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Hans Blumenberg
Keine Politik ohne Mythos

Der deutsche Philosoph Hans Blumenberg legte 1979 seine Theorie zum Thema Mythos vor. Allerdings entfernte er ein Kapitel wieder aus dem Manuskript, ausgerechnet das zum politischen Mythos. Jetzt ist es erschienen - und zeigt auf: Weltpolitik ist rational nicht immer möglich.

Von Leander Scholz |
    Eine junge Frau betrachtet im Kulturhof Krönbacken in Erfurt eine Büste von Napoleon Bonaparte. Diese und andere Leihgaben dokumentierten 2008 in der Ausstellung "Erfurt als Domäne Napoleons 1806-1814" die Zeit der napoleonischen Herrschaft Anfang des 19. Jahrhunderts in Erfurt.
    Napoleon als Wiedergänger von Alexander dem Großen? Der mythische Bezug auf Vergangenes erleichtert politische Entscheidungen. (picture alliance / ZB / dpa / Hendrik Schmidt)
    Derartige Aufregungen scheinen heute kaum mehr vorstellbar zu sein. Als der Philosoph Hans Blumenberg in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts die These wagte, polytheistische Religionen seien deutlich liberaler als monotheistische, wurde dies im akademischen Diskurs als eine Provokation empfunden.
    Das konservative Lager sah die Parteinahme für einen vermeintlichen Pluralismus des Mythos als Kritik an der christlichen Leitkultur, die seit der Adenauer-Ära die Bundesrepublik geprägt hatte. Aber auch linke Positionen fühlten sich durch den Versuch angegriffen, die kulturellen Leistungen des Mythos zu rehabilitieren. Da das nationalsozialistische Regime häufig als ein barbarischer Rückfall in mythische Zeiten begriffen wurde, musste das mythische Denken insgesamt und radikal überwunden werden. Die einen suchten das politische Heil in der Sicherheit einer christlichen Tradition, die anderen im Versprechen einer zukünftigen Emanzipation auf rein rationaler Grundlage.
    Doch Hans Blumenbergs skeptische Einlassung war grundsätzlicher angelegt als die vorschnelle Empörung seiner Kritiker. Da jede Weltanschauung, ob nun religiös oder scheinbar bloß rational motiviert, stets der Gefahr ausgesetzt ist, dogmatische Züge anzunehmen, kann ein mythisches Weltbild, das von einer ganzen Reihe unterschiedlicher Erzählungen lebt, letztlich liberaler sein als der rationale Liberalismus, der sich in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt hat.
    Aus der Sicht von Blumenberg hat jede religiöse oder mythische Weltsicht die Aufgabe, die Kontingenz unbeherrschbarer Gefahren des Lebens zu bewältigen. Hier steht Blumenberg ganz in der Tradition von Friedrich Nietzsche, der ebenfalls nicht daran geglaubt hat, dass sich unsere Lebenswelt vollständig rationalisieren lässt. Die menschliche Welt wird immer auf Metaphern und Geschichten angewiesen sein, um mit den Zumutungen des Lebens fertig zu werden, mit denen man eigentlich nicht fertig werden kann. Deshalb besteht die entscheidende Frage letztlich nicht darin, ob sich auf Dauer mehr oder weniger rationale Weltanschauungen durchsetzen. Viel wichtiger ist die Lösung des Problems, dass selbst anfänglich emanzipatorische und kritische Bewegungen gerade aufgrund ihres Erfolgs dennoch dogmatisch enden können.
    Jede Zeit hat ihre Mythen
    Die Antwort, die Hans Blumenberg auf diese Frage gegeben hat, erschien 1979 unter dem Titel "Arbeit am Mythos". Schon der Titel sollte deutlich machen, dass Mythen nicht einfach entstehen und unveränderbar sind, sondern gemacht werden und vor allem bearbeitet werden können. Damit aus den Metaphern und Geschichten, auf denen unsere Weltsicht im Kern beruht, nicht erstarrte Dogmen werden, müssen sie ständig umgeschrieben und weitererzählt werden. Nur so lässt sich verhindern, dass Neues und Fremdes nicht einfach nur abgewehrt wird, weil es sich in die überlieferten Mythen nicht mehr integrieren lässt. Umgekehrt heißt das aber auch, dass jede Zeit ihre Mythen hat und auf diese Mythen angewiesen bleibt. Ansonsten wäre es unmöglich, sich zu orientieren und die individuellen sowie kollektiven Herausforderungen des Lebens zu meistern.
    Damit erteilte Blumenberg insbesondere solchen Positionen eine deutliche Absage, die davon ausgehen, dass die Geschichte vom Mythos zum Logos voranschreitet. Denn immer noch ist die Ansicht weit verbreitet, dass frühere Kulturen durch Kinderfantasien und Aberglaube geprägt waren, während im Gegensatz dazu die Heutigen als vernünftig und erwachsen erscheinen. Eine solche Sichtweise, die vor allem die Aufklärung des 18. Jahrhunderts sehr erfolgreich etabliert hat, verstellt aber den Blick auf die eigene Gegenwart und deren mythische Grundlagen. Da jede Zeit ihre Metaphern und Geschichten hat, die sich niemals vollständig rationalisieren lassen, macht man sich blind für das eigene Tun, wenn man sich im Unterschied zu den Anderen allein auf der Seite der Vernunft sieht. Denn auch die Leidenschaft der Vernunft wird von mythischen Energien getragen, die ihr selbst nicht zugänglich sind, und ist zu Handlungen fähig, die späteren Zeiten nur noch als wenig vernünftig erscheinen. Das 20. Jahrhundert ist nicht nur voll von Grausamkeiten, die sich irrationalen Bewegungen verdanken, sondern liefert auch eine große Zahl an Beispielen, wie die Vernunft zum Auftraggeber von Exekutionen und Auslöschungen werden kann.
    Mythos und Politik
    Brisant wird der Umgang mit dem Mythos daher vor allem dann, wenn es um Politik geht. Denn jedes politische Programm und jede politische Partei verdanken sich zumindest auch mythischen Anteilen. Jede politische Bewegung, ob sie sich nun selbst als links oder rechts versteht, ist in irgendeiner Weise auf Metaphern und Geschichten angewiesen, die für die Mobilisierung und den Zusammenhalt der Bewegung entscheidend sind. Umso bemerkenswerter ist es, dass Blumenberg ausgerechnet ein Kapitel zum politischen Mythos aus dem Manuskript wieder entfernt und zurückgehalten hat. Dieses Kapitel sollte ursprünglich "Stalingrad als mythische Konsequenz" heißen und liegt nun in einer eigenständigen Publikation aus dem Nachlass vor. Die beiden Herausgeber Angus Nicholls und Felix Heidenreich haben das Kapitel unter dem im Nachlass verwendeten Titel "Präfigurationen" publiziert und mit einem ausgezeichneten Nachwort versehen, das den Text in den Zusammenhang der Mythen-Diskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt. Der Untertitel der Publikationen lautet "Arbeit am politischen Mythos".
    Präfiguration
    Unter einer Präfiguration versteht man im Bereich der Rhetorik die Bezugnahme auf ein vergangenes Geschehen im Sinne einer Vorausdeutung: Was in der Vergangenheit angekündigt wird, erfüllt sich in der Gegenwart. Besonders häufig findet sich diese Bezugnahme im Neuen Testament. Dabei werden Ereignisse, die im Alten Testament geschildert werden, als historische Ankündigungen von Taten verstanden, die sich in der Gegenwart oder nahen Zukunft tatsächlich ereignen. Auf diese Weise wird eine durchgehende Kette der Bedeutung gestiftet, in die das einzelne Ereignis eingegliedert werden kann. Etwa wenn sich Napoleon als Wiedergänger von Alexander dem Großen versteht, der dessen Taten zu vollenden hat und so seine Feldzüge in den Nahen Osten zu rechtfertigen versucht. Der mythische Bezug auf vergangene Geschehnisse erleichtert politische Entscheidungen und verleiht die Macht der Überzeugung.
    Was für die menschliche Lebenswelt im Allgemeinen gilt, zeichnet Hans Blumenberg auf wenigen Seiten eindringlich auch für den Bereich politischen Handelns nach. Da wir uns ohne Metaphern und Geschichten nicht orientieren könnten, kann es auch keine Politik ohne Mythos geben. Gerade große politische Aufgaben wie die Schaffung eines vereinigten Europas lassen sich nicht allein mit dem Rückgriff auf rationale Prinzipien bewerkstelligen, wie sie etwa durch den Freihandel oder die Freizügigkeit verkörpert werden. Man muss auch eine Geschichte zu erzählen haben und in der Lage sein, das historische Wissen des Kontinents für die Gegenwart bereitzustellen.
    Hans Blumenberg: "Präfigurationen. Arbeit am politischen Mythos", Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 145 Seiten, 22,95 Euro