass Arendt keinen Moment darüber nachdenkt, was es für das jüdische Volk bedeuten könnte, wenn sie den Massenmörder als einen Hanswurst bezeichnet, ist für Blumenberg das eigentliche Problem. Denn aus seiner Sicht kommt Eichmann die Rolle eines negativen Gründers des Staates Israel zu. Dass er vor einem israelischen Gericht steht, ist für die Zukunft des jungen Staates entscheidend. Für Arendt spielen solche Überlegungen bei ihrer Suche nach der Wahrheit keine Rolle. Dass es für viele wichtig sein könnte, einen Verbrecher und nicht einen Hanswurst verurteilt zu wissen, kommt ihr nicht in den Sinn.
    Sicherlich lässt sich über diese Beispiele kontrovers diskutieren. Aber in beiden Fällen geht es Blumenberg um weit mehr als bloß um eine Illustration seiner grundsätzlichen Annahme, dass sich die menschliche Lebenswelt niemals vollständig rational fassen lässt und es stets lebenswichtige Mythen geben wird. Auch nach der Epoche der Aufklärung ist es keineswegs ausgemacht, dass die Wahrheit die höchste Instanz menschlichen Sagens und Handelns darstellt. Vor dem Hintergrund schwierigster existenzieller Lebenslagen ging es Blumenberg um die weitreichende Einsicht, dass auch die moralische Haltung nicht immer im Recht ist. Für uns heute formuliert sein Text die Erinnerung daran, wie wichtig es ist, wieder weiträumigere Zugänge zu Problemlagen zu finden, die aufgrund der gegenwärtigen Dominanz des Moralischen inzwischen zugeschüttet worden sind.
    Hans Blumenberg: "Rigorismus der Wahrheit"
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 135 S., 14,00 €